KAPITEL 4
Unter freiem Himmel.
Eine Treppe unter freiem
Himmel. Als ich die Wohnung zum ersten Mal besichtigt hatte, wusste
ich sofort, dass ich sie genau deswegen nehmen würde. Mit
Terrakottafliesen belegte Stufen einer Wendeltreppe mit einem
efeuumrankten Eisengeländer in einem Innenhof aus dem 18.
Jahrhundert. Auf Anhieb fühlte ich mich hier wohl. Ich stellte mir
vor, wie ich von der Arbeit nach Hause kam und alle Sorgen des
Alltags auf der Treppe von mir abfielen.
Ich hatte mich nicht getäuscht.
Ich hatte mein Erbe in diese Drei-Zimmer-Wohnung im Marais
investiert, und seit vier Jahren spürte ich tagtäglich die magische
Wirkung der Treppe. Auch wenn die Arbeit nervenaufreibend und
zermürbend war, hatte ich das Gefühl, auf der Wendeltreppe eine Art
Entgiftungsschleuse zu passieren. Gleich hinter der Wohnungstür
entkleidete ich mich, stopfte meine Klamotten in einen Wäschesack
und stieg unter die Dusche.
An diesem Abend aber schien die
Treppe ihre Macht verloren zu haben. Als ich im dritten Stock
ankam, blieb ich stehen. Ein Schatten saß auf der Treppe und
wartete auf mich. Im Zwielicht erkannte ich den Wildledermantel,
das violette Kostüm. Es war die Person, die ich am allerwenigsten
sehen wollte: meine Mutter.
Während ich oben ankam, machte
mir eine heisere Stimme erste Vorwürfe:
»Ich habe dir auf den
Anrufbeantworter gesprochen, und trotzdem hast du nicht
zurückgerufen.«
»Ich hatte heute viel zu
tun.«
Es bestand kein Anlass, ihr von
dem Vorfall zu erzählen, denn meine Mutter war Luc nur ein- oder
zweimal begegnet, als wir noch Halbwüchsige waren. Sie hatte nichts
gesagt, aber ihr Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen – das
gleiche Gesicht hatte sie gezogen, wenn sie eine Familie mit
lärmenden Kindern in der Erste-Klasse-Lounge am Flughafen Roissy
oder einen Fleck auf einem ihrer Sofas entdeckte: Es waren die
störenden Misstöne, die sie nicht aus ihrem mondänen Leben
verbannen konnte.
Sie machte keine Anstalten
aufzustehen. Ich setzte mich neben sie, ohne mir die Mühe zu
machen, die Flurbeleuchtung einzuschalten. Wir waren vor Wind und
Regen geschützt, und für einen 21. Oktober war es recht mild.
»Was willst du? Etwas
Dringendes?«
»Ich wollte dich besuchen, das
ist alles.«
Sie schlug die Beine
übereinander, und ich sah den Stoff ihres Rocks jetzt besser – ein
Tweed aus Bouclégarn. Fendi oder Chanel. Ich sah an ihr herab bis
zu den Schuhen. Schwarz und golden. Manolo Blahnik. Diese Geste,
diese Details … Ich sah sie vor mir, wie sie auf ihren Diners ihre
Gäste begrüßte. Andere Bilder kamen hinzu. Mein Vater, der mich
zärtlich mein »kleines Christkind« nannte und mich dann ans
Tischende setzte; meine Mutter, die immer zurückwich, wenn ich zu
ihr wollte, aus Angst, ich könnte ihre Kleider zerknittern. Und
mein stummer Stolz angesichts ihrer Distanziertheit und ihres
armseligen Materialismus.
»Es ist Wochen her, seit wir
zum letzten Mal zusammen zu Mittag gegessen haben.«
Sie brachte ihre Vorwürfe immer
in dem gleichen sanften Tonfall vor. Sie trug seelische Kränkungen
zur Schau, an die sie selbst nicht glaubte. Meine Mutter, die nur
für Markenklamotten und für Weine aus kontrolliertem Anbau lebte,
bewegte sich in einer Welt unechter Gefühle.
»Tut mir leid«, log ich, »dass
die Zeit so schnell vergeht!«
»Du liebst mich nicht.«
Sie hatte die Gabe, im Verlauf
einer harmlosen Unterhaltung tragische Sentenzen zum Besten zu
geben. Dieses Mal hatte sie es im Tonfall eines schmollenden
kleinen Mädchens gesagt. Ich konzentrierte mich auf den Duft des
feuchten Efeus, den Geruch der Wände, die vor Kurzem neu gestrichen
worden waren.
»Im Grunde liebst du
niemanden.«
»Ganz im Gegenteil: Ich liebe
alle Menschen.«
»Das sage ich doch. Dein Gefühl
ist allgemein und abstrakt. Es ist eine Art … Theorie. Du hast mir
niemals eine Braut vorgestellt.«
Ich betrachtete das Stück
Nachthimmel, das sich über dem Treppengeländer abzeichnete.
»Wir haben tausendmal darüber
gesprochen. Mein Herz ist anderweitig gebunden. Ich versuche, meine
Mitmenschen zu lieben. Alle Mitmenschen.«
»Auch die Verbrecher?«
»Vor allem die
Verbrecher.«
Sie schlug ihren Mantel über
ihre Beine. Ich betrachtete ihr vollkommenes Profil.
»Du bist wie ein Psychologe«,
fügte sie hinzu. »Du interessierst dich für alle und daher für
niemanden. Jemanden lieben heißt, sein Leben für ihn aufs Spiel
setzen, mein Junge.«
Ich war mir nicht sicher, ob
gerade sie das Recht hatte, mich zu belehren. Trotzdem zwang ich
mich dazu, ihr zu antworten, denn sie wollte zweifellos auf etwas
hinaus.
»Ich habe in Gott eine lebhaft
sprudelnde Quelle gefunden. Einen Born der Liebe, der nie versiegt
und der bei den anderen das gleiche Gefühl wecken soll.«
»Immer deine Predigten. Du
lebst in einer anderen Zeit, Mathieu.«
»Der Tag, an dem du begreifst,
dass das Wort Gottes zeitlos ist …«
»Behandle mich nicht so
herablassend.«
Ihr Gesichtsausdruck ließ mich
plötzlich stutzen: Meine Mutter war genauso sonnengebräunt und
elegant wie immer, aber heute kam so etwas wie Müdigkeit und
Überdruss zum Vorschein.
»Weißt du, wie alt ich bin?«,
fragte sie plötzlich, »Ich meine, wie alt ich wirklich bin?«
Das war eines der bestgehüteten
Geheimnisse von Paris. Sobald ich Zugriff auf das zentrale
Personenregister hatte, hatte ich es als Erstes überprüft. Um ihr
zu schmeicheln, sagte ich:
»Fünfundfünfzig,
sechsundfünfzig …«
»Fünfundsechzig.«
Ich war fünfunddreißig. Mit
dreißig Jahren hatte meine Mutter plötzlich den Wunsch gehabt, ein
Kind zu bekommen, kurz nachdem sie in zweiter Ehe meinen Vater
geheiratet hatte. Sie hatten sich über dieses »Projekt«
verständigt, so wie man sich über den Kauf eines neues Segelboots
oder eines Gemäldes von Soulages verständigt. Meine Geburt hatte
sie zunächst bestimmt gefreut, aber dann waren sie meiner schnell
überdrüssig geworden. Vor allem meine Mutter, die ihrer Launen
immer schnell müde wurde. Egoismus und Müßiggang raubten ihr all
ihre Energie. Echte Gleichgültigkeit ist eine
Vollzeitbeschäftigung.
»Ich suche einen
Priester.«
Meine Besorgnis nahm zu. Ich
dachte plötzlich an eine tödliche Krankheit, eines jener
erschütternden Ereignisse, die eine innere Umkehr auslösen.
»Du bist nicht …«
»Krank?« Sie lachte hochmütig.
»Nein. Überhaupt nicht. Ich will beichten, das ist alles.
Aufräumen. Wieder eine Art … Jungfräulichkeit finden.«
»Ein Facelifting, wie?«
»Mach dich nicht lustig.«
»Ich habe immer gedacht, du
würdest der fernöstlichen Schule zuneigen«, spottete ich, »oder dem
New Age.«
Sie schüttelte langsam den Kopf
und sah mich schief an. Die hellen Augen in ihrem dunklen Gesicht
waren noch immer beeindruckend verführerisch.
»Du findest das wohl witzig,
wie?«
»Nein.«
»Dein Ton ist sarkastisch.
Deine ganze Person ist sarkastisch.«
»Überhaupt nicht.«
»Du merkst es schon gar nicht
mehr. Immer diese Distanz, diese Arroganz …«
»Wieso willst du zur Beichte
gehen? Willst du nicht darüber sprechen?«
»Mit dir schon gar nicht.
Kannst du mir jemanden empfehlen? Jemanden, dem ich mich
anvertrauen könnte. Jemand, der Antworten hätte …«
Meine Mutter steckte mitten in
einer Sinnkrise. Dies war offensichtlich ein besonderer Tag. Sie
flüsterte, während es wieder anfing zu regnen:
»Es ist wohl das Alter. Keine
Ahnung. Aber ich möchte eine … höhere Bewusstseinsstufe
erreichen.«
Ich zückte einen Kuli und riss
ein Blatt aus meinem Taschenkalender. Ohne nachzudenken, schrieb
ich Namen und Anschrift eines Priesters darauf, den ich häufig
besuchte. Geistliche sind nicht wie Psychologen: Man kann sie
innerhalb der Familie weiterempfehlen. Ich hielt ihr den Zettel mit
den Daten hin.
»Danke.«
Sie stand auf, eine Parfumwolke
aufwirbelnd.
»Möchtest du nicht
reinkommen?«
»Ich bin schon zu spät dran.
Ich ruf dich an.«
Sie verschwand auf der Treppe.
Die Gestalt im Wildledermantel fügte sich harmonisch in die
glänzenden Efeublätter und den weißen Anstrich. Sie besaß die
gleiche Frische, die gleiche Klarheit. Auf einmal fühlte ich mich
alt. Ich drehte mich um und ging in den Flur hinein, an dessen Ende
meine smaragdgrüne Tür leuchtete.