KAPITEL 120
Laut dem Artikel über die Rettung Lucs lag die
Höhle etwa dreißig Kilometer südlich von Lourdes, im Nationalpark
der West-Pyrenäen. Ich umfuhr die Marienstadt und raste über die
N21. Argelès-Gazost. Pierrefitte-Nestalas. Die Berge tauchten auf
und bildeten ein dunkles Spalier. Cauterets. Im Stadtzentrum zeigte
ein Schild die Richtung zur Genderer-Höhle an. Die Straße stieg an.
Sich die geeignete Fallhöhe für den Sturz in die Hölle verschaffen,
schoss es mir kurz den Kopf.
Nach fünf Kilometern kam der
Lac de Gaube in Sicht. Eine Landstraße verschwand rechts zwischen
kahlen Bäumen. Ich schaltete herunter, um weiter bergauf zu fahren.
Nach einer Kurve und einigen kurzen Durchblicken auf vereinzelte
Häuser blieb nur ein jäher Felssporn: der Genderer.
Die Straße endete abrupt an
einem Parkplatz.
Ich verriegelte den Wagen und
begab mich zum Eingangsgebäude. Eine Reihe futuristischer
Stahlbögen, die in die hohe Steilwand eingelassen waren. Die Kälte
hatte hier eine andere Qualität. Sie war wie ein trockenes,
erbarmungsloses Beißen, eine neue Stufe der Unwirtlichkeit. Die
heftigen Windstöße ließen meinen Mantel knattern. Ich kam mir vor
wie ein Engel der Erlösung, der in die letzte, entscheidende
Schlacht zog.
Unter den Gewölben befanden
sich Schaufenster: Kasse, Souvenirläden, Bar-Restaurant.
Geschlossen mit einem großen Gitter. In der Nähe des
Verkaufsschalters sah ich einen Lichtstreifen unter einer Tür. Und,
als ich die Ohren spitzte, auch das Brummen eines Radios. Ich
rüttelte so lange an dem Gitter, bis es einen Höllenlärm
machte.
Ein Mann tauchte auf. Struppig,
stoppelig, auf Hundertachtzig – der gleiche Typ wie der Wächter des
Rathauses von Sartuis.
»Sie spinnen wohl!«
Ich hielt ihm durch das
Gestänge meinen Dienstausweis unter die Nase. Er kam näher, sein
Atem roch nach Kaffee.
»Was wollen Sie?«
»In die Höhle runter.«
»Um diese Zeit?«
»Machen Sie auf.«
Murrend betätigte der Typ mit
dem Fuß einen Mechanismus. Das Gitter ging hoch. Ich bückte mich,
schlüpfte darunter hindurch und richtete mich vor ihm wieder auf.
Sein Bart glänzte wie Stahlwolle.
»Nehmen Sie eine Lampe, und
führen Sie mich nach unten.«
»Haben Sie ’n Papier, ’ne
Vollmacht oder so was?«
Ich schubste ihn:
»Ziehen Sie sich an. Und
vergessen Sie die Taschenlampe nicht.«
Der Kerl drehte sich um und
schlich seitwärts wie ein Krebs davon. Ich folgte ihm, um
sicherzugehen, dass er nicht die Gendarmerie oder sonst jemanden
anrief. Er verschwand in seiner Loge und kam mit einem Scheinwerfer
samt Schultergurt zurück. Er trug khakifarbenes Ölzeug und hielt
mir ebenfalls eine Öljacke hin:
»Dürft’ Ihre Größe sein. Unten
isses richtig feucht.«
Ich streifte den Poncho über:
Er passte mir wie ein Leichentuch.
»Hab unten Licht gemacht. Hier
habn wer jeden Tag Weihnachten!«
Er ging um mich herum und
trottete in den Gang hinein, der in die Grotte führte. Am Ende des
Gangs kamen die schwarzen Querstangen eines weiteren Gitters zum
Vorschein. Ein Lastenaufzug, wie ihn früher die Bergleute benutzt
hatten. Mein Führer hantierte an seinem Schlüsselbund und schloss
die auf einer Rollschiene montierte Gittertür auf.
»Hier lang geht’s
runter.«
Ich betrat die Kabine. Mein
Page folgte mir und verschloss das Gitter. Mit einem anderen
Schlüssel fummelte er am Armaturenbrett herum. Schon spürte man
einen feuchten Luftzug von unten, der den Schlund unter unseren
Füßen verriet. Die Plattform schwankte und sank dann hinab. Wir
bewegten uns gleitend abwärts. Nach den ersten Metern zog der durch
ein Drahtnetz gesicherte Fels an uns vorüber. Ich hatte das Gefühl,
nicht nur in die Tiefen der Erde einzutauchen, sondern auch in
vergessene Schichten der Zeit – in die Eiszeiten der Erde.
Der Wärter leierte seine
auswendig gelernten Sprüche herunter:
»Wir sinken mit einer
Geschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern. Bei diesem Tempo
erreichen wir in drei Minuten eine Tiefe von tausend Metern und
…«
Ich hörte nicht hin. Mein
Körper hielt mich auf dem Laufenden. Meine Lungen leerten sich,
meine Trommelfelle knackten. Der Druck. Die schwarze, schwitzende
Felskruste sauste noch immer mit schwindelerregendem Tempo an uns
vorbei. Mein Führer warnte mich:
»Strecken Sie bloß nicht die
Hände raus. Wir hatten schon Unfälle. Die Stärke des Sogs …«
»Haben Sie heute Nacht nichts
gehört?«
»Was denn?«
»Ein Eindringling. Ein
Besucher.«
Er riss die Augen weit auf. Die
Plattform hatte jetzt die höchste Sinkgeschwindigkeit erreicht. Ich
empfand eine Art Trunkenheit. Wir fielen schwerelos. Schließlich
bremste die Maschine ab, wobei die Kabel aneinanderscheuerten. Mein
Körper wurde durch das Bremsmanöver zusammengestaucht. Mir drehte
sich der Magen um, und ein übler Geschmack trat mir auf die Zunge.
Der Mann öffnete das Eisengitter:
»Minus tausend Meter. Alles
aussteigen …«
Ich wankte auf der Schwelle.
Vor mir öffnete sich ein Gewölbe, von dem mehrere Stollen
abzweigten. Neonröhren waren direkt am Fels befestigt. Neben einem
der Durchgänge stand ein Schild mit der Aufschrift »Rundgang«. Mir
wurde bewusst, dass ich den genauen Treffpunkt nicht kannte. DORT,
WO ALLES BEGONNEN HAT. Ich fragte:
»Nicolas Soubeyras, sagt Ihnen
der Name etwas?«
»Wer?«
»Nicolas Soubeyras. Ein
Höhlenforscher. Im Jahr 1978 in dieser Höhle tödlich
verunglückt.«
»Ich hab damals schon hier
gearbeitet«, sagte der Mann und verzog das Gesicht. »Man spricht
nicht drüber. Ist keine gute Werbung.«
»Wissen Sie, wo das passiert
ist?«
Er stampfte mit dem Absatz auf
den Boden:
»Direkt hier drunter. Im
Ballsaal. Noch fünfhundert Meter tiefer.«
»Ist der Bereich
zugänglich?«
»Nein, da dürfen nur Profis
rein.«
»Gibt es einen Zugang?«
Er schüttelte den Kopf.
»Von hier führt ein mit Pfeilen
gekennzeichneter Weg zweihundert Meter nach unten. Auf halbem Weg
ist ’ne Treppe für das Personal, die nochmal hundert Meter in die
Tiefe führt. Aber danach ist es reines Höhlenklettern. Da müssen
Sie durch Siphons und enge Kamine runter. Echte
Schwerarbeit.«
»Kann ich irgendwie dorthin
kommen?«
»Sind Sie schon mal in Höhlen
geklettert?«
»Nein.«
»Dann vergessen Sie’s. Selbst
die Profis haben Schwierigkeiten. Einer wie Sie geht beim ersten
Siphon flöten.«
Zwei Möglichkeiten. Entweder
ich hatte mich geirrt, und ich würde beim ersten Hindernis
aufgeben. Oder Luc erwartete mich dort unten, und er hätte den Weg
auf die eine oder andere Weise gesichert. Plötzlich bemerkte ich
gleichzeitig die hohe Feuchtigkeit und den Lärm der künstlichen
Belüftung.
»Sagen Sie mir, wie ich dorthin
komme.«
»Wie bitte?«
»Wie muss ich gehen, um in den
Ballsaal zu gelangen?«
Der Wärter seufzte:
»Nehmen Se die Treppe am Ende
des Stollens, und folgen Se den Schildern. Es ist beleuchtet. Dann
müssen Sie die Augen aufmachen. Auf der linken Seite ist ’ne
Eisentür. Der Durchgang, von dem ich gesprochen hab. Wenn Sie dann
noch fit sind, gehen Sie auf die andere Seite. Dort ist ein
Schalter für die Beleuchtung. Passen Sie auf: Da kommt gleich ’n
Schacht.«
»Kann ich den
hinabsteigen?«
»Nicht leicht. Im Felsen sind
Eisensprossen befestigt. Am Boden finden Se ’nen großen Saal und
dann den ersten Siphon, wo es von allen Seiten schüttet. Dann kommt
’n weiterer, sehr enger Siphon, der in einen zweiten Saal führt.
Ich bin nicht mal sicher, weil ich selbst nie dort war. Wenn Sie,
wie durch ein Wunder, immer noch am Leben sind, sollten Sie
trotzdem aufstecken. Wegen den Flechten.«
»Was für Flechten?«
»’ne Sorte, die ein giftiges
Gas freisetzt und leuchtet. Das gleiche Zeugs, das die Ägyptologen
vergiftet hat …«
»Weiß ich. Und dann?«
»Gibt kein Dann. Se werden
nicht so weit kommen.«
»Nehmen wir einmal an, ich
würde es schaffen.«
»Na dann hätten Sie’s fast
geschafft. Damals hatte der Felssturz Soubeyras und seinen Sohn in
’ne Kammer gesperrt. Dort sind die gestorben. Später hat man ’nen
Tunnel zum Ballsaal gegraben – es ist herrlich, ich hab Fotos
gesehen.«
Unter dem Ölzeug wurde mein
Körper von Adrenalinstößen belebt. Angst oder Ungeduld: Ich wusste
es nicht. Die Flechten waren ein Hinweis. Das letzte Element, das
den Kreis schloss. Luc erwartete mich in dem Saal, unmittelbar
hinter dem Vorzimmer seines ersten Todes.
»Sie haben von einer Eisentür
gesprochen. Ist sie zugesperrt?«
»Das will ich hoffen.«
»Den Schlüssel.«
Der Mann zögerte. Widerwillig
zog er seinen Bund heraus und machte einen Schlüssel ab. Ich nahm
den Schlüssel und die Handscheinwerfer, dann stieß ich den Führer
in die Kabine des Lastenaufzugs zurück. Er protestierte:
»Ich kann das nicht zulassen.
Se sind nich versichert!«
»Ich bin nie versichert«, sagte
ich und schob das Gitter zu. »Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück
bin, rufen Sie hier an.«
Ich kritzelte die Handynummer
Foucaults auf eine der Mautquittungen und schob sie durch das
Gitter durch.
»Sagen Sie ihm, dass Durey in
Schwierigkeiten ist. Durey, verstanden?«
Der Mann schüttelte den
Kopf.
»Falls Se den Siphon erreichen,
passen Se auf die Flechten auf. Entweder Se sin in weniger als zehn
Minuten durch, oder Se bleiben dort.«
»Ich werd’s mir merken.«
»Sind Se auch ganz
sicher?«
»Warten Sie oben auf
mich.«
Er zögerte noch immer,
schließlich rang er sich dazu durch, das Armaturenbrett zu
betätigen.
»Ich schick Ihnen den Aufzug
runter. Viel Glück!«
Scheppernd verschwand die
Kabine. Leere um mich herum, durchbrochen von dem Lärm der
Belüftung und den plätschernden Tropfen. Nachdem ich die Lampe am
Schulterriemen befestigt hatte, drehte ich mich um und stapfte
los.
Nach fünfzig Metern eine steil
abfallende Treppe. Mehrere Hundert Stufen, fast senkrecht. Ich
hielt mich am Geländer fest. Rinnsale glänzten an den Wänden, an
der Decke funkelten Wasserlachen, die Feuchtigkeit war überall,
durchdringend, die Luft war wie ein mit Wasser durchtränkter
Schwamm.
Unten ein weiteres Schild
»Rundgang«. Die Neonröhren, die in Mannshöhe befestigt waren,
erinnerten an einen U-Bahn-Schacht. Nach hundert Metern erspähte
ich linker Hand die Tür. Ich probierte den Schlüssel aus und
tastete nach dem Lichtschalter. Eine Reihe von Glühbirnen, die
durch ein Kabel miteinander verbunden waren, leuchtete matt auf. Es
wurde immer düsterer: Der schmale Stollen war schwarz und leicht
abschüssig. Ich schob meine Befürchtungen beiseite und ging weiter,
ohne richtig zu sehen, wohin ich meine Füße setzte. Meine Schultern
streiften die Glühbirnen und brachten sie zum Schwingen.
Plötzlich bog der Gang
rechtwinklig ab: der senkrechte Schacht. Ich schaltete meine Lampe
an und entdeckte die Eisensprossen an der Wand gegenüber. Mit dem
Absatz prüfte ich die ersten Sprossen, dann schaltete ich meine
Taschenlampe aus, befestigte sie am Schulterriemen und stieg nach
unten.
Nach hundert Tritten berührte
ich festen Boden. Ich sah nichts, aber die frische Luft deutete
darauf hin, dass ich mich in einem großen Raum befand. Der erste
Saal. Ich nahm meine Taschenlampe und schaltete sie wieder an. Ich
stand in einem schmalen Gang. Zu meinen Füßen eine riesige Höhle.
Ein kreisförmiger Kessel, der an ein römisches Amphitheater
erinnerte.
Die Falten im Fels beschrieben
zahllose Ornamente. Felssporne und -zacken, die von der Decke
herabhingen oder vom Boden emporragten und Fransen, Pfeiler und
Spitzen bildeten. Absurderweise fiel mir in diesem Moment eine alte
Lektion aus Sèze ein: »Stalaktiten: Kaikabscheidungen, die sich
durch Verdunstung von Wasser an der Decke einer Höhle bilden« ;
»Stalagmiten: Abscheidungen, die sich säulenförmig vom Boden
erheben …«
Ich machte ein paar Schritte
nach links, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und hielt die
Taschenlampe vor mich, ohne sie zu neigen, um nicht in den Abgrund
zu leuchten.
Ein weiterer Stollen. Ich ging
gebückt und manchmal fast in der Hocke weiter. Geröll knirschte
unter meinen Sohlen. Ich knickte mehrfach mit dem Fuß um und
stolperte in Pfützen. Mein Sichtfeld beschränkte sich auf den
Bereich, den die Taschenlampe ausleuchtete. Das Geräusch von
rieselndem Wasser bestätigte mir, dass ich auf dem richtigen Weg
war – der Führer hatte von einem Siphon gesprochen …
Endlich war der Sturzbach
direkt vor mir. Ich zögerte einen Moment, befestigte meine Lampe
wieder an meiner Schulter, verkeilte meine Füße an den Wänden des
schmalen Schachts, unmittelbar oberhalb des Wassers. Erneuter
Abstieg. Das Wasser war überall. Es war das Blut der Grotte. Ihre
Gänge waren ihre Venen und Arterien. Und ich befand mich im Zentrum
dieses Blutkreislaufs.
Endlich eine ebene Fläche. Im
Schein der Taschenlampe tauchten schwarze Felsen auf. Blöcke lagen
verstreut auf dem Boden herum, Stalaktiten ragten empor: Es gab
keinen Ausgang. Noch einige Schritte. Plötzlich ein Schlund. Der
zweite Schacht, von dem der Wärter gesprochen hatte. Aber diesmal
keine Sprossen, keine Griffe. Ohne Ausrüstung konnte man nicht
hinabsteigen.
In diesem Moment nahm ich ein
Schimmern wahr. Ein Karabinerhaken. Ich leuchtete mit der
Taschenlampe hin und entdeckte Gurtzeug, das an einem Strick hing.
Die Bestätigung. Luc hatte die Ausrüstung für mich vorbereitet. Er
war jetzt ganz in der Nähe und erwartete mich für unsere letzte
Begegnung.
Ich legte das Gurtzeug an,
wobei ich mich in meinen feuchten Kleidern verfing. Ich hatte
keinerlei Erfahrung im Bergsteigen, aber auf dem Grund meiner Angst
fand ich ein Quäntchen praktischen Verstand. Ich schirrte mich an.
Zunächst geschah nichts. Ich hing in der Luft und drehte mich um
mich selbst, mit beiden Händen den Strick fest umklammernd. Dann
begann das Seil zu gleiten und trug mich langsam in die Dunkelheit.
Ich dachte nicht mehr nach. Mit geschlossenen Augen schwebte ich
nach unten. Ich war dabei, mit dem Körper in Lucs Hölle
einzutauchen.
Ich fand wieder festen Boden
unter den Füßen, streifte das Gurtzeug ab und leuchtete die
Umgebung mit der Taschenlampe ab. Der zweite Saal. Der gleiche
Bogen, die gleichen Stalaktiten. Aber der Lichthof um meine Lampe
schimmerte grünlich. Ich schaltete sie aus. Das grünliche Schimmern
blieb. Ein phosphorartiger Geruch stach mir in der Nase. Die
Flechten. Überall um mich herum.
Wochenlange Analysen,
Recherchen, Vermutungen, um die Herkunft dieser Pflanze zu
ermitteln. Jetzt sah ich sie. Ich befand mich am Ursprung des
Rätsels, wie jene Ägyptologen, die das Grabmal Tutanchamuns
entdeckten und dort ihr Leben ließen.
Noch einige Meter. Ich machte
meine Lampe nicht wieder an. Die Nacht veränderte ihr Gesicht. Ich
nahm jetzt einen rötlichen Lichthof wahr. Ich dachte an die
Visionen der Lichtlosen. Den glühenden Raureif. Das zitternde
Leuchtfeuer … Würde mir der Teufel erscheinen?
Das Leuchten kam aus einem der
Gänge. Noch immer ohne die Lampe anzuschalten, schlich ich auf
allen vieren hinein. Meine Handteller übermittelten mir eine neue
Sinnesempfindung: Der Stein war warm. Braunkohle oder ein anderes
Gestein, das die Erinnerung an urzeitliches Magma speicherte. Ich
glaubte, mich dem glühenden Kern der Erde zu nähern.
Eine neue Nische.
Ein niedriger kreisförmiger
Hohlraum von einigen Quadratmetern.
Hier stand ein Altar, der von
Sturmlaternen erleuchtet wurde.
Aber nicht die Inszenierung
faszinierte mich, sondern die Zeichnungen an den Wänden.
Schlichte Bilder, wie der
Vorgeschichte entsprungen.
Ich ahnte, dass ich mich vor
den Skizzen befand, von denen mir Luc erzählt hatte – die Figuren,
die Nicolas Soubeyras angeblich vor seinem Tod gezeichnet hatte.
Ich wusste jetzt, dass diese Werke von Luc selbst stammten. Sie
waren nie in ein Heft gezeichnet worden, sondern an die Wände einer
Höhle. Die Skizzen des elfjährigen Luc, der, lebendig eingemauert,
Todesängste ausstand und neben dem Leichnam seines Vaters immer
weniger Luft bekam.
Ich näherte mich den Bildern.
Die Motive erinnerten mich an die in den Höhlen von Lascaux und
Cosquer. Das Kind hatte Filzstifte mit abgestumpften Spitzen
benutzt. Rot- und Ockertöne und einige schwarze Linien. Die Farben
der ersten Künstler der Menschheitsgeschichte.
Das Fresko wiederholte die
gleiche Szene. Eine Figur aus wenigen Strichen, eine Art Y. Ein
Kind. Daneben, liegend, eine weitere Figur. Der Vater. Beide von
einer Kuppel überragt, die mit Stalaktiten gespickt war. Die Bilder
stellten immer die gleiche Szene dar: Kind, Vater, Gewölbe.
Das einzige Element, das sich
änderte, war die Form der Stalaktiten, die nach und nach länger
wurden, sich verdrehten und in Klauen verwandelten. Auf den letzten
Zeichnungen tauchte auf der Felswand das Gesicht eines alten Mannes
auf, das weiß und rot unterlegt war. Bevor Luc ins Koma fiel, sah
er also, wie der Fürst der Finsternis ihn entführte …
Eine Stimme hinter mir:
»Hier sind wir gestorben, mein
Vater und ich.«