KAPITEL 7
Das Zentralkrankenhaus von Chartres,
sinnigerweise Hôtel-Dieu genannt, befand sich im hinteren Teil
eines Hofs voller schwarzer Pfützen und Baumstümpfe am Rand. Das
cremefarbene und braune Gebäude erinnerte entfernt an eine
Schichtentorte mit Schokoladencreme-Füllung.
Statt die Außentreppe zu
benutzen, die zum Empfang im ersten Stock führte, schlich ich mich
ins Erdgeschoss.
Ich betrat einen großen
Speisesaal. Schwarze und weiße Bodenplatten, Gewölbe und Säulen aus
Stein. Am anderen Ende des Saals ein sonnenbeschienener
Portalvorbau zum Park hin. Eine Krankenschwester kam vorbei. Ich
sagte ihr, dass ich gern den Arzt sprechen würde, der Luc Soubeyras
das Leben gerettet hatte.
»Tut mir leid, er isst gerade
zu Mittag.«
»Um 11 Uhr?«
»Er operiert
anschließend.«
»Ich erwarte ihn hier«, sagte
ich, während ich meinen Dienstausweis herauszog. »Sagen Sie ihm, er
soll sein Dessert mitbringen.«
Die junge Frau ging weg. Ich
hasste es, mich auf meine Amtsbefugnisse zu berufen, aber schon die
Vorstellung, mich der Kantine mit ihrem klirrenden Geschirr und
ihren Essensgerüchen auszusetzen, bereitete mir Unbehagen. Schritte
im Saal.
»Was wollen Sie?«
Ein hochgewachsener Mann im
weißen Kittel kam auf mich zu. Er sah verärgert aus.
»Commandant Mathieu Durey.
Mordkommission Paris. Ich führe Ermittlungen über den Selbstmord
von Luc Soubeyras durch. Er wurde gestern hier eingeliefert.«
Der Arzt musterte mich
aufmerksam durch seine Brille. Um die Sechzig, schlecht gekämmtes
weißes Haar, ein langer Geierhals. Schließlich sagte er:
»Ich habe meinen Bericht
gestern Abend an die Gendarmerie geschickt.«
»Wir bei der Kripo haben ihn
noch nicht erhalten«, log ich. »Sagen Sie mir zunächst einmal,
wieso Sie ihn ins Hôtel-Dieu von Paris verlegen ließen.«
»Wir sind für solche Fälle
nicht ausgerüstet. Luc Soubeyras war Polizist, da haben wir
gedacht, dass das Hôtel-Dieu …«
»Man hat mir gesagt, dass seine
Rettung an ein Wunder grenzt.«
Der Arzt konnte sich ein
stolzes Lächeln nicht verkneifen.
»Luc Soubeyras ist noch einmal
davongekommen, das stimmt. Er wurde mit Herzstillstand
eingeliefert. Nur durch außergewöhnliches Glück konnten wir ihn
reanimieren.«
Ich zog ein Notizheft und einen
Kugelschreiber heraus.
»Was meinen Sie damit?«
Der Arzt steckte seine Hände
lässig in die Hosentaschen und machte einige Schritt Richtung
Garten. Er hatte einen gebeugten Rücken, ja einen ausgeprägten
Buckel. Ich folgte ihm auf dem Fuß.
»Erster günstiger Umstand«, hob
er an. »Die Strömung hat ihn mehrere Meter mit sich gerissen, und
er ist mit dem Kopf gegen einen Felsen geschlagen, sodass er
ohnmächtig geworden ist.«
»Wieso ist das günstig?«
»Wenn man in Wasser eintaucht,
hält man zunächst den Atem an, auch wenn man sich umbringen will.
Wenn der Sauerstoffgehalt im Blut dann abnimmt, öffnet man den Mund
– das ist ein Reflex, den man nicht unterdrücken kann. Man ertrinkt
innerhalb von Sekunden. Luc verlor kurz vor diesem entscheidenden
Moment das Bewusstsein. Er konnte den Mund nicht mehr öffnen. Seine
Lungen enthielten daher kein Wasser.«
»Aber er ist erstickt,
oder?«
»Nein, er erlitt einen
Atemstillstand. In diesem Zustand fließt das Blut automatisch
langsamer durch den Körper und sammelt sich in den lebenswichtigen
Organen: Herz, Lunge, Gehirn.«
»Wie im Winterschlaf?«
»Ganz genau. Dieses Phänomen
wurde durch das kalte Wasser noch verstärkt. Luc erlitt eine
schwere Unterkühlung. Als die Sanitäter seine Temperatur maßen, war
sie auf vierunddreißig Grad gesunken. In dieser Kältestarre hat der
Körper die in ihm verbliebenen Quäntchen Sauerstoff
verwertet.«
Ich machte mir weiterhin
Notizen.
»Wie viel Zeit hat er Ihrer
Meinung nach unter Wasser verbracht?«
»Das lässt sich nicht sagen.
Nach Auskunft des Notarztes war der Herzstillstand gerade erst
eingetreten.«
»Hat er eine Herzmassage
durchgeführt?«
»Zum Glück nicht. Das wäre das
sicherste Mittel gewesen, um aus diesem Scheintod einen echten Tod
zu machen. Das Rettungsteam hat lieber gewartet, bis er hier war.
Sie wussten, dass ich eine spezielle Technik anwenden
konnte.«
»Was für eine Technik?«
»Folgen Sie mir.«
Der Arzt trat hinaus ins Freie
und ging an einem modernen Gebäude entlang, das er schließlich
betrat. Der Operationstrakt. Weiße Korridore, Flügeltüren,
chemische Gerüche. Eine weitere Tür. Wir befanden uns jetzt in
einem Raum, der leer war bis auf einen würfelförmigen Apparat vor
der Wand, so hoch wie eine Kommode und auf Rollen montiert. Der
Mediziner zog daran und drehte ihn in meine Richtung. Ich sah
Reihen von Knöpfen und Displays.
»Das ist eine
›Bypass‹-Maschine, auch Herz-Lungen-Maschine genannt. Man benutzt
sie dazu, die Körpertemperatur von Patienten vor einer schweren
Operation zu senken. Das Blut fließt in die Maschine, die es um
einige Grad abkühlt, bevor es dem Patienten wieder infundiert wird.
Man wiederholt diesen Vorgang mehrmals, bis eine künstliche
Unterkühlung erreicht wird, die die Narkose erleichtert.«
Ich schrieb noch immer, ohne zu
verstehen, worauf der Mann hinauswollte.
»Als Luc Soubeyras eingeliefert
wurde, habe ich beschlossen, eine neuere Technik anzuwenden, die
aus der Schweiz stammt. Dabei wird diese Maschine mit umgekehrter
Zielsetzung benutzt: nicht um das Blut zu kühlen, sondern um es zu
erwärmen.«
»Und das hat
funktioniert?«
»Hundertprozentig. Als Luc
Soubeyras eingeliefert wurde, betrug seine Körpertemperatur nur
noch zweiunddreißig Grad. Nach drei Durchläufen hatten wir
fünfunddreißig Grad erreicht. Und bei siebenunddreißig Grad fing
sein Herz wieder ganz langsam an zu schlagen.«
Ich blickte von dem Notizblock
auf.
»Sie wollen damit sagen, dass
er während dieser gesamten Zeit … tot war?«
»Ohne jeden Zweifel.«
»Wie lange währte diese
Phase?«
»Schwer zu sagen. Aber im
Allgemeinen dauert sie etwa zwanzig Minuten.«
Ich erinnerte mich wieder an
ein Detail.
»Der Rettungswagen war sehr
schnell zur Stelle. Kam das Team nicht aus Chartres?«
»Ein weiterer positiver Faktor.
Sie befanden sich aufgrund eines falschen Alarms in der Gegend von
Nogent-le-Rotrou. Als die Polizei sie verständigte, waren sie nur
ein paar Minuten vom Unfallort entfernt.«
Ich kritzelte zwei Zeilen aufs
Papier.
»Eine Sache verstehe ich nicht.
Das Gehirn kann doch nur wenige Sekunden ohne Sauerstoff auskommen.
Wie konnte das Organ nach zwanzigminütigem Tod wieder zum Leben
erweckt werden?«
»Das Gehirn hat seine Reserven
angezapft. Meiner Meinung nach war es während des gesamten
klinischen Todes ausreichend mit Sauerstoff versorgt.«
»Heißt das, dass Luc, falls er
wieder aufwacht, keine Folgeschäden haben wird?«
Der Mann schluckte. Sein
Adamsapfel stieg auf und ab:
»Diese Frage kann niemand
beantworten.«
Luc im Rollstuhl, dazu
verdammt, alle Bewegungen nur noch im Schneckentempo auszuführen.
Ich musste wohl aschfahl geworden sein, denn der Arzt schlug mir
sanft auf die Schulter.
»Kommen Sie. Die Hitze hier ist
unerträglich.«
Der kühle Wind draußen weckte
meine Lebensgeister wieder. Die älteren Patienten waren mit dem
Mittagessen fertig. Sie schlenderten stockend umher wie Zombies.
Ich fragte:
»Darf ich rauchen?«
»Kein Problem!«
Der erste Zug brachte mich
wieder auf die Beine. Ich kam zum letzten Punkt:
»Man hat mir von einer Münze
und einer Kette erzählt …«
»Wer hat Ihnen davon
erzählt?«
»Der Gärtner. Der Mann, der Luc
aus dem Wasser gezogen hat.«
»Die Rettungssanitäter haben
sie in seiner geschlossenen Faust gefunden, das stimmt.«
»Haben Sie sie
aufgehoben?«
Der Arzt ließ die Hand in
seinen Kittel gleiten.
»Ich habe die Münze in meiner
Tasche.«
Das Schmuckstück glänzte matt
in seiner hohlen Hand. Eine mit Patina überzogene Bronzemünze, die
sehr alt zu sein schien. Ich beugte mich vor. Ich wusste auf den
ersten Blick, worum es sich handelte.
In die Münze war das Bildnis
des Erzengels Michael eingraviert, des Anführers der himmlischen
Heerscharen und Bannerträgers Christi, der Satan drei Mal besiegte.
Dargestellt im Stil der Legenda Aurea von
Jacobus de Voragine, trug der Held eine Rüstung und hielt sein
Schwert in der Rechten und die Lanze Christi in der Linken. Mit
seinem rechten Fuß zermalmte er den Drachen.
Der Medikus sprach weiter, aber
ich hörte ihm nicht mehr zu. Die Worte aus der Offenbarung des
Johannes hallten in mir wider:
Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine
Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und
seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten, und sie
verloren ihren Platz im Himmel.
Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange,
die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache
wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel
hinabgeworfen.
Die Wahrheit lag auf der Hand.
Bevor er in die Hölle stürzte,
hatte sich Luc gegen den Teufel gewappnet.