KAPITEL 94
»Nun schließen Sie die Augen.«
Luc saß mit nacktem Oberkörper
in einem Rollstuhl. Sein kahlrasierter Schädel war mit zahllosen
Elektroden versehen, die den Rhythmus seiner Hirnwellen
überwachten. Seine Brust war von Pflastern übersät, darunter
Sensoren, die seinen Herzschlag, seine Muskelspannung und seinen
Hautwiderstand, das heißt die elektrischen Mikroströme, die von
seiner Oberhaut ausgingen, maßen.
»Sie entspannen sich. Sie
werden sich ganz langsam wieder Ihres ganzen Körpers
bewusst.«
Um seinen linken Bizeps war
eine Armbinde gewickelt, über die sein Blutdruck gemessen wurde.
Ein Infrarot-Clip an einem seiner Finger erfasste die
Sauerstoffsättigung des Bluts. Diese Messgeräte sollten nicht nur
die physiologischen Veränderungen während des Experiments
überwachen, sondern auch rechtzeitig vor Gefahren warnen: Luc war
gerade erst aus dem Koma erwacht, und sein Zustand war noch
labil.
»Ihre Gliedmaßen erschlaffen.
Ihre Muskeln werden ganz locker. Sie sind vollkommen
entspannt.«
Einige Tage nach seinem Besuch
hatte Luc verlangt, seine Seelenreise unter Hypnose und vor Zeugen
noch einmal zu erleben. Er wollte noch einmal, kraft der
Erinnerung, »das andere Ufer« erreichen, und jedes Detail sollte
dabei schriftlich festgehalten werden.
Éric Thuillier, der Neurologe,
der Luc im Hôtel-Dieu behandelt hatte, hatte dies mit der
Begründung abgelehnt, es sei zu riskant. Aber Luc hatte darauf
bestanden, und ein Psychiater namens Pascal Zucca, Chefarzt der
psychiatrischen Klinik von Villejuif, hatte sich dafür
ausgesprochen. Eine Hypnose könnte sogar eine therapeutische
Wirkung haben, meinte er. Luc könnte so eher sein Trauma
überwinden. Thuillier gab schließlich nach. Unter der
ausdrücklichen Bedingung, dass die Sitzung auf seiner Station und
unter seiner Überwachung im Hôtel-Dieu stattfand.
»Jetzt werden Ihre Hände und
Ihre Füße schwer …«
Es war Donnerstag, der 14.
November. Hinter der Scheibe des Kontrollraums beobachtete ich
meinen besten Freund, der leichenblass war und unter all den
Pflastern und Kabeln wie verloren schien. Noch so eine Absurdität
…
Er befand sich in der Mitte
eines leeren Raums, der mit schalldämpfenden Platten und hellem
Linoleum verkleidet war. Zu seiner Linken standen auf einem
Rolltisch Ampullen, Spritzen und ein Defibrillator. Ihm gegenüber
stand Pascal Zucca im weißen Kittel und wandte uns den Rücken zu.
Er beugte sich über Lucs Stuhl und glich einem Boxtrainer, der
seinem Champion letzte Ratschläge zuflüstert. Mehrere Kameras
filmten das Ereignis.
Ich wandte mich meinen Nachbarn
zu, die in der Kabine reglos neben mir standen. Die
Untersuchungsrichterin Corine Magnan war im Rahmen ihres
Amtshilfeersuchens aus Besançon angereist. Neben ihr beobachtete
Éric Thuillier die Kontrollbildschirme. An seiner anderen Seite
stand ein Psychiater, dessen Namen ich nicht verstanden hatte und
der von der Untersuchungsrichterin als Sachverständiger beauftragt
worden war. Wozu ein Sachverständiger? Diese Sitzung war eine
Maskerade.
Hinter diesen dreien stand
Levain-Pahut, Polizeidirektor und Leiter des Drogendezernats, der
sicherstellen wollte, dass einer seiner besten Männer nicht
gefoltert wurde. Ein von der Untersuchungsrichterin beauftragter
Justizbeamter, der im Halbdunkel saß, machte handschriftliche
Notizen, während sich Krankenschwestern an den Kontrollmonitoren
und den Computertastaturen zu schaffen machten.
Aber am Besten war, ganz rechts
stehend, der besondere Gast von Luc: Pater Katz, der offizielle
Exorzist des Erzbistums Paris und Vertreter der
römisch-katholischen Kirche. Der Mann in Schwarz umklammerte ein
kleines rotes Buch, das Rituale Romanum.
Ich konnte es nicht glauben, dass es Luc gelungen war, uns alle zu
versammeln, um diesem irrsinnigen Vorhaben beizuwohnen.
»Ihre Füße versinken im Boden.
Ihre Finger werden taub …«
Ich hätte laut auflachen
können, aber das wäre unpassend gewesen. Die Anwesenheit Magnans
und ihres Protokollführers bewies, dass die buddhistische
Untersuchungsrichterin diese Zeugenaussage ernst nahm. Der Fall
Simonis war einer Untersuchungsrichterin mit esoterischen Neigungen
zugefallen. Der Einzigen, die den Halluzinationen Luc Soubeyras
einen Funken von Glaubwürdigkeit verleihen konnte …
Ich hatte mich informiert: In
Frankreich war eine Aussage unter Hypnose noch nie offiziell
anerkannt worden. Nach französischem Gesetz muss ein Zeuge sich
immer auf der Grundlage eines »freien und bewussten
Willensentschlusses« äußern, womit sich der Rückgriff auf Methoden
der Suggestion oder auf eine sogenannte »Wahrheitsdroge« verbot.
Trotzdem war Corine Magnan zugegen, und ihr Protokollant ließ sich
nicht das Geringste entgehen.
Zucca murmelte – seine Stimme
wurde über unsichtbare Lautsprecher in die Kabine übertragen:
»Sie spüren diese Schwere
überall in Ihrem Körper … Sie breitet sich in all Ihren Gliedmaßen,
all Ihren Muskeln aus …«
Luc schien in seinem Sessel
zusammenzusinken. Seine von Sommersprossen überzogene Haut war fast
durchsichtig – man glaubte seine Organe zucken zu sehen. Ich dachte
an das Monster aus den Planty mit seinem sichtbaren Herzen und
verjagte sogleich dieses Bild.
»Die Schwere verwandelt sich in
Licht … Das Licht überflutet Ihren Geist und Körper … Sie empfinden
nichts anderes mehr … Die Schwere und das Licht füllen Sie
vollständig aus …«
Luc atmete langsam mit
geschlossenen Augen. Er schien ruhig zu sein.
»Das Licht ist blau. Sehen Sie
es?«
»Ja.«
»Das blaue Licht ist eine
Leinwand, auf der Sie Bilder, Erinnerungen aufsteigen lassen …
Solange ich mit Ihnen spreche, werden die Bilder an Ihnen
vorüberziehen. Einverstanden?«
»Ja.«
Der Psychiater ließ einige
Sekunden verstreichen und fuhr dann fort:
»Sehen Sie Bilder?«
Luc antwortete nicht. Der
Psychiater drehte sich zur Scheibe um und machte, an Thuillier
gewandt, eine fragende Geste. Thuillier wandte sich seinerseits an
die Krankenschwestern. Dann flüsterte der Neurologe in ein
Mikrofon, das in die Konsole eingelassen war – Zucca trug ein
Headset:
»Wir sind so weit.«
Der Psychiater nickte und hob
dann den Kopf.
»Luc, sind die Bilder
da?«
Luc nickte langsam.
»Sie werden meiner Stimme
folgen und diese Bilder beschreiben. Einverstanden?«
Ein weiteres Nicken.
»Was sehen Sie?«
»Wasser.«
»Wasser?«
In der Kabine gab es verblüffte
Blicke, dann hatte jeder verstanden.
Der Fluss.
Die Reise begann.