KAPITEL 3
Zentrale der Pariser Kriminalpolizei, Quai des
Orfèvres Nr. 36. Lange Flure. Dunkelgrauer Boden. Stromkabel, die
an der Decke kleben. Büros mit schrägen Wänden. Ich nahm diese
Räume schon gar nicht mehr bewusst wahr und bewegte mich darin wie
ein Fisch im Wasser. Selbst der Geruch von Tabak oder Schweiß hätte
meine Aufmerksamkeit nicht mehr wecken können.
Allerdings hatte ich ein leicht
unangenehmes Gefühl von Nässe, das mich nicht mehr verließ, als
bewegte ich mich in einem lebenden Organismus, der im Begriff war,
sich aufzulösen. Das war natürlich nur eine Halluzination, die mit
meinem Aufenthalt in Afrika zusammenhing. Meine Wahrnehmung hatte
sich dort auf seltsame Weise verändert; feste Gegenstände
erschienen mir als feuchte Lebewesen.
Durch die einen Spalt weit
offen stehenden Türen schnappte ich unmissverständliche Blicke auf
– alle wussten Bescheid. Ich ging schneller, um nicht Fragen nach
dem Befinden Lucs beantworten oder Banalitäten über die
Verzweiflung, in die uns unser Beruf trieb, austauschen zu müssen.
Ich nahm die Post, die sich in meinem Fach angehäuft hatte, heraus
und zog die Tür zu meinem Büro hinter mir zu.
Diese Blicke gaben mir einen
Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde. Jeder würde sich nach
dem Motiv von Lucs Tat fragen. Eine Untersuchung würde eingeleitet
werden. Die Jungs von der Abteilung Interne Ermittlungen würden
sich einschalten. Zwar würde die Hypothese einer Depression
vorrangig verfolgt, aber die Typen von der Internen Ermittlung
würden in Lucs Vergangenheit herumschnüffeln. Überprüfen, ob er
vielleicht spielsüchtig oder verschuldet war, ob er vielleicht
krumme Geschäfte mit seinen Spitzeln ausgeheckt und sich strafbar
gemacht hatte. Routineermittlungen, bei denen bestimmt nichts
herauskam, die jedoch alles in den Schmutz ziehen würden.
Übelkeit, Lust zu schlafen. Ich
zog meinen Trenchcoat aus, behielt aber trotz der Hitze mein Sakko
an. Das vertraute Gefühl des Seidenfutters beruhigte mich. Eine
zweite Haut. Nachdem ich mich auf meinen Stuhl gesetzt hatte,
betrachtete ich meine dritte Haut: mein Büro. Fünf Quadratmeter
ohne Fenster, wo sich die Akten fast bis an die Decke
stapelten.
Ich warf einen Blick auf den
Stoß von Schriftstücken, die ich im Vorbeigehen mitgenommen hatte.
Vernehmungs- und Festnahmeprotokolle, Telefonrechnungen,
Kontoauszüge von Verdächtigen, Beschlagnahmeverfügungen, die mir
endlich von den Richtern bewilligt wurden. Und außerdem: die
kriminalpolizeiliche Presseschau, die morgens und abends herauskam
und vom Innenministerium erstellt wurde, sowie Fernschreiben, die
die wichtigsten Kriminalfälle im Großraum Paris zusammenfassten.
Das übliche Schlammbad. Und alles von meinen Stellvertretern mit
Haftnotizen beklebt, auf denen sie die Erfolge und Misserfolge des
Tages verzeichnet hatten.
Starker Widerwille. Nicht
einmal meine Nachrichten wollte ich abhören. Stattdessen rief ich
die Gendarmerie von Nogent-le-Rotrou an, der Stadt, die Vernay am
nächsten lag, und verlangte, mit dem Capitaine zu sprechen, der die
Rettungsmaßnahmen bei der Bergung Lucs geleitet hatte. Der Mann
bestätigte Svendsens Angaben. Der mit Ballast beschwerte Körper,
die Einlieferung in der Notaufnahme, die Reanimation.
Ich legte auf, tastete meine
Sakkotaschen ab, fand meine Zigaretten. Ich zog eine heraus, nahm
mein Feuerzeug und genoss, während ich nachdachte, das Ritual in
allen Einzelheiten. Das behagliche Rascheln der Schachtel; der
orientalische Duft, der ihr entströmte, vermischt mit dem
Benzingeruch des Zippo; die Tabakkrümel, die an meinen Fingern
klebten, und schließlich der heiße Rauch, den ich tief einsog
…
18 Uhr. Ich begann endlich
damit, die Dokumente zu entziffern. Die Haftnotizen. Erste Zeichen
der Solidarität: »Mit Dir. Franck«, »Noch ist nicht alles verloren.
Gilles«, »Jetzt gilt es, ruhiges Blut zu bewahren! Philippe«. Ich
löste die Zettel ab und legte sie beiseite.
Dann erst stürzte ich mich in
die Arbeit und machte eine Bestandsaufnahme der positiven und
negativen Punkte des Tages. Foucault informierte mich, dass die
Kriminalpolizeidirektion von Louis Blanc uns die Akte über eine mit
Schnitten übersäte Leiche nicht herausgeben wollte, die in der Nähe
der Métro-Station Stalingrad gefunden worden war. Dieser Mord
konnte etwas mit einer Abrechnung unter Dealern in La Villette zu
tun haben, in der wir seit einem Monat ermittelten. Die Weigerung
erstaunte mich nicht weiter. Es ging immer um die alte Rivalität
zwischen Kriminalpolizeidirektion und Mordkommission. Jeder für
sich, und die Leichen werden eifersüchtig gehütet.
Die folgende Nachricht war
konstruktiver. Vor fünfzehn Tagen hatte mich ein Kollege aus meinem
Jahrgang, der bei der Kriminalpolizeidirektion Cergy-Pontoise
arbeitete, in einem Mordfall um Rat gefragt: Eine
neunundfünfzigjährige Kosmetikerin war ermordet auf ihrem Parkplatz
aufgefunden worden. Sechzehn Schnitte mit einem Rasiermesser. Kein
Raubüberfall, keine Vergewaltigung. Kein Zeuge. Die Ermittler
tippten zunächst auf ein Verbrechen aus Leidenschaft, dann auf
einen perversen, psychopathischen Täter – aber beide Ansätze
verliefen im Sand.
Als ich die Fotos der Leiche
betrachtete, fielen mir mehrere Details auf. Die Angriffswinkel des
Rasiermessers verrieten, dass der Mörder die gleiche Größe hatte
wie sein Opfer, das eher klein war. Die Waffe war ungewöhnlich: ein
kurzer, altmodischer Säbel, den man nur noch in Trödelläden fand
und der auch von einer Frau benutzt worden sein könnte. Bei
Abrechnungen zwischen Prostituierten beispielsweise kam diese Waffe
zum Einsatz – eine Waffe, die die Gegnerin entstellte –, wohingegen
Männer eher Messer einsetzten und dem anderen Stichverletzungen im
Bauchraum zuzufügen versuchten.
Vor allem aber konzentrierten
sich die Verletzungen aufs Gesicht, die Brust und den Unterleib.
Der Mörder hatte sich die Körperregionen ausgesucht, in denen sich
das Geschlecht des Opfers ausdrückte. Er hatte vornehmlich auf das
Gesicht gezielt und auf die Nase, die Lippen und die Augen
eingestochen. Durch die Entstellung des Opfers wollte sich der
Mörder oder die Mörderin womöglich selbst treffen, indem er sein
Spiegelbild zerstörte. Auch das Fehlen von Abwehrverletzungen, die
durch Kampf- und Schutzbewegungen hervorgerufen werden, war mir
aufgefallen: Die Kosmetikerin hegte keinen Argwohn. Sie kannte den
Angreifer. Ich hatte meinen Kollegen von der KPD Cergy gefragt, ob
die Tote eine Tochter oder Schwester habe. Mein Jahrgangskumpel
hatte mir versprochen, die Angehörigen erneut zu vernehmen. Auf der
Haftnotiz stand lediglich: »Die Tochter hat gestanden!«
Ich legte die Telefonrechnungen
und die Kontoauszüge beiseite, weil ich zu zerstreut war, um sie
gründlich auszuwerten. Ich wandte mich einem anderen Aktenbündel
zu, das frisch gedruckt worden war: eine Tatbestandsaufnahme von
einem Tatort, den ich am Vortag verpasst hatte. Der dritte Mann in
meiner Gruppe, Meyer, war der Pedant des Teams, sein
»Schriftsteller«. Als studierter Philologe verwandte er große
Sorgfalt auf die Abfassung dieser Protokolle – und verstand es, die
Tatorte von Morden plastisch zu schildern.
Ich war sofort in der
Geschichte drin. Le Perreux vor zwei Tagen. Um die Mittagszeit
hatten ein oder mehrere Angreifer ein Schmuckgeschäft überfallen,
bevor die Geschäftsführerin Alarm auslösen konnte. Sie hatten die
Kasse, den Schmuck – und die Frau – mitgenommen. Am nächsten Morgen
war die Juwelierin tot in einem Waldstück am Ufer der Marne
aufgefunden worden, zur Hälfte mit Erde bedeckt. Meyer beschrieb
den Fundort der Leiche, den Humus und das Laub. Und die Schuhe, die
im rechten Winkel zum aufgeschütteten Grab standen. Was hatte das
mit den Schuhen zu bedeuten?
In meinem Gedächtnis nahm eine
Erinnerung Gestalt an. Während meiner »humanitären« Phase, bevor
ich Afrika bereiste, war ich in den nördlichen Pariser Vororten in
einem Bus herumgefahren und hatte Lebensmittel, Kleidung und
Medikamente an obdachlose Familien verteilt, die unter den Brücken
des Boulevard Périphérique hausten. Bei dieser Gelegenheit hatte
ich mich mit der Kultur der Roma beschäftigt. Hinter ihrem
heruntergekommenen, verwahrlosten Äußeren verbarg sich eine straff
organisierte Gemeinschaft, bei der insbesondere die Beziehung
zwischen den Geschlechtern und die Beisetzung der Toten strengen
Regeln unterlagen. Bei einer Beerdigung, an der ich teilnahm, war
mir ein rätselhaftes Schuhritual aufgefallen. Die Roma hatten dem
Leichnam vor der Bestattung die Schuhe ausgezogen und die Stiefel
neben das Grab gestellt. Weshalb? Ich erinnerte mich nicht mehr,
aber ich hielt es für angezeigt, dieser Parallele auf den Grund zu
gehen.
Ich griff zum Telefon und rief
Malaspey an, den Kühlsten und Verschlossensten meiner Leute. Der
Einzige, der mit Sicherheit nicht mit mir über Luc sprechen würde.
Ich bat ihn, einen Experten für die Roma-Kultur aufzutreiben und
etwas über ihre Bestattungsriten herauszufinden. Falls sich mein
Verdacht bestätigte, müssten wir bei den Roma-Gemeinschaften im
Departement Val-de-Marne Nachforschungen anstellen. Malaspey
stimmte mir zu und legte auf, ohne dass ein persönliches Wort
gefallen wäre – genau so, wie ich es erwartet hatte.
Zurück zum Papierkram.
Vergeblich. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Ich legte
die Vernehmungsprotokolle zur Seite und betrachtete meine
Rumpelkammer, an deren Wänden sich die Akten der ungelösten Fälle
stapelten. Fälle, deren Akten ich nicht schließen wollte. Ich war
der einzige Ermittler in der Mordkommission, der diese Dokumente
aufhob. Der Einzige, der ihre Verjährungsfrist – bei Bluttaten zehn
Jahre – voll ausschöpfte, indem ich hin und wieder eine Vernehmung
durchführte oder einem neuen Hinweis nachging.
Mein Blick fiel auf das mit
Reißzwecken auf einer Aktenmappe befestigte Foto eines jungen
Mädchens. Cecilia Bloch, deren verbrannter Körper 1984 einige
Kilometer von Saint-Michel-de-Sèze entfernt aufgefunden worden war.
Der Täter war nie gefunden worden – das einzige Indiz waren die
Aerosol-Spraydosen, mit deren Hilfe die Leiche angezündet worden
war. Damals war ich Internatszögling in Sèze, und die Tat ging mir
nicht aus dem Sinn. Eine Frage ließ mir keine Ruhe: Hatte der
Mörder die Kleine zuerst getötet oder sie bei lebendigem Leib
verbrannt? Nachdem ich Polizist geworden war, hatte ich die Akte
ausgegraben, den Tatort besichtigt und die Gendarmen sowie die
Anwohner befragt – ohne Ergebnis.
Das Foto eines weiteren Kindes
hing an der Wand. Ingrid Coralin. Eine Waise, die mittlerweile
zwölf Jahre alt sein musste und ihre Kindheit in Heimen verbracht
hatte. Ich war indirekt für den Tod ihrer Eltern im Jahr 1996
verantwortlich und überwies ihr anonym eine feste Summe.
Cecilia Bloch, Ingrid
Coralin.
Meine vertrauten Phantome,
meine einzigen »Kinder« …
Ich schüttelte die Gedanken ab.
Es war fast 20 Uhr – Zeit zu handeln. Ich stieg eine Etage nach
oben, gab den Zugangscode zum Rauschgiftdezernat ein und betrat die
Räumlichkeiten. Rechter Hand kam ich an dem Open Space des
Ermittlungsteams von Luc vorbei. Kein Mensch. Man hätte meinen
können, dass sie sich alle irgendwo anders versammelt hatten –
vielleicht in einem ihrer Stammlokale, um in Ruhe einen zu heben.
Lucs Männer waren die hartgesottensten Burschen in der
Kripozentrale am Quai des Orfèvres. Ich wünschte den Typen von der
Internen Ermittlung, die sie vernehmen würden, viel Glück. Aber sie
würden bei ihnen auf Granit beißen.
Ich kam an der Tür von Lucs
Dienstzimmer vorbei; ohne stehen zu bleiben, warf ich einen Blick
in die Nebenzimmer: niemand. Ich kehrte um, drückte die Türklinke
herunter – abgeschlossen. Aus meiner Tasche zog ich einen
Schlüsselbund und hatte das Schloss nach wenigen Sekunden geöffnet.
Lautlos betrat ich den Raum.
Luc hatte aufgeräumt. Der
Schreibtisch blitzeblank. An den Wänden nicht ein Steckbrief. An
der Magnettafel keine Tatortfotos. Auf dem Boden keine einzige
liegen gebliebene Akte. Wenn Luc wirklich hätte Schluss machen
wollen, wäre er nicht anders vorgegangen. Der Hang zur
Verschwiegenheit war einer seiner hervorstechenden
Charakterzüge.
Einige Sekunden verharrte ich
reglos und ließ den Raum auf mich wirken. Lucs Büro war nicht
größer als meines, hatte jedoch ein Fenster. Ich ging um den
Schreibtisch herum – ein Möbelstück aus den dreißiger Jahren, das
Luc in einem Trödelladen gekauft hatte – und näherte mich der
Korktafel hinter dem Sessel. Dort hingen einige Fotos. Porträts des
achtjährigen Camille und der sechsjährigen Amandine. Im Halbdunkel
schwebte ihr Lächeln auf dem Glanzpapier wie auf der Oberfläche
eines Sees. Auch Kinderzeichnungen waren zu sehen – von Feen, von
Häusern, in denen eine kleine Familie wohnte, von »Papa« der, mit
einer übergroßen Pistole bewaffnet, Jagd auf »Drogenhändler«
machte. Ich legte meine Finger auf die Aufnahmen und flüsterte:
»Was hast du getan? Verdammt, was hast du nur getan …?«
Ich öffnete sämtliche
Schubladen. In der ersten Büroartikel, Handschellen, eine Bibel. In
der zweiten und dritten Schublade Fälle aus jüngster Zeit –
erledigte Fälle. Tadellose Berichte, minutiöse Dienstanweisungen.
Noch nie hatte Luc so viel Ordnungssinn bei der Arbeit gezeigt.
Eine echte Inszenierung. Das Büro eines Klassenbesten.
Ich blieb vor dem Computer
stehen. Der PC würde wohl kaum den Schlüssel zur Lösung des Falles
enthalten, aber ich wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich drückte
automatisch die Leertaste. Der Bildschirm leuchtete auf. Ich griff
nach der Maus und klickte auf eines der Icons. Eingabe eines
Passworts. Aufs Geratewohl gab ich das Geburtsdatum Lucs ein.
Fehlermeldung.
Die Vornamen Camille und
Amandine. Wieder Fehlermeldungen. Ich wollte eine vierte
Möglichkeit ausprobieren, als das Licht anging.
»Was machst du denn da?«
In der Tür stand Patrick
Doucet, genannt »Doudou«, die Nummer zwei in Lucs Team. Er trat
einen Schritt vor und fragte noch einmal:
»Was, verdammt nochmal, machst
du in diesem Büro?«
Er zischte diese Worte zwischen
zusammengepressten Lippen hervor. Mir verschlug es die Stimme.
Doudou war der gefährlichste des ganzen Teams. Ein Hitzkopf, der
sich mit Amphetaminen zudröhnte, seine ersten Sporen beim
Sondereinsatzkommando verdient hatte, und der nichts lieber tat,
als Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen. Er war an die Dreißig,
hatte das Gesicht eines gefallenen Engels und die breiten Schultern
eines Bodybuilders, die in einem abgewetzten Lederblouson steckten.
An den Seiten trug er die Haare kurz, im Nacken lang. Eigenwilliges
Detail: An der rechten Schläfe hatte er sich drei Krallen
ausrasieren lassen.
Doudou zeigte auf den
beleuchteten Bildschirm.
»Immer in der Scheiße
rumwühlen, wie?«
»Wieso Scheiße?«
Er antwortete nicht. Er zuckte
nur herausfordernd mit den Schultern. Sein Blouson ging auf, und
zum Vorschein kam der Kolben einer Glock 21 Kaliber .45, der
regulären Pistole der Gruppe.
»Du hast ’ne Fahne!«, sagte
ich.
Doudou kam näher. Mit einem
flauen Gefühl in der Magengrube wich ich zurück.
»Was ist schon dabei, mal einen
zu heben?«
Meine Vermutung war richtig
gewesen. Lucs Männer waren losgezogen, um sich einen hinter die
Binde zu gießen. Wenn jetzt die anderen auftauchten, würden sie
mich vielleicht lynchen.
»Was suchst du hier?«, fauchte
er mich an.
»Ich will herausfinden, wieso
es mit Luc so weit kommen konnte.«
»Schau dir nur dein Leben an.
Dann weißt du’s!«
»Luc würde nie Selbstmord
begehen, egal, wie schlimm er dran wäre. Das Leben ist ein Geschenk
Gottes und …«
»Verschon mich mit deinen
Predigten.«
Doudou ließ mich nicht aus den
Augen. Nur der Schreibtisch trennte uns. Mir fiel auf, dass er
leicht taumelte. Diese Beobachtung beruhigte mich. Stockbesoffen.
Ich beschloss, kein Blatt vor den Mund zu nehmen:
»Wie war er in den letzten
Wochen drauf?«
»Was geht dich das an?«
»Woran hat er
gearbeitet?«
Doudou fuhr sich mit der Hand
übers Gesicht. Ich schlich an der Wand entlang und wich vor ihm
zurück:
»Irgendetwas muss vorgefallen
sein …«, fuhr ich fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Vielleicht eine Ermittlung, die ihn am Boden zerstört hat …«
Doudou grinste höhnisch:
»Wonach suchst du? Ein Fall,
der einen in den Tod treibt?«
In seinem Suff hatte er das
passende Wort gefunden. Wenn ich zu dem Schluss gelangen müsste,
dass Luc Selbstmord begangen hat, wäre dies eine meiner Hypothesen:
Ein Ermittlungsverfahren, das ihn in tiefste, ausweglose
Verzweiflung stürzte. Ein Fall, der seinen katholischen Glauben
erschütterte. Ich bohrte nach:
»Woran habt ihr, verdammt
nochmal, gearbeitet?«
Doudou verfolgte mich aus den
Augenwinkeln, während ich weiter vor ihm zurückwich. Statt zu
antworten, rülpste er laut. Ich grinste nun auch:
»Spiel dich ruhig auf. Morgen
werden dich die Typen von der Internen durch die Mangel
drehen.«
»Die können mich mal!«
Er schlug mit der Faust auf den
Computer. Sein Gliederarmband funkelte golden. Er schrie:
»Luc hat sich nichts
vorzuwerfen, kapiert? Wir haben uns nichts vorzuwerfen!
Verdammt!«
Ich kehrte um und schaltete
vorsichtig den Computer aus.
»Wenn das so ist«, sagte ich
leise, »solltest du deine Einstellung ändern.«
»Jetzt schwafelst du wie ’n
Anwalt.«
Ich pflanzte mich vor ihm auf.
Ich hatte seine verächtliche Art satt:
»Hör gut zu, Schwachkopf, Luc
ist mein bester Kumpel, okay? Also stier mich nicht an wie ein
Ochse. Ich werde herausfinden, weshalb er das getan hat. Und du
wirst mich nicht daran hindern.«
Mit diesen Worten strebte ich
der Tür zu. Als ich den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte,
zischte Doudou in meinem Rücken:
»Niemand wird singen, Durey.
Aber wenn du in der Scheiße stocherst, wirst du uns alle in den
Schmutz ziehen.«
»Wie wär’s dann, wenn du mir
ein bisschen mehr erzählen würdest?«, versetzte ich.
Statt zu antworten, zeigte er
mir nur einen starr nach oben gerichteten Mittelfinger.