KAPITEL 108
»Es gab ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Luc ist jetzt auf der
geschlossenen Station. Er ist gefährlich geworden.«
»Für wen?«
»Für sich selbst und andere.
Wir haben ihn in eine Einzelzelle verlegt.«
Pascal Zuccas Gesicht war nicht
mehr rot, sondern fahl. Und seine Unbekümmertheit bei unserem
Gespräch am Vorabend war wie verflogen. Anspannung unter seiner
erstarrten Miene. Ich fragte noch einmal:
»Was ist passiert?«
»Luc hatte einen Anfall. Er
wurde extrem gewalttätig.«
»Hat er jemanden
geschlagen?«
»Nein. Aber er hat sanitäre
Einrichtungen demoliert. Er hat ein Waschbecken aus der Wand
gerissen.«
»Ein Waschbecken?«
»Wir sind solche Heldentaten
gewöhnt.«
Er zog eine Zigarette aus
seiner Tasche – eine Marlboro Light. Ich ließ mein Feuerzeug
klacken. Nach einem Zug murmelte er:
»Ich habe nicht mit einem so
schnellen Fortschreiten gerechnet.«
»Simuliert er
vielleicht?«
»Wenn er simuliert, dann
wirklich meisterhaft.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Natürlich.«
»Wieso ›natürlich‹?«
»Weil er Sie sehen möchte. Aus
diesem Grund hat er aus seiner Zelle Kleinholz gemacht. Zuerst hat
er mit der Untersuchungsrichterin gesprochen, dann hat er nach
Ihnen verlangt. Ich wollte seiner Erpressung nicht nachgeben.
Daraufhin hat er alles kurz und klein geschlagen.«
Wortlos gingen wir wieder durch
die lang gestreckte Zimmerflucht mit den Bullaugentüren. Zucca
stakste mit mechanisch abgehackten Schritten; da war nichts mehr
von dem agilen Läufer vom Vortag. Er führte mich in ein
Sprechzimmer. Ein Schreibtisch, ein Bett, Arzneischränke. Zucca
kurbelte am Rollo eines Innenfensters, das auf ein anderes Zimmer
ging.
»Da ist er.«
Ich blickte zwischen den
aufgestellten Lamellen hindurch. Luc saß nackt auf dem Boden,
eingewickelt in eine dicke weiße Decke, die an einen Judo-Kimono
erinnerte. Ansonsten war die Zelle vollkommen leer. Keine Möbel,
kein Fenster, keine Türklinke. Die Wände, die Decke und der Boden
waren weiß und boten keinerlei Halt.
»Im Augenblick ist er ruhig«,
sagte Zucca. »Er steht unter Haldol, einem Antipsychotikum, das ihm
eigentlich erlauben sollte, Wirklichkeit und Wahn zu unterscheiden.
Wir haben ihm auch ein Beruhigungsmittel verabreicht. Die Zahlen
sagen Ihnen vermutlich nichts, aber wir haben mittlerweile
Dosierungen erreicht, die extrem hoch sind. Ich verstehe das nicht.
Eine derart gravierende Verschlechterung in so kurzer Zeit …«
Durch die Scheibe beobachtete
ich meinen besten Freund. Wie er so regungslos dasaß unter seiner
Decke. Sein bartloses Gesicht, sein kahlrasierter Schädel, sein
abwesender Gesichtsausdruck in diesem vollkommen leeren Raum. Man
hätte meinen können, es handle sich um eine künstlerische
Performance. Ein nihilistisches Werk.
»Kann er mich verstehen?«
»Ich denke schon. Seit heute
Morgen hat er kein Sterbenswörtchen von sich gegeben. Ich mache
Ihnen auf.«
Wir verließen das Zimmer.
Während er den Schlüssel ins Schloss steckte, fragte ich:
»Ist er wirklich
gefährlich?«
»Jetzt nicht mehr. Jedenfalls
wird ihn Ihre Anwesenheit beruhigen.«
»Weshalb haben Sie mich nicht
früher kontaktiert?«
»Wir haben heute Nacht eine
Nachricht in Ihrem Büro hinterlassen. Ich hatte die Nummer Ihres
Handys nicht. Und Luc erinnerte sich nicht mehr daran.«
Er umfasste die Klinke und
wandte sich zu mir um:
»Erinnern Sie sich an unser
gestriges Gespräch? Über das, was Luc in der Tiefe seines
Unbewussten gesehen hat?«
»Ich habe es nicht vergessen.
Sie haben von der Hölle gesprochen.«
»Diese Bilder verfolgen ihn
heute. Der alte Mann. Die Wände aus Gesichtern. Das Stöhnen im
Gang. Luc hat entsetzliche Angst. Die Kraft, die er heute Nacht
gezeigt hat, erklärt sich durch diese panische Angst. Sie
überfordert ihn buchstäblich.«
»Ist es eine
Panikattacke?«
»Nicht nur. Er ist aggressiv,
brutal und ordinär. Das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu
erklären.«
»Wollen Sie damit sagen, dass
er sich wie ein … Besessener verhält?«
»In einem anderen Zeitalter
hätte man ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
»Glauben Sie, dass sich sein
Zustand verschlechtern wird?«
»Es heißt bereits, er solle in
unsere Abteilung für gefährliche Patienten eingewiesen werden. Aber
meines Erachtens ist es dafür zu früh. Alles kann sich wieder
einrenken.«
Ich betrat die Zelle, während
die Tür hinter mir abgeschlossen wurde. Jede Einzelheit versetzte
mir einen Schlag. Das grelle Licht der Lampe, die in die Decke
versenkt war. Der rote Kübel für die Notdurft in einer Ecke. Die
Matratze, auf der Luc saß und die einer Turnmatte glich.
»Wie geht’s?«, fragte ich in
zwanglosem Ton.
»Super.«
Er lachte kurz höhnisch auf und
mummte sich dann in die Decke ein, als wäre ihm kalt. Dabei war es
drückend heiß. Ich lockerte meine Krawatte:
»Du wolltest mich
sprechen?«
Luc wurde von einem Krampf
geschüttelt. Ein Bein tauchte zwischen zwei Falten der Decke auf.
Mit gesenktem Kopf kratzte er es heftig. Ich setzte ein Knie auf
den Boden und wiederholte meine Frage:
»Weshalb wolltest du mich
sprechen? Kann ich dir helfen?«
Er sah mich an. Unter seinen
roten Brauen funkelten seine Augen fiebrig.
»Ich will, dass du mir einen
Dienst erweist.«
»Und zwar?«
»Erinnerst du dich an das
Gleichnis, das Jesus bei seiner Gefangennahme erzählte?«
Und er begann, die Augen zur
Decke gerichtet, zu deklamieren:
»Da wandte er sich an die
Hohepriester, die Anführer der Tempelwächter und die Ältesten, die
gekommen waren, ihn gefangenzunehmen und sagte: ›Tag für Tag war
ich bei euch im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht
verhaftet, aber jetzt ist eure Stunde und die Macht der Finsternis
gekommen.‹«
»Was willst du damit
sagen?«
»Es ist die Stunde der
Finsternis, Mat. Das Böse hat obsiegt. Es gibt keinen Weg
zurück.«
»Wovon redest du?«
»Von mir.«
Er fröstelte. Die Kälte schien
ihn ganz durchdrungen zu haben.
»Ich habe mich geopfert, Mat.
Ich bin in mir gestorben, als ich in Vukovar zu den Waffen griff,
aber dieses Mal gibt es keine Vergebung, keine Wiederauferstehung.
Satan ist der große Sieger. Er ergreift Besitz von mir. Ich
verliere die Kontrolle.«
Vergeblich versuchte ich zu
lächeln. Luc war ein absoluter Märtyrer. Er hatte nicht nur sein
Leben, sondern auch seine Seele geopfert. Er würde im Jenseits
nicht der ewigen Seligkeit teilhaftig, denn sein Martyrium bestand
ja gerade darin, dass er auf dieses Seelenheil verzichtet
hatte.
Ein Lächeln zerriss seinen
Mund.
»Im Grund fühle ich mich
befreit. Ich spüre nicht mehr diesen ewigen Zwang zum Guten. Ich
habe das Brett losgelassen und spüre jetzt, wie ich abgetrieben
werde …«
»Du darfst dich nicht gehen
lassen.«
»Du hast nichts verstanden,
Mat. Ich bin ein Lichtloser. Alles, was ich tun kann, ist Zeugnis
ablegen.« Er legte einen Zeigefinger auf seine Schläfe.
»Beschreiben, was hier, in meinem Schädel, abläuft.«
Er hielt eine Sekunde inne, den
Kopf zwischen die Schultern gezogen, lauschend, als würde er seinen
Geist unter dem Mikroskop betrachten:
»Es gibt noch einen Teil in
mir, der meinen Fall ermisst. Einen erschrockenen Teil. Aber der
andere Teil, der immer größer wird, genießt diese Befreiung. Es ist
wie ein Beutel Tinte, der sich in meinem Gehirn ausbreitet.« Er
lächelte höhnisch. »Das Böse hat ein Ei in mich gelegt und
durchwuchert mich. Schon bald bin ich verloren für die Sache
…«
Ich spürte, wie ich allmählich
ärgerlich wurde. Mein ganzes Sinnen und Trachten war dieser Rede,
dieser Position diametral entgegengesetzt. Ich wollte diese
Ermittlungen auf eine rationale, natürliche Grundlage stellen,
während Luc sich in satanistischen Märchen erging.
»Du hast von einer Gefälligkeit
gesprochen«, sagte ich ungeduldig. »Was meinst du damit?«
»Beschütze meine
Familie.«
»Vor wem?«
»Vor mir. In ein, zwei Tagen
werde ich Gewalt und Schrecken verbreiten. Und ich werde mit meiner
Familie beginnen.«
Ich legte meine Hand auf seine
Schulter.
»Luc, du wirst hier behandelt.
Es besteht kein Grund zur Sorge. Du …«
»Halt die Klappe. Du hast keine
Ahnung. Schon bald wird mich diese Einzelzelle nicht mehr daran
hindern können, zu handeln. Ihr alle werdet mir wieder vertrauen.
Ich werde scheinbar wieder ganz gesund sein. Aber dann werde ich
richtig gefährlich sein …«
Ich seufzte:
»Was genau soll ich tun?«
»Postier deine Leute vor meinem
Haus. Beschütze Laure und die Kleinen.«
»Das ist absurd.«
Er warf mir einen stechenden
Blick zu, als ob er in meinen Kopf eindringen wollte.
»Ich bin nicht die einzige
Gefahr, Mat.«
»Wer noch?«
»Manon. Sie wird sich rächen
wollen.«
Das war nun wirklich abstrus.
Ich stand auf.
»Du musst dich ausruhen.«
»Hör mir zu!«
Einen Moment lang war sein
Gesicht eine einzige hassverzerrte Fratze. Einen Moment lang
glaubte ich, Satan in ihm zu sehen.
»Glaubst du wirklich, sie wird
mir verzeihen, dass ich gegen sie ausgesagt habe? Du kennst sie
nicht. Du kennst ihre Seele nicht. Du weißt nichts über den, der in
sie gefahren ist. Sobald sie kann, wird sie losschlagen. Sie wird
das zerstören, was mir am teuersten ist. Ihre Unschuld ist eine
Maske. Sie ist ein Werkzeug des Teufels. Und er wird mir niemals
verzeihen. Ich bin dabei, ihr Geheimnis zu verraten, kapierst du?
Er wird das zu unterbinden versuchen. Und sich an meiner Familie
rächen!«
»Du redest völligen
Unsinn.«
»Bitte, tu es. Im Namen unserer
Freundschaft.«
Ich machte einen Schritt
zurück. Ich wusste, dass Zucca uns durch das Rollo beobachtete. Er
würde die Tür aufschließen. Ich hatte Luc eigentlich danach fragen
wollen, welche Erinnerungen er an die Zeit nach dem Aufwachen aus
dem Koma hatte. Ich wollte wissen, ob er sich nicht an einen
bestimmten Mediziner erinnerte, der ihn mehrmals besucht hätte.
Einen möglichen »Höllengast«.
Aber ich verzichtete
darauf.
Selbst unter Haldol war Luc
nicht mehr in der Lage, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu
unterscheiden.
Hinter mir wurde die Tür
aufgesperrt. Luc richtete sich auf seiner Matratze auf.
»Lass meine Wohnung überwachen,
bitte. Würdest du das tun?«
»Kein Problem. Verlass dich auf
mich.«