KAPITEL 110
TGV, Erste Klasse.
Im komfortablen Großraumwagen
schießen Wälder, Ebenen und Hügel an mir vorbei. Die Stirn an die
Fensterscheibe gedrückt, denke ich an eine riesige Säge, die die
Landschaft zerschneidet und aufschlitzt wie einen vollen Magen. Der
surrende Fahrtwind und das sanfte Ruckeln auf den Gleisen
verstärken noch das Gefühl, in einem hermetisch abgeschlossenen
Raum zu sitzen, einem Bunker, der pfeilschnell dahinrast.
Um mich herum sitzen Krawatte
tragende Männer, die Augen auf ihre Notebooks geheftet, den Kopf
über ihr Handy gebeugt. Telefonate. Immer der gleiche ernste,
besonnene, klügelnde Ton, die gleichen geschäftlichen Themen,
derselbe verbissene Materialismus. All dies wahrgenommen durch den
Schleier meines eigenen Albtraums …
War es möglich, dass sich
hinter dem biederen Menschen ein bestialischer Mörder
verbarg?
Moritz Beltreïn, der
»Höllengast«?
Zum hundertsten Mal wog ich Pro
und Kontra ab.
Pro. Sein Kontakt zu den vier
Tatverdächtigen. Seine Lüge in Bezug auf Agostina und Raimo bei
unserer ersten Begegnung. Seine Kenntnisse in den Bereichen Koma,
Wiederbelebung und Pharmakologie. Sein Wohnort, unweit der Täler
des Jura, einer Region, die mir von Anfang an als die Wiege des
Mörders erschien …
Kontra. Beltreïn, ein
international angesehener Experte auf dem Gebiet der Reanimation,
könnte aus rein wissenschaftlichen Gründen Kontakt zu den
Überlebenden aufgenommen haben. Seine äußere Erscheinung: Wie
sollte sich der kleine Mann mit den großen Brillengläsern in einen
spindeldürren Engel, einen Greis mit leuchtendem Haar, ein Kind mit
ausgerissenen Fleischstücken verwandelt haben?
Wieder begann ich zu zweifeln.
Schließlich war selbst meine Ausgangshypothese vom »Höllengast«
reine Spekulation. All dies konnte eine reine Chimäre … eine
Wahnidee sein.
Ich langte mit der Hand in
meine Aktentasche und zog die Dokumentation über Beltreïn heraus,
die ich vor meiner Abreise ausgedruckt hatte. Eine vollständige
Biografie, zusammengebastelt aus Fragmenten, die ich auf der
Website des Universitätsklinikums Lausanne fand, und aus Artikeln,
die ich aus Schweizer Zeitungen zusammentrug.
Geboren 1942 im Kanton Luzern.
Studium in Zürich, medizinische Fakultät, Herz- und Gefäßchirurgie,
bis 1969. Anschließend, von 1970 bis 1972, Harvard. Dann
Frankreich, wo er in der chirurgischen Klinik des Städtischen
Krankenhauses Bordeaux (1973-1978) arbeitet. Schließlich Rückkehr
in die Schweiz ans Universitätsklinikum Lausanne, wo er 1981 zum
Chefarzt der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie ernannt
wird.
Ich überfliege seine zahllosen
Auszeichnungen, die Konferenzen und Seminare weltweit. In den
Artikeln suche ich nach einem Schatten, einer Bruchlinie. Nichts.
Kein Hinweis auf einen Hang zur Esoterik. Keinerlei Probleme in den
Kliniken, in denen er arbeitet. Nicht der Hauch eines Verdachts,
kein Makel, auf keinem Gebiet.
Unverheiratet, keine Kinder.
Der Mann geht voll und ganz in seinem Beruf auf. Ein genialer
Wissenschaftler, auf den die Schweiz stolz ist; ein Arzt, der wie
am Fließband Leben rettet.
Ich betrachtete die Fotos in
den Artikeln. Rundes Gesicht, das glatte Haar in die Stirn gekämmt,
dicke Brillengläser. Ein Pudelgesicht, das etwas Undurchsichtiges,
Verborgenes, Falsches ausstrahlte. Der »Höllengast«?
Unmöglich, die Frage zu
beantworten.
Weder so noch so.
Lausanne.
Bei der ersten Leihwagenfirma
entscheide ich mich für einen Mercedes der E-Klasse, um unter den
Schweizer Limousinen nicht aufzufallen. Bevor ich losfahre, höre
ich meine Mailbox ab. Keine Nachricht. Keine Neuigkeit von Manon
oder meinen Männern.
Ich brause los und schlucke
meine Wut hinunter.
Wenn Corine Magnan sie noch
eine weitere Nacht dabehält, werde ich sie selbst
herausholen.
Auf dem Weg zur Klinik fahre
ich vorbei an Hügeln und durch Straßen, über denen die
Stromleitungen der Tram hängen. Das Gelände der Klinik für
Herzchirurgie taucht auf. Weiße Fassaden, Zen-Gärten, Kugelleuchten
und Zwergkiefern.
Ich gehe hinauf in den ersten
Stock und treffe dort meine Studentin mit ihrer
Tic-Tac-Schachtel.
»Hallo!«, entfährt es ihr. »Sie
hatten doch gesagt, dass Sie nicht zurückkommen.«
»Also«, sagte ich verlegen.
»Ich muss unbedingt mit Dr. Beltreïn sprechen.«
»Sie haben ihn gerade verpasst.
Er war hier und ist gleich weitergefahren.«
»Haben Sie seine
Privatadresse?«
Sie erhob sich und setzte ein
reizendes Lächeln auf:
»Was Besseres. Er fährt nicht
in seine Wohnung in Lausanne, sondern in sein Chalet in
Riederalp.«
Ich zog den Plan der
Leihwagenfirma aus der Tasche und breitete ihn auf der Theke
aus.
»Wo ist das?«
Die junge Frau bemerkte, dass
meine Hände zitterten, enthielt sich aber jeden Kommentars. Sie
deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle.
»Hier, hinter der Stadt
Bulle.«
Ich nahm einen Kugelschreiber
und zog einen Kreis um den Namen der Ortschaft.
»Wenn ich dort bin, wie finde
ich das Chalet?«
»Das ist leicht«, sagte sie,
während sie meinen Schreiber nahm und die Route einzeichnete. »Sie
fahren weiter Richtung Spiez. In Wessenburg fahren Sie links
hinauf. Villa Parcossola: Es ist ausgeschildert, am Hang des Mont
Gantrish. Parcossola heißt der Architekt, der die Villa geplant
hat. Es ist bekannt in der Region.«
Sie schien ziemlich genau im
Bilde zu sein. Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob sie
vielleicht die Wochenenden bei ihm verbrachte … Die
Pfefferminzfrische ihres Atems regte meine Sinne an.
»Schauen Sie wieder mal
vorbei?«
Die Waagschalen stiegen und
sanken noch immer in meinem Kopf. Beltreïn, ein Serienmörder: ja
oder nein?
»Dieses Mal ist es wirklich
unwahrscheinlich.«
»Das haben Sie schon beim
letzten Mal gesagt.«
»Das stimmt. Inch’ Allah.«
Ich entfernte mich im
Laufschritt.
Der kalte Schweiß brach mir
aus, und ich schnaufte.
Wieder fuhr ich den See
entlang, durch die gleiche Landschaft wie bei meinem ersten
Abstecher hierher. Ferne Lichter an den Hängen der Hügel
schimmerten wie verstreute Glut.
In Vevey bog ich nach Bulle ab
und nahm die Autobahn E27. Dann verließ ich die Schnellstraße und
fuhr hinauf zu den Gipfeln, Richtung Spiez. Ich dachte an meine
Fahrt über den Simplonpass: Seither schienen mehrere Jahrhunderte
vergangen zu sein.
Wessenburg.
Julie Deleuze hatte die
Wahrheit gesagt: Der Weg zur Villa Parcossola war ausgeschildert.
Ich verließ die nass glänzende Fahrbahn und fuhr in eine
verschneite Straße hinein. Die Stimmung der Landschaft veränderte
sich wie die eines Gesichts. Immer dichter zusammenstehende, immer
schwärzere Tannen. Grau und bläulich schimmernde Schneeverwehungen,
passend zu den stahlblauen Wolken über den Wäldern.
Ein Schild tauchte auf, das auf
einen Kiesweg zeigte. Eine weiße Ader im dunklen Körper des Waldes.
Ich fuhr unter die Decke aus Nadelbäumen. Ich kam an einem
Elektrizitätswerk vorbei. Ein grauer Block, der aus dem Unterholz
auftauchte und auf geheimnisvolle Weise die Abgeschiedenheit des
Orts unterstrich.
Nach einer Kurve öffnete sich
der Wald und enthüllte die Villa.
In mehrere Betonterrassen
gegliedert, überspannte sie einen Wasserfall, der durch ihr
Fundament strömte. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und wartete,
bis sich das Gebäude im Mondlicht deutlicher abzeichnete. Es
erinnerte an ein berühmtes Bauwerk von Frank Lloyd Wright, das
»Falling-water«, das nach dem gleichen Prinzip entworfen worden
war, als schwebe es über dem Wasser.
Ich hielt etwa fünfzig Meter
vom Parkplatz entfernt, auf dem kein Auto stand. Ich nahm meine
Taschenlampe, Gummihandschuhe und stieg leise aus.
Ich schlich auf die Residenz
zu, wobei ich mich immer im Dunkeln hielt. Der Lärm des Sturzbachs
übertönte meine Schritte auf dem Kies.
Jetzt übersah ich die Villa mit
einem Blick. Jede Terrasse, die von einem Betonbalkon gesäumt
wurde, ragte ein Stück weiter über dem Sturzbach auf und trotzte
damit den Gesetzen der Physik. Mit seiner massiven Rückseite
bildete das Haus ein Gegengewicht dazu. Es brannte kein Licht.
Links umrahmten zwei viereckige Backsteintürme ein schmales
verglastes Vestibül. Die silbern schimmernden Fluten und schwarzen
Tannen spiegelten sich im Glas, sodass man den Eindruck hatte, sie
befänden sich innerhalb des Gebäudes.
Im Weitergehen fiel mir ein
Detail auf. Hinter den großen Fenstern waren Rollläden
heruntergelassen. War Beltreïn zu Hause? Unter den Terrassen bog
ich in einen schmalen Gang ein, der über den Wildbach führte. Der
schneidende Wind des Wassers peitschte mir ins Gesicht.
Ich bewegte mich im Fundament
des Gebäudes. Eine Betontreppe am Ende des Gangs führte ins
Erdgeschoss, zu einem silbern schimmernden Rasen. Ich ging weiter
und blickte mich um. Die Hauptfassade des Gebäudes befand sich
jetzt vor mir, mit einem Portal, einer Klingel und einer
Videokamera. Der Kies schimmerte im Mondschein wie eine
Bühnendekoration.
Nach ein paar flinken, leisen
Schritten stand ich nahe an der Außenmauer. Ich ging nach links bis
zur Ecke, auf der Suche nach einem Dienstboteneingang – oder auch
einem kleinen Fenster, das ich einschlagen könnte. Da sah ich eine
weitere Treppe, die wieder unter das Fundament führte. Instinktiv
stieg ich hinunter und entdeckte, auf halbem Weg, eine
Eisentür.
Der Zugang zum Kellergeschoss
oder zu einer Garage.
Ein Kribbeln im ganzen Körper.
Ich zog meine Glock und entsicherte sie. Mein Mantel klebte mir an
der Haut, die eisige Nässe ließ mich frösteln. Reflexartig tastete
ich das eiserne X ab, das die Tür versperrte, die sich unmöglich
aufbrechen ließe. Aufs Geratewohl drückte ich die Klinke nieder.
Die Tür drehte sich in den Angeln. Sie war offen.
Ganz einfach offen!
Ich lud die Pistole durch und
schlüpfte in die Finsternis hinein.