KAPITEL 113

Zwei Stunden später fuhr ich in Vallorbe über die Grenze. Die E23 bis Pontarlier, dann am Doubs entlang Richtung Morteau. Noch eine Stunde und Sartuis lag vor mir. Auf dem Grund dieses tiefen Leids glomm ein Funken Licht: Ich würde Manon wiedersehen und sie beschützen.
   Während ich in das Tal hinabfuhr, erblickte ich weiter unten am Hang ein Einsatzfahrzeug der Gendarmerie, das mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirene, Richtung Wohnviertel von Sartuis fuhr. Ich griff nach meinem Handy.
   »Foucault?«
   »Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, Mat.«
   »Hast du keine Spur?«
   »Nein.«
   »Und die anderen?«
   »Nichts. Es wird vermutet, dass sie sich in den Jura abgesetzt hat.«
   »Wieso?«
   »Das ist Lucs Idee.«
   »Luc?«
   »Corine Magnan hat ihm die Nachricht überbracht. Er hat sie schweigend aufgenommen. Er verliert immer mehr den Verstand. Er hat nur gesagt, Manon hätte sie umgebracht, und man solle sie in Sartuis suchen. Sie würde dorthin zurückkehren, wo alles begonnen habe. In das Haus ihrer Mutter.«
   Luc hatte hellseherische Fähigkeiten. Ich legte auf und gab Gas. Das Blaulicht der Gendarmen strich über den Berghang. Ich musste vor ihnen eintreffen, Manon retten. Ich trat das Gaspedal durch.
   An der Stadtgrenze fuhr ich nach links. Ich erinnerte mich an eine Straße entlang der Bahnlinie ohne Kreuzung und ohne Ampel. Ich schaltete in den Vierten und brauste jetzt mit über hundertdreißig Sachen dahin. Meine Scheinwerfer schienen die Bäume am Straßenrand auszureißen.
   Vier Minuten später brauste ich durch das bessere Viertel von Sartuis. Die Lichter des Einsatzwagens durchzuckten die Ebene. Aber hinter mir. Ich hatte ihn überholt. Mir blieben jetzt nur zwei Minuten, um Manon herauszuholen.
   Ich erblickte das pyramidenförmige Haus. Seinen weiß verputzten Giebel, sein großes Fenster. Kein Licht. Hinter dem Haus legte ich eine Vollbremsung hin und rief Manon auf ihrem Handy an.
   »Ich bin da. Wo bist du?«
   »In der Garage.«
   Ich lief zur Box neben dem Gebäude. Das Blaulicht der Gendarmerie kam näher und schien das gesamte Tal zu erhellen. Ich schlug an die Drehtür. Langsam, zu langsam öffnete sich die Wand.
   Manon tauchte im Dunkeln auf. Ein klares Gesicht, das durch den kondensierten Atem aus ihrem Mund verschleiert wurde. Sie murmelte:
   »Ich weiß nicht, warum ich hierhergekommen bin. Dieser Schuppen jagt mir Angst ein. Ich …«
   »Komm.«
   Manon trat aus der Tür. Sie machte schnelle, ängstliche Bewegungen, wie die Geretteten von Katastrophen. Die Lichtblitze des Einsatzfahrzeugs ließen sie erstarren.
   »Wer ist das? Die Polizei?«
   »Beeil dich, sag ich dir.«
   »Wissen Sie, wer ich bin?«
   »Es gibt Neuigkeiten.«
   »Was?«
   Die Gendarmen waren nur noch ein paar Hundert Meter entfernt. Ich seufzte:
   »Laure, Lucs Frau, wurde ermordet. Mit ihren beiden Töchtern.«
   Manon stöhnte auf. Ihre Augen funkelten im Widerschein des Blaulichts:
   »Glauben Sie, dass ich das getan hab?«
   Ohne zu antworten, nahm ich ihre Hand und machte einen Schritt zum Wagen. Sie widersetzte sich. Ich drehte mich um und schrie:
   »Komm, verdammt nochmal!«
   Zu spät. Das Polizeifahrzeug bog um die Ecke der Zufahrt. Ich zog Manon an mich, öffnete die Wagentür auf der Fahrerseite und stieß sie hinein. Dann drückte ich ihr die Schlüssel in die Hand. Sie sollte nicht noch eine Nacht in einer Zelle verbringen. Sie sollte sich bis morgen verstecken, bis ich den Taxifahrer ausfindig gemacht hätte und ihre Unschuld beweisen könnte.
   »Fahr ohne mich. Gib Gas.«
   »Und du?«
   »Ich bleibe hier. Ich halte sie auf.«
   »Nein, ich …«
   Ich drückte ihre Finger um den Schlüssel zusammen.
   »Fahr in die Schweiz. Du rufst mich an, sobald du über die Grenze bist.«
   Widerwillig fuhr sie los. Ich schrie:
   »Gib Gas! Und ruf mich an.«
   Sie sah mich durch die Scheibe an, als wollte sie sich jede Einzelheit meines Gesichts einprägen. Die Blitze des Einsatzfahrzeugs warfen bereits zuckende Schatten auf ihr Gesicht. In der nächsten Sekunde hatte sie den Rückwärtsgang eingelegt und ließ den Motor aufheulen.
   Ich drehte mich um und ging die Straße hinunter. Das Einsatzfahrzeug blieb stehen. Gendarmen sprangen auf die Fahrbahn und liefen mit gezückten Pistolen auf mich zu. Einer von ihnen schrie:
   »Was machen Sie da?«
   Ich deutete mit einer Geste an, dass ich meine Papiere herausziehen wollte.
   »Keine Bewegung!«
   Ich hatte meinen Dienstausweis bereits gezückt und schwenkte ihn im Scheinwerferlicht.
   »Ich bin Polizist.«
   Die Männer gingen langsamer, während sich ein in einen schwarzen Anorak eingemummter Offizier an ihre Spitze setzte.
   »Wie heißt du?«
   »Mathieu Durey, Mordkommission Paris.«
   Der Anführer schnappte meinen Dienstausweis.
   »Was machst du hier?«
   »Ich ermittle in einem Fall. Ich …«
   »Achthundert Kilometer von deiner Dienststelle entfernt?«
   »Ich werde es Ihnen erklären.«
   »Will ich hoffen.« Er steckte meinen Ausweis in seine Tasche und warf dann einen Blick über meine Schulter zum offenen Garagentor. »Denn das hier sieht mir doch ganz nach Hausfriedensbruch aus.«
   Er wandte sich an seine Männer:
   »Durchsucht das Haus!« Dann wandte er sich wieder mir zu: »Wo ist deine Karre?«
   »Ich hatte eine Panne auf der Straße. Ich bin zu Fuß gekommen.«
   Der Offizier musterte mich schweigend. Der mit Formalin getränkte Mantel, das blutverschmierte Gesicht, der offene Kragen. Der Gendarm atmete langsam. Im Gegenlicht der Scheinwerfer konnte ich seine Gesichtszüge nicht erkennen. Sein Kragen aus synthetischem Fell schimmerte in der Nacht.
   »Da ist was faul, Freundchen«, grummelte er schließlich. »Ich hoff, du hast ’ne gute Erklärung, sonst …«
   »Klar doch.«
   Ein Gendarm kam hinter ihm herbeigeeilt.
   »Sie ist nicht da, Capitaine.«
   Der Offizier machte einen Schritt zurück, wie um mich besser einzuschätzen. Ohne mich aus den Augen zu lassen, fragte er den anderen:
   »Die Garage?«
   »Nichts Auffälliges, Capitaine.«
   Er klatschte zackig in die Hände.
   »Gut. Wir fahren zurück zur Gendarmeriekaserne und nehmen den Herrn mit. Er hat uns eine Menge zu erzählen … über Manon Simonis.«
   Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zu einem marineblauen Kombi, den ich gar nicht bemerkt hatte. Er öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, beugte sich in den Innenraum und plärrte in ein Funkgerät:
   »Brugen hier. Wir fahren zurück … Nein, sie ist nicht hier.« Er warf mir wieder einen Blick zu. »Aber etwas sagt mir, dass sie nicht mehr weit weg ist …«
   Brugen. Ich erinnerte mich an diesen Namen. Der Capitaine der Gendarmerie, der die Fälle Sarrazins übernommen hatte und die Ermittlungen in seinem Mordfall leitete. Ich wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war.
   Zwei Gendarmen begleiteten mich zum Kastenwagen. Der Kombi kam für mich nicht in Frage. Sie öffneten die hintere Doppeltür. Der Geruch nach kaltem Tabakrauch und nach Motoröl schnürte mir einen Moment den Atem ab. Ich hörte die Stimme des Offiziers, der über Funk Befehle erteilte:
   »Ich will eine Straßensperre auf allen Verkehrswegen. Besançon, Pontarlier, die Grenze … Ihr haltet jedes Fahrzeug an. Kapiert … Und vergesst nicht, dass sie möglicherweise bewaffnet ist!«
   Wie standen Manons Chancen, diesem Aufgebot zu entkommen? Ich betete, dass sie bereits in Grenznähe war. Dann würde sie mich anrufen, im Schutz des Autos ein paar Stunden schlafen, und wenn sie aufwachte, wäre ich an ihrer Seite und all ihre Probleme wären gelöst.
Das Herz der Hoelle
titlepage.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml
content100.xhtml
content101.xhtml
content102.xhtml
content103.xhtml
content104.xhtml
content105.xhtml
content106.xhtml
content107.xhtml
content108.xhtml
content109.xhtml
content110.xhtml
content111.xhtml
content112.xhtml
content113.xhtml
content114.xhtml
content115.xhtml
content116.xhtml
content117.xhtml
content118.xhtml
content119.xhtml
content120.xhtml
content121.xhtml
content122.xhtml
content123.xhtml
content124.xhtml
content125.xhtml
content126.xhtml
content127.xhtml
content128.xhtml
content129.xhtml
content130.xhtml
content131.xhtml
content132.xhtml