KAPITEL 45
Das Klingeln des Telefons elektrisierte mich. Ich
schreckte aus dem Schlaf hoch.
»Foucault. Hast du etwas zu
schreiben?«
Ich sah auf die Uhr. Es war
14.10 Uhr. Er hatte für die Fahrt in die Zentrale weniger als
zwanzig Minuten gebraucht. Nicht schlecht.
»Schreibst du?«
»Leg los.«
»Der Kerl heißt Ali Azoun. Er
lebt jetzt in Lyon. Ich warne dich: Mit dem ist nicht gut Kirschen
essen.«
Ich kritzelte Anschrift und
Telefonnummer des Psychiaters hin und bedankte mich bei Foucault,
der seinerseits flüsterte:
»Ich bleibe im Büro. Jetzt ist
es sowieso schon egal. Ich werd den Nachmittag im Archiv verbringen
auf der Suche nach einem Fall, der, sei es auch nur vage,
Übereinstimmungen mit deinem Mord aufweist. Man weiß ja nie. Ich
ruf dich an.«
Ich war erleichtert. Die
Ermittlungen schweißten uns wieder zusammen. Mit Mühe stand ich auf
und kehrte in den Schutz des Gebäudes zurück. Ich wählte die Nummer
des Psychiaters. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, kam ich ohne
Umschweife auf den Grund meines Anrufs zu sprechen:
»Es geht um Thomas
Longhini.«
»Schon wieder? Man hat mich
erst gestern wegen dieser Geschichte angerufen.«
»Das war mein Stellvertreter.
Ich brauchte noch ein paar genauere Auskünfte.«
Nach einem angespannten
Schweigen meinte er:
»Am Telefon beantworte ich
keine Fragen. Vor allem, solange ich keine amtliche Vollmacht
gesehen habe. Ihr Kollege kam mir schon sehr zurückhaltend vor. Im
Übrigen ist die Gendarmerie umfassend über diesen Fall informiert.
Sie müssen lediglich …«
»Es gibt neue Hinweise.«
»Was für Hinweise?«
»Thomas Longhini könnte etwas
mit beiden Morden zu tun haben – mit dem an Manon und dem an ihrer
Mutter, Sylvie Simonis.«
»Lächerlich. Thomas kann gar
nicht in einen Mord verwickelt sein.«
Die Erwähnung des Mordes an
Sylvie schien Azoun nicht zu überraschen. Vermutlich hatten die
Gendarmen ihn schon ins Bild gesetzt. Ich fuhr fort:
»Deshalb rufe ich Sie an: Um
Ihre Meinung zu der Frage zu hören, ob er als Täter in Frage kommen
könnte.«
Der Spezialist schwieg
abermals, bevor er in konzilianterem Ton erklärte:
»Hat das nicht Zeit bis Montag?
Sie schicken mir ein Fax und …«
»Ich rufe nicht an, um mit
Ihnen ein Plauderstündchen zu halten. Es handelt sich um
kriminalpolizeiliche Ermittlungen. Es eilt.«
Diesmal ermunterte mich sein
Schweigen.
»Wie lautet der neue Name von
Thomas Longhini?«, hob ich an.
»Er ist der Gendarmerie
bekannt. Hat man Ihnen den Namen denn nicht gesagt? Ich habe ihn
nicht erfahren.«
»Weshalb halten Sie es für
absurd, dass Thomas der Täter sein könnte?«
»Thomas ist kein Mörder. Das
ist alles.«
»Er war Verdächtiger im
Mordfall Manon.«
»Wegen des blödsinnigen
Übereifers Ihrer Kollegen! Der arme Junge wurde von den Polizisten
massiv unter Druck gesetzt.«
»Erzählen Sie mir von seiner
Traumatisierung, seinen Reaktionen.«
»So kriegen Sie mich nicht,
Commandant. Faxen Sie mir morgen ein amtliches Dokument, aus dem
hervorgeht, dass Sie von einem Richter mit diesem Fall betraut
wurden, dann reden wir weiter.«
»Ich möchte nur einen Tag
gewinnen. Falls es eine falsche Fährte ist, ist es besser, sie
sofort fallen zu lassen.«
»Vollkommen falsch. Und vor
allem sollten Sie ihn nicht noch einmal belästigen. Er hat genug
durchgemacht.«
Hinter der scheinbaren
Unbeugsamkeit spürte ich eine gewisse Nachgiebigkeit. Ich gab mich
einfühlsam:
»Nahm es ihn wirklich so
mit?«
Azoun seufzte und ließ sich
erweichen:
»Er hatte eine verzerrte
Realitätswahrnehmung, wie sie typisch für die Pubertät ist. Das
habe ich in meinem Gutachten auch so dargestellt. Ich habe ihn den
ganzen Sommer hindurch behandelt.«
Ich stutzte. Thomas Longhini
war im Januar 1989 in Verdacht geraten.
»Sommer 1989?«
»Nein, Sommer 1988!«
»Manon Simonis wurde am 12.
November 1988 umgebracht.«
»Ich verstehe nicht. Kennen Sie
die Hintergründe des Falls denn nicht?«
»Erklären Sie es mir.«
»Ich habe Thomas vor dem Mord behandelt. Seine Eltern haben mich im
Mai 1988 aufgesucht. Dann, zu Beginn des folgenden Jahres, wurde
ich von der Kripo Besançon befragt. Weil ich Thomas gut kannte. Ich
habe übrigens zu seinen Gunsten ausgesagt.«
Foucault hatte die Daten
durcheinandergebracht. Nachdem ein Psychiater in dem Fall
aufgetaucht war, hatte er daraus gefolgert, dieser sei als Experte
hinzugezogen worden, oder um den traumatisierten Jungen zu
therapieren. Aber Ali Azoun hatte Thomas ein Jahr vor der Tat behandelt!
Ich räusperte mich und bewahrte
einen kühlen Kopf:
»Was für ein Problem hatte er
damals?«
»Seine Eltern machten sich
Sorgen. Der Junge erzählte völlig verrückte Sachen. Das heißt
Sachen, die sie für verrückt hielten.«
»Zum Beispiel?«
»Er sprach vor allem von einem
Teufel.«
Ich blickte nach oben. Das
Gebirge schien zu beben.
»Etwas genauer bitte!«
»Er sagte, Manon Simonis – die
für ihn wie eine kleine Schwester war – sei in Gefahr. Ein Teufel
bedrohe sie.«
»Wer war dieser Teufel? Wie sah
er aus?«
»Thomas wusste es nicht und
wollte, dass ich mit ihr rede. Er hoffte, dass sie mir gegenüber
offener wäre.«
»Wieso ausgerechnet Sie?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht
weil ich ein Erwachsener, ein Arzt bin.«
»Haben Sie seine Mutter
kontaktiert?«
»Nein. Thomas behauptete, ihre
Mutter habe etwas mit dieser Drohung zu tun.«
Ich spürte ein Kribbeln im
Nacken.
»Wollen Sie damit sagen, dass
diese Bedrohung von ihr ausging?«
»So eindeutig war es
nicht.«
»Was haben Sie gemacht? Haben
Sie die Kleine zu sich bestellt?«
»Nein. Ich hatte damals nur
einen psychisch auffälligen Jugendlichen vor mir. In diesem Alter
redet man gern über den Teufel. Außerdem war sein Verhältnis zu der
fünf Jahre jüngeren Manon nicht klar. In meinen Sitzungen ging es
vor allem um dieses Problem. Es geht immer darum, seine Sexualität
in den Griff zu bekommen, verstehen Sie?«
»Und dabei haben Sie es
bewenden lassen?«
»Hören Sie. Im Nachhinein ist
es immer leicht, die Psychiater zu kritisieren. Jedes Mal, wenn ein
Straftäter rückfällig wird, überhäuft man uns mit Beschimpfungen
und Vorwürfen. Wir sind keine Hellseher!«
Madame Bohn hatte mir das
Gleiche gesagt. Diese Erwachsenen wollten nicht zugeben, dass sich
die »imaginären« Befürchtungen der beiden Kinder bewahrheiten konnten. Azoun fuhr leiser fort:
»Im Nachhinein glaube ich, dass
Manon tatsächlich bedroht wurde. Aber sie hat diese Bedrohung durch
einen Erwachsenen nicht akzeptieren können. Aus diesem Grund sprach
sie von einem ›Teufel‹. Sie erfand einen bösen Geist.«
»Weshalb soll sie die Bedrohung
durch diese Person verleugnet haben?«
»Vielleicht weil sie dieser
Person gefühlsmäßig sehr nahe stand. Sie geriet in eine seelische
Konfliktsituation. Das ist zum Beispiel bei Pädophilie sehr
häufig.«
»Glauben Sie, dass Manon von
ihrer Mutter bedroht wurde?«
»Von ihrer Mutter oder einer
anderen ihr nahestehenden Person.«
»Hat Thomas keinen Namen
genannt? Irgendein Indiz durchsickern lassen?«
»Nie. Er sprach von einem
›Teufel‹, einem ›Dämon‹.«
»Haben Sie Thomas später
wiedergesehen? Ich meine: nach seiner Festnahme?«
»Ja, gleich nach seiner
Freilassung. Seine Eltern wollten, dass ich ihrem Sohn in dieser
schwierigen Situation beistehe. Sie selbst waren völlig mit den
Nerven am Ende.«
»Hat sich Thomas wieder
gefangen?«
»Meiner Meinung nach war er
robuster, als man glaubte. Für ihn war das eigentliche Trauma nicht
die Anklage, sondern der Tod von Manon. Und dass ihm niemand hatte
glauben wollen, als er uns vor der Gefahr gewarnt hatte. Er hat es
allen übel genommen und sagte mehrmals, dass er zurückkommen werde,
um Manon zu rächen.«
Meine Liste der Personen, die
Manons Tod rächen wollten, wurde immer länger: Sylvie Simonis, die
vierzehn Jahre lang auf eigene Faust Nachforschungen angestellt
hatte. Patrick Cazeviel, der »nicht sein letztes Wort gesprochen
hatte«. Und jetzt Thomas Longhini, der geschworen hatte, nach
Sartuis zurückzukehren.
»Die Eltern sind von hier
fortgezogen«, sagte Azoun zum Schluss. »Ich habe Thomas nicht mehr
wiedergesehen. Aber ich glaube, wie gesagt, dass er damit
klargekommen ist. Damit genug. Ich habe schon zu viel
gesagt.«
Ich hörte das Freizeichen. Ich
steckte mein Handy in meine Tasche und erwog den Verdacht, der in
dem Gespräch aufgetaucht war: Dass Sylvie Simonis in die Ermordung
ihres Kindes verwickelt sein sollte. Nein, die Annahme, dass sie
mithilfe eines Privatdetektivs auf eigene Faust Nachforschungen
angestellt hatte, erschien mir weitaus plausibler.
Und dass ein und derselbe Täter
beide Morde begangen hatte.
Ich ging zurück zu meinem Audi.
15 Uhr, und das Tageslicht wurde schon schwächer. Die Familien
räumten die Rasenflächen. Die Frist, die mir meine Chefin gewährt
hatte, lief ab, und ich hatte nichts gefunden. Als ich die Autotür
öffnete, überlegte ich, ob ich zur Gendarmerie fahren und versuchen
sollte, eine Art Waffenstillstand mit Sarrazin zu schließen. Es war
die einzige Lösung, um in der Stadt bleiben zu können.
Eine Hand legte sich auf meine
Schulter. Ich legte mir ein dem Anlass entsprechendes Lächeln
zurecht, da ich damit rechnete, dem stinksauren Gendarm ins Gesicht
zu blicken. Aber er war es nicht, sondern einer der Camper der Cité
in einem billigen Trainingsanzug.
»Sind Sie der Reporta?«
Ich verstand die Frage
nicht.
»Der Reporta: Pater Mariotte
hat mir von ’nem Djurnalisten erzählt.«
»Das bin ich«, sagte ich
schließlich. »Aber ich habe jetzt nicht viel Zeit.«
Der Mann warf einen Blick über
seine Schulter, als oh irgendwo lauschende Ohren lauern
könnten.
»Da ist was, was Sie vielleicht
interessiert.«
»Ich höre.«
»Meine Frau putzt im
Krankenhaus.«
»Na und?«
»Diese Woche ist jemand
reingekommen. Ein Mann, den sollten Se mal besuchen …«
»Wer?«
»Jean-Pierre Lamberton.«
Es durchzuckte mich kalt. Der
Commandant, der die Ermittlungen im Mordfall Manon Simonis geleitet
hatte. Chopard hatte mir gesagt, dass er im Klinikum Jean-Minjoz im
Sterben liege.
»Ist er nicht in
Besançon?«
»Er wollte nach Sartuis zurück.
Nach dem, was meine Frau gehört hat, geht es wohl bald mit ihm zu
Ende …«
»Danke.«
Der Mann sagte noch etwas, aber
das Zuschlagen der Autotür übertönte seine Worte.
Ich drehte den Zündschlüssel um
und fuhr Richtung Stadtzentrum.