KAPITEL 53
Durchgedrücktes Gaspedal. Meine Panik wuchs,
blockierte meine Sinne, meine Gedanken, meine Reflexe. Zu der
Gefahr, beschossen zu werden, kamen die Risiken einer eisglatten
Straße mit extrem engen Kurven.
Unwillkürlich bremste ich ab.
Das Licht sättigte abermals meine Heckscheibe. Eine Sekunde lang
sagte ich mir, dass ich geträumt hätte – das Pfeifen sei nicht das
einer Kugel gewesen. Ein Fahrer, der sich auf die Straße
konzentrierte, konnte nicht gleichzeitig auf mich schießen. Als
Antwort wurde der Audi von einer weiteren Kugel getroffen, die die
gesamte Karosserie erbeben ließ. Es waren also zwei. Der Fahrer und
ein Schütze. Ein perfektes Gespann für eine Menschenjagd.
Ich trat wieder aufs Gaspedal.
Ein Gedanke beherrschte mich: Ich hatte keine Chance. Ihr Auto
schien mehr PS zu haben. Sie waren zu zweit und bewaffnet. Und ich
war allein – vollkommen allein. Meine Zukunft glich dieser Straße:
Flucht nach vorne ohne Sicht, dem Verderben entgegen.
Ich fuhr jetzt mit eingezogenem
Kopf, die Finger ums Lenkrad gekrallt. Ich suchte in mir, im
Innersten meiner Angst ein paar Funken Hoffnung. Ich sagte mir
immer wieder: »Es ist nichts kaputt … Ich bin nicht verletzt … Ich
…«
Die Heckscheibe
zersplitterte.
Kälte und Licht drangen in den
Fahrgastraum. In der gleichen Sekunde drehten die Reifen durch. Der
Motor heulte auf. Ich machte ein Ausweichmanöver nach links, dann
bekam ich rechts wieder Bodenhaftung. Eine weitere Kugel verlor
sich im Sturm.
Erneutes Gegenlenken, dann noch
einmal, his ich wieder gerade auf der Fahrbahn lag.
Ein Tunnel kam mir zur Hilfe.
Die Tunnelbeleuchtung und die gerade Fahrbahn mischten die Karten
neu. Ich stellte den Rückspiegel ein und behielt meine Feinde im
Auge. Ein BMW. Eine Limousine mit Rauchglasscheiben, deren schwarze
Karosserie glänzte wie die eines lackierten Panzers. Das Blenden
der Scheinwerfer hinderte mich daran, das Kennzeichen zu
entziffern. Auch den Fahrer konnte ich nicht sehen, aber der
maskierte Beifahrer hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt: Er
hielt ein Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer in
der Hand.
Das reine Bild meines Todes.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich ganz überwältigt von seiner
Schönheit: die Lampen, die auf dem glänzenden Karosserieblech
dahinrasten, die Scheinwerfer, die unter dem Gewölbebogen rosa
schillerten, der Mörder mit der Waffe im Anschlag … Eine perfekte
Kampfmaschine, glatt, präzise, makellos.
Diesmal drückte ich das
Gaspedal ganz durch.
Audi gegen BMW – ein
Duell.
Ich verschlang den Asphalt, den
Beton und die Lichter. Die Lampen rasten mit hypnotischer
Schnelligkeit an mir vorbei. Dennoch sah ich im Rückspiegel, dass
der BMW näher herankam. Wenn ich zurückschlagen wollte, musste ich
es jetzt tun. Ich riss den Klettverschluss meines Holsters auf und
zückte meine Waffe.
Ich drehte mich um und legte
meine 9-mm-Para an. Ich bremste ab. Der Kühlergrill kam näher. Ich
schrie und drückte auf den Abzug. Durch die Wucht des Rückstoßes
wäre mir die Pistole beinahe aus der Hand gefallen, aber ich sah
aus den Augenwinkeln, wie der BMW quietschend eine Vollbremsung
hinlegte und mit dem Heck wegrutschte. Fast ein Sieg.
Der Himmel, der Schnee, dann
ein weiterer Tunnel in Sicht.
Das Modell mit Säulen an einer
Bergflanke.
Plötzlich kam mir eine Idee:
Ich wartete den letzten Moment vor der Einfahrt ab, schlug dann
rechts ein und erwischte die Baustellenzufahrt, die an der Flanke
der Felswand hinaufführte. Der Wagen prallte auf dem Kies auf, und
schon war ich auf dem Dach des Tunnels. Die Limousine war in dem
finsteren Schlund hinter mir verschwunden. Ein Aufschub. Von kurzer
Dauer. Das Auto würde einfach an der Ausfahrt auf mich warten
…
In diesem Moment war ich
versucht, alles hinzuschmeißen und zu Fuß zu flüchten. Aber wo
sollte ich hin? Mitten im Gebirge herumirren? Meine Verfolger waren
vermutlich mit Infrarotsensoren ausgerüstet. Die Menschenjagd würde
noch mehr zu einer Treibjagd.
Ich schaltete in den ersten
Gang, löschte die Scheinwerfer und fuhr im Schritttempo. So
holperte ich über den Kiesweg, nach einer rettenden Idee, einem
Ausweg suchend. Das Schneetreiben wurde immer stärker, und die
Ränder der Fahrbahn verloren sich in der Finsternis.
Schließlich fiel die Piste
wieder ab und mündete in die Straße ein. Ich hatte keine Lösung
gefunden. Aber die Stille in der Umgebung gab mir einen Funken
Hoffnung. Ich blieb am Rand der Fahrbahn stehen und lauerte: Nicht
das leiseste Motorgeräusch, keine Spur von Scheinwerfern. Noch
immer der erste Gang, dann ließ ich den Wagen langsam, ganz langsam
auf die Straße rollen. Kein Auto. Hatten sie die Verfolgung
aufgegeben? Waren sie geradeaus weitergefahren und hatten ihren
Plan, mich auszuschalten, fallengelassen?
Ich betätigte den Schalthebel,
als alles weiß wurde. Die Xenon-Scheinwerfer. Weder hinter mir noch
vor mir. Über mir! Ich kauerte mich auf meinem Sitz nieder und
verstellte den Rückspiegel, die Scheinwerfer im Rahmen suchend. Die
Männer hatten sich auf dem Dach des Tunnels postiert.
Ich stellte mir vor, was
geschehen war. Im Innern des Tunnels hatten sie eine weitere
Zufahrt zur Baustellenpiste gefunden. Sie waren mir mit
ausgeschalteten Scheinwerfern bis ans Ende der Piste gefolgt. Dann
hatten sie sich auf dem Vorsprung – in Schussposition – auf die
Lauer gelegt.
Ein Kugelhagel brach über mich
herein. Die Windschutzscheihe zersplitterte, die Fenster
explodierten, während ich beim Anfahren ins Schleudern geriet.
Meine Reifen bohrten sich in den Asphalt. Im Rückspiegel geschah
das Unmögliche: Die beiden Scheinwerfer flogen wie zwei Feuerkugeln
durch die Nacht. Die Mörder waren direkt auf den Abgrund zugerast.
Ihr Fahrgestell prallte in einer Wolke aus Schnee und Funken auf
dem Boden auf und machte dann einen Satz nach vorn. Ich trat das
Gaspedal durch und schaltete meine Scheinwerfer wieder an. Die
Verfolgungsjagd ging weiter.
Verkümmerte Tannen, Felswände,
Schneewehen. Der Sturm ließ nach. Man konnte wieder etwas sehen.
Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln. Ich hatte keine. Nichts
außer der Flucht zur Grenze und ihren Zöllnern. Wie viele Kilometer
musste ich noch durchhalten? Dreißig? Fünfzig? Siebzig?
Erneuter Blick in den
Rückspiegel. Die beiden weißen Augen waren noch immer da. Im
unregelmäßigen Rhythmus der Kurven leuchteten sie immer wieder auf.
Plötzlich eine Haarnadelkurve. Ich bremste. Zu spät. Die Räder
blockierten, aber der Audi raste in seinem Schwung dahin. Ich
steuerte noch gegen, doch das Vorderteil wurde schon
fortgerissen.
Das Schlittern auf der glatten
Fahrbahn, der brutale, gedämpfte Aufprall auf der Schneewehe – und
der Motor, der abstarb. Dann die Stille. Mir blieb die Luft weg,
das Lenkrad hatte mir den Brustkorb gequetscht. Benommen tastete
ich nach dem Zündschlüssel. Der Motor stotterte und sprang dann an.
Im Rückwärtsgang befreite ich mich aus dem Schneehaufen und
steuerte zurück auf die Fahrbahn.
Ungeachtet des Missgeschicks
hatten mich meine Verfolger nicht eingeholt. Ein Funken Hoffnung,
der sogleich durch ein Versagen unter meinen Füßen wieder gelöscht
wurde. Das Gaspedal reagierte nicht mehr. Ein Blick auf das
Armaturenbrett. Der Anzeiger für die Wassertemperatur stand im
roten Bereich.
Ich blickte hinter mich: Die
Xenon-Scheinwerfer waren nur noch eine Kurve entfernt. Ich drückte
das Pedal voller Wut durch. Nichts, keine Reaktion. Ich schlug
gegen das Lenkrad, schrie. Bei der Kollision musste sich Schnee
unter dem Kühlergrill angehäuft und das Lüftungsgitter verstopft
haben. Mein Wagen war überhitzt. Aus der Motorhaube drang Rauch.
Diesmal war es aus und vorbei.
In diesem Moment ein Schild:
Simplon Dorf. Ohne zu überlegen, löschte ich die Scheinwerfer und
ließ den Wagen in diese Abfahrt rollen, just in dem Moment, als der
BMW hinter mir auftauchte. Die Killer entdeckten mich erst, als sie
bereits an der Ausfahrt vorbei waren. Zu spät. Hinter mir hörte ich
ihr Bremsmanöver. Selbst im Leerlauf hatte ich einige Sekunden
gewonnen.
Ein freier Platz, vollgestopft
mit Baggern, Bulldozern und Baumaterialien – das Lenkrad leicht
einschlagend, nahm ich diese Richtung, noch immer im
Leerlauf.
Ich erblickte, direkt vor mir,
einen verschneiten Stapel Bretter. Ich schloss die Augen und ließ
den Wagen laufen. Aufprall. Echo des Aufpralls in meinem Körper.
Mit einem Schulterstoß öffnete ich die Fahrertür, hustete und warf
mich dann hinaus.
Als Erstes spürte ich die Kälte
des Bodens. Ich richtete mich auf einem Knie auf und versteckte
mich hinter einem Haufen Leichtbausteine. Wieder etwas Zeit
gewonnen. Ich gewahrte die Nacht und die Stille. Es schneite nicht
mehr; die Temperatur war weit unter den Gefrierpunkt
abgesunken.
Das Schlagen von
Autotüren.
Ich wagte einen Blick. Niemand.
Durch die Wälder fliehen? Im Dorf Zuflucht suchen? Wie groß wären
meine Chancen, jemanden zu wecken, bevor sie mich aufspürten? Angst
überfiel mich. Ich begann zu zittern. Weiße Kristalle bildeten sich
an Wimpern und Haaren. Ich erfror an Ort und Stelle. Ich tastete
meine Taschen ab, fand darin ein Paar Latexhandschuhe und zog sie
mir ungeschickt über.
Erinnerungen tauchten in meinem
Kopf auf, Erinnerungen, die sich auf den Prozess des Erfrierens
bezogen. Missionare des Hohen Nordens, der Oblaten, die ich im
Priesterseminar in Rom kennengelernt hatte, hatten mir häufig davon
erzählt. Zunächst zitterte man – das war ein gutes Zeichen, denn
der Körper reagierte, versuchte sich zu wärmen. Dann konnte der
Körper nicht länger gegen die Kälte kämpfen. Jetzt sank die
Körpertemperatur alle drei Minuten um ein Grad. Das Zittern hörte
auf. Der Herzschlag verlangsamte sich, und die Haut und die
äußersten Enden der Gliedmaßen wurden nicht mehr mit Blut versorgt.
Der weiße Tod war da. Wenn die Körpertemperatur um elf Grad
gesunken war, hörte das Herz auf zu schlagen, das Koma trat
allerdings schon vorher ein.
Wie viel Zeit blieb mir
noch?
Ich blickte mich wieder um.
Diesmal sah ich sie. Sie stapften vorsichtig durch den Schnee,
Gewehre im Anschlag. Kristalline Wolken entwichen ihrem Mund. Einer
von ihnen stieß sich an der Ecke eines Bulldozers. Er schien nicht
zu reagieren, wie betäubt von der Kälte. Auch ihnen setzte die
mörderische Kälte zu. Wir saßen alle drei in der gleichen Falle.
Gefangene der Nacht und bald versteinert wie Statuen.
Ich musste mich bewegen.
Irgendetwas tun, um mich zu wärmen. Ich schaukelte mit dem
Oberkörper vor und zurück. Dann ließ ich mich leise mit den
Ellbogen in den Schnee fallen. Zu den Kiefern robben, um mich
wenigstens vor dem Wind zu schützen. Schritte, ganz nah. Ich drehte
mich um, mit dem Rücken zum Boden, und versuchte nach meiner
Automatik zu greifen. Ich musste den Griff mit beiden Händen
umklammern, weil meine Finger nicht mehr reagierten.
Plötzlich das granatfarbene
Schillern eines Visiers. Ich hob den Kopf: Da stand der Killer,
eine Waffe in der Hand. Aus seiner Maske stieg kondensierter Atem
auf, der ihn mit einem bläulichen Lichtschein umgab.
Ich schloss die Augen und tat
das, was jeder Menschen in einer solchen Lage täte, ob gläubig oder
nicht: Ich betete. Ich erflehte, aus ganzem Herzen, den Beistand
Gottes.
Eine Stimme ertönte:
»Wer da?«
Ich drehte den Kopf. Da sah ich
mit Tränen in den Augen Taschenlampen und silberne Tressen. Eine
Patrouille Schweizer Grenzer! Ich sah wieder vor mich: Der Killer
war verschwunden.
Ich hörte dumpfe, schnelle
Schritte, die sich entfernten. Rufe auf Deutsch. Motorengeräusch.
Die Verfolgung begann aufs Neue – aber diesmal mit den Jägern in
der Rolle der Gejagten. Die Grenzer hatten meinen Wagen unter den
Brettern nicht entdeckt.
Es gelang mir, meine Automatik
in meine Tasche zu stecken und mich auf den Bauch zu drehen. Ich
stützte mich mit den Ellbogen im Schnee ab und robbte mit
gefühllosen Beinen zu meinem Auto. Ich spürte weder meinen Körper
noch die Kälte. Endlich die Wagentür. Den Rücken im Türrahmen zog
ich mich hoch wie ein Gelähmter, der keine Gewalt mehr über seine
unteren Gliedmaßen hat. Nachdem ich es in den Sitz geschafft hatte,
tastete ich den Raum unter dem Lenkrad nach dem Zündschlüssel ab.
Mit zwei Händen drehte ich ihn und erlebte ein weiteres Wunder: das
Dröhnen des Motors. Die Wucht des Aufpralls musste den Kühlergrill
von dem Eis befreit haben.
Die Heizung kam wieder in Gang.
Mit dem Ellbogen drehte ich die Lüftung voll auf. Über die
Luftschlitze gebeugt, die beiden Fäuste ausgestreckt, wartete ich
auf die Wärme, die das Blut unter meiner Haut wecken sollte. Nach
und nach gewahrte ich die Stille um mich herum. Der menschenleere
Wald. Und die zweifellos nur wenige Kilometer entfernte
Grenze.
Als ich endlich die Finger und
die Füße bewegen konnte, legte ich den Rückwärtsgang ein und
befreite mich aus dem Holzhaufen. Bald würden weitere Patrouillen
eintreffen. Ich wendete, schaltete in den Ersten und verließ die
Baustelle.
Einige Minuten später war ich
unterwegs Richtung Italien. Mein Motor funktionierte noch. Und ich
war am Leben und unversehrt!
In Wirklichkeit in einer
Sackgasse.
Mit einem Auto in diesem
Zustand käme ich nie über die Grenze …
Ich fuhr durch eine Ortschaft
namens Gondo und entdeckte einen Weg, der schräg abwärts führte –
zweifellos zu einem Fluss oder einem Gehölz. Ich tauchte in den
Schutz der Tannen ein und spürte, wie der Wind nachließ.
Ich hielt an, ließ den Motor
laufen und drehte die Heizung voll auf. Unbeholfen stieg ich aus
und holte die Reisetasche aus dem Kofferraum. Ich zog meinen
Trenchcoat aus, streifte zwei Pullover und einen Blouson über und
schlüpfte dann wieder in den Regenmantel. Eine Mütze, echte
Handschuhe und mehrere Paar Socken. Ich legte mich quer über die
Vordersitze, ganz nah an die Heizungsschlitze, die einen warmen
Luftstrom ausstießen, der nach Motoröl roch.
Als ich wieder aufgewärmt war,
fand ich in meiner Hosentasche mein Handy und wählte die Nummer von
Giovanni Callacciura. Ich hinterließ auf seiner Mailbox eine
Nachricht auf Italienisch:
»Sobald du diese Nachricht
abhörst, ruf mich an. Es ist dringend!«
Dann kuschelte ich mich auf den
Sitzen vor dem warmen Luftzug. Mein Kopf war leer. Ich spürte nur
noch, wie die Lebenskraft in meinen Adern pulsierte. Ich drückte
mein Handy wie ein winziges Kopfkissen an mich und schlief
ein.