KAPITEL 97
13 Uhr
Ich schloss mein Kabuff ab. Ich wollte jetzt
einen Punkt erledigen, der mir seit dem Morgen auf den Nägeln
brannte. Ich wählte die Durchwahl des Präfekten Rutherford in der
Vatikanstadt. Trotz des trüben Tags hatte ich in meinem Büro kein
Licht gemacht.
Eine Minute später sprach ich
mit ihm. Er schien nicht bereit, mich mit Kardinal van Dieterling
zu verbinden. Ich musste erst »grundlegende neue Erkenntnisse« ins
Feld führen, ehe er mich an seine Eminenz durchstellte.
»Was wollen Sie,
Mathieu?«
Die raue Stimme des Flamen.
Ohne Umschweife und Höflichkeitsfloskeln kam er zur Sache. Das war
mir recht.
»Ich führe meine Ermittlungen
fort, Eminenz. Ich möchte Euch um eine Auskunft bitten.«
»Sollten nicht zunächst Sie mir
Ihre Erkenntnisse mitteilen?«
Seit meinem Besuch im Vatikan
hatte ich ihm kein Lebenszeichen gegeben. Der Kardinal fuhr
fort:
»Es sei denn, Sie hätten das
Lager gewechselt oder sich mit anderen verbündet.«
Eine durchsichtige Anspielung
auf meinen Aufenthalt in Polen.
»Ich verbünde mich mit
niemandem«, antwortete ich bestimmt. »Ich gehe meinen Weg, das ist
alles. Sobald ich die Wahrheit weiß, werde ich sie allgemein
bekannt machen.«
»Was haben Sie
herausgefunden?«
»Gebt mir noch ein paar
Tage.«
»Weshalb sollte ich Ihnen
nochmals vertrauen?«
»Eminenz, ich möchte Euch
eindringlich darum bitten. Ich stehe vor einer weitreichenden
Entdeckung. Ein neuer Fall eines Lichtlosen steht im Mittelpunkt
meiner Ermittlungen.«
»Sein Name?«
»In ein paar Tagen.«
Der Kardinal gluckste – eine
Art unterdrücktes Kichern.
»Ich vertraue Ihnen, Mathieu.
Ich weiß auch nicht, warum. Was möchten Sie wissen?«
»Habt Ihr Agostina Gedda über
ihre Nahtod-Erfahrung befragt?«
»Selbstverständlich. Meine
Spezialisten führten mehrere Gespräche mit ihr.«
»Hat sie ihnen erzählt, wen sie
am Ende des ›Gangs‹ gesehen hat?«
Ein kurzes Zögern.
»Was wollen Sie wissen? Sagen
Sie es offen heraus.«
»Wie sah der Besucher Agostinas
aus?«
»Sie hat von einem sehr großen,
blassen jungen Mann gesprochen. Laut ihrer Aussage schwebte er in
einem Tunnel, wie ein Engel.« Er wiederholte mit einem Anflug von
Bestürzung: »›Ein Engel‹ – das sind ihre eigenen Worte.«
»Hat sie nicht von einem Greis
gesprochen?«
»Nein.«
»Hat sie keine elektrischen,
leuchtenden Haare erwähnt?«
»Nein. Ist das die Beschreibung
Ihres Lichtlosen?«
Ich wich der Frage aus.
»Sah dieser Engel nicht
schreckenerregend aus? War er nicht unheimlich?«
»Sie meinen, ob es ein Monster
war? Laut Agostina hatte er keine Brauen und trug einen
Mundspreizer, der seine spitzen Zähne, scharfkantig wie
Rasierklingen, freilegte. Ich erinnere mich, dass da noch etwas
anderes war … Er trug einen riesigen künstlichen Phallus aus
Aluminium … Oder eine monströse Penishülle, das konnte sie nicht
genau sagen. Sie sind Agostina begegnet, von daher kennen Sie die
krankhaften Begierden, die sie umtreiben.«
»Ist das alles? Keine weiteren
grauenhaften Details?«
»Genügt Ihnen das nicht? Ihre
Beschreibung war sehr präzise. Das ist schon etwas Neues.«
»Etwas Neues?«
»Erinnern Sie sich: Bis jetzt
konnten die Lichtlosen ihren Dämon nicht beschreiben. Heute sind
ihre Erinnerungen sehr genau. Das gehört zu den Veränderungen, die
stattfinden.«
Wieder seine Theorie von der
Evolution. Die Lichtlosen hatten ein neues Profil, das durch das
Ritual der Säuren und Insekten gekennzeichnet war. Aber auch
präzisere Erinnerungen an ihre Nahtod-Erfahrung. Ich überlegte mit
lauter Stimme:
»Weshalb sehen diese Besessenen
Eurer Meinung nach alle eine andere Teufelsgestalt? Eine Kreatur,
die nichts mit der herkömmlichen Darstellung des Teufels mit
Hörnern und Gabelschwanz gemein hat?«
»›Legion
heiße ich, denn wir sind viele.‹ Satan liebt es,
unterschiedlichste Erscheinungsformen anzunehmen. Aber es ist immer
dieselbe Kraft am Werk.«
»Jeder Lichtlose sieht ein
anderes Wesen, das fast … einen persönlichen Zuschnitt zu haben
scheint.«
»Was meinen Sie damit?«
»Dieser ›Besucher‹ könnte von
einer Gestalt aus ihrer Vergangenheit inspiriert sein. Eine Art
psychisches Konstrukt, das auf ihren Erinnerungen beruht.«
»Daran haben wir auch gedacht.
Wir haben in der Biografie Agostinas danach gesucht. Aber keine
Spur von einem Engel mit bleichem Gesicht. Kein Hinweis auf einen
Mundspreizer oder auf Vampirzähne. Wozu diese Fragen, Mathieu? Sie
sind der Polizist. Es ist Ihre Aufgabe, vor Ort zu
ermitteln.«
»Wir sind mitten drin, Eminenz.
Ihr hört sehr bald von mir.«
Ich suchte in meinen
Aufzeichnungen. Foucault hatte mir die Telefonnummer des
Psychiaters von Raimo Rihiimäki hinterlassen: Juha Valtonen. Der
Mann, der ihn befragt hatte, nachdem er aus dem Koma aufgewacht
war. Ich wählte die zehn Ziffern, die Ländervorwahl eingeschlossen.
Es war eine Handynummer – ich würde den Arzt also erreichen, wo
immer er sich gerade aufhielt.
Der Klingelton hallte nach.
Schneite es in Tallinn? Ich wusste nichts über dieses Land, außer,
dass es die nördlichste der baltischen Republiken war. Ich stellte
mir graue Küsten, schwarze Felsen, ein düsteres, eiskaltes Meer
vor.
»Hallo?«
Ich stellte mich auf Englisch
vor. Der Mann antwortete in der gleichen Sprache. Er hatte bereits
mit Foucault gesprochen. Er war über unsere Ermittlungen im Bilde
und bereit, mir zu helfen. Die Verbindung war kristallklar, wie
gereinigt durch den Seewind. Ohne Umschweife kam ich auf die
Nahtod-Erfahrungen Raimos zu sprechen.
»Er hatte gewisse Erinnerungen
daran«, bestätigte der Psychiater.
»Hat er Ihnen den Besucher
beschrieben?«
»Raimo sprach von einem
Kind.«
»Einem Kind?«
»Na ja, eher einem
Jugendlichen. Eine recht junge, korpulente Person, die im Finstern
schwebte.«
»Hat er Ihnen das Gesicht
beschrieben?«
»Ja, ich erinnere mich. Ein
zerschmettertes oder gehäutetes Gesicht. Raimo sprach von
herabhängenden Lefzen. Das blutverschmierte Gesicht einer Bulldogge
…«
Ein weiteres Gruselbild, das
jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit dem alten Mann von Luc oder
Agostinas Engel hatte. Jeder Lichtlose hatte seinen eigenen
Dämon.
Ich setzte meinen Gedankengang
fort:
»Glauben Sie, dass irgendeine
Bezugsperson das Vorbild für diese Kreatur abgegeben haben
könnte?«
»Inwiefern?«
»Eine Person aus seiner
Vergangenheit, die, entstellt durch die Halluzination, wieder
aufgetaucht ist?«
»Nein, ich habe mich über seine
Lebensgeschichte, sein Umfeld kundig gemacht. Soweit ich weiß, gab
es da niemanden, der dieser Traumgestalt ähnlich sah. Im Übrigen:
Wer könnte sich an einen solchen Albtraum erinnern?«
Meine psychoanalytische Spur
war also eine Sackgasse. Valtonen fuhr fort:
»Haben Sie noch weitere
Erlebnisberichte dieser Art?«
»Ja, einige.«
»Ich würde sie gern lesen.
Liegen sie in englischer Übersetzung vor?«
»Ja, aber wir arbeiten im
Moment unter extremem Zeitdruck. Sobald es etwas ruhiger wird,
schicke ich Ihnen die vollständige Dokumentation.
Versprochen.«
»Danke. Ich habe eine letzte
Frage.«
»Heraus damit.«
»Sind die anderen Zeugen
ebenfalls alle zu Mördern geworden?«
Ich dachte an Luc. Und,
unwillkürlich, an Manon. Ich antwortete in schroffem Ton:
»Nein, nicht alle.«
»Umso besser. Sonst gliche dies
schon einer Epidemie der Mordwut.«
Ich legte auf, nachdem ich mich
nochmals bedankt hatte.
14 Uhr
Es war Zeit, angeln zu gehen.
Zeit, zum Anfang der
Ermittlungen, die meinen eigenen vorangegangen waren,
zurückzukehren und all ihre Kapitel abzuschließen.
Es war Zeit, Luc zu
befragen.