KAPITEL 59

Das frühere Wohnviertel bestand aus Sozialwohnungen, wobei die Gebäude jeweils in Viererblocks angeordnet waren. Solche Viertel waren in den fünfziger Jahren überall in Italien aus dem Boden gestampft worden. Dieser Strom erinnerte mich an einen Vulkanausbruch, dessen Lavastrom alles in Stein verwandelte, wie in Pompeji. Hier waren Elend, Arbeitslosigkeit und die Isolation der ärmsten Klassen gleichsam in Beton gegossen.
   Es fehlte kein einziges Detail. Schmutzige Fassaden, Gärten, die an unbebaute Grundstücke erinnerten, Gemüsegärten neben Parkplätzen, auf denen Karosseriegerippe vor sich hin rosteten, verkümmerte Bäume, die alte Spielplätze einrahmten. Ich setzte meinen Weg fort, kam an umgestürzten Straßenlaternen und staubigen Fußballplätzen vorbei. Das war nicht nur ein vernachlässigtes Viertel, das war eine Welt, wo der Tod ein Dauerzustand war. Sonst hatte es keine Zukunft.
   Ich sah eine Kapelle in Fertigbauweise mit einem Wellblechdach neben einer öffentlichen Mülldeponie. Ich stellte mir die Einwohner des Viertels vor, die hier für die Heilung Agostinas beteten und für ihre Reise nach Lourdes zusammenlegten. Dieses Bild rief eine Erinnerung wach. Die Worte Agostinas in ihrem Interview: »Ich war ein ganz gewöhnlicher Mensch, eine Unbekannte unter Unbekannten. Und eben aus diesem Grund hat mich die Jungfrau Maria erwählt, wie ich glaube.« Und in der gleichen Weise konnte es keinen besseren Ort geben, um die Geschichte Agostinas aufzunehmen. Denn Paterno war die Stein gewordene Gesichtslosigkeit.
   Man berührte hier das Wesen der katholischen Überlieferung – der Geburt im Stall, des Almosens und der nackten Füße. Jener Überlieferung, die verkündete: »Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden« und »Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen«, und dass die irdische Not den Weg in die himmlische Glückseligkeit ebnet.
   Ich fand das Gebäude, in dem Agostina gewohnt hatte: palazzina D, scala A. Ihre Adresse stand unten auf ihrem Polizeifoto. Ich stieg aus meinem Wagen aus. Ich war gekommen, um mir einen persönlichen Eindruck von dem Ort zu verschaffen. Mir wurde gleich klar, dass ich dies vergessen konnte. Die Atmosphäre war stickig. Ein durchdringender Schwefelgeruch schlug mir mit der Gewalt eines Sturms entgegen.
   Ein Mann kam aus dem Gebäude heraus, einen Schal um die untere Hälfte seines Gesichts gewickelt. Ich schlug den Kragen meines Mantels über meinen Mund und lief auf ihn zu. Ich fragte ihn, was hier los sei. Der Mann antwortete mir durch seinen Schal:
   »Das sind die Salinellen! Hänge aus salzhaltigem Schlamm, die unser Viertel umgeben. Wenn der Ätna ausbricht, strömen überall Gase aus. Unsere kleinen Privatvulkane sozusagen! Sie sind in der Region bekannt!«
   Ich machte rasch ein paar Fotos und kehrte zu meinem Wagen zurück, eine Stelle suchend, wo ich vor den Gasen sicher wäre. Ich hielt einige Blocks weiter in der Nähe eines verwaisten Spielplatzes, wo der Geruch erträglich war. Ein Klettergerüst und alte Schaukeln. Nicht schlecht für eine einsame Meditation.
   Zum Klang von Seilen, die im Wind quietschten, nahm ich meinen Gedankengang wieder auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich an die Wunderheilung Agostinas glaubte. Ich misstraute instinktiv spektakulären Manifestationen göttlicher Kräfte. Seit meinem Aufenthalt in Ruanda war ich ein Anhänger eines strengen, einsamen, verantwortungsbewussten Glaubens. Es gab keine göttlichen Eingriffe in irdische Abläufe. Er hatte uns des Leibes Notdurft gegeben. Er hatte uns seine Botschaft mitgeteilt und uns die Freiheit geschenkt, zu Ihm zu gelangen. Es lag an uns, den Versuchungen zu widerstehen und der Nacht zu entfliehen. Kurz, mit dem Leben zurechtzukommen. Darin lag die Größe des Menschen: in dieser Freiheit, uns »mit zu erschaffen«.
   Aus diesem Grund misstraute ich übernatürlichen Eingriffen. Gott soll urplötzlich einen Menschen erwählt und ein Wunder gewirkt haben. Das widersprach der christlichen Glaubenslehre. Das einzige Wunder, das sich im Alltag ereignen konnte, war der Aufstieg des sterblichen Menschen zu Gott. Allein der Glaube konnte uns aus unserer Gefangenheit im Irdischen befreien. Genau dies geschah übrigens bei einer Heilung dieses Typs. Der menschliche Geist überwand die Materie, und das war schon eine erstaunliche Leistung.
   Agostina war ein anderes Problem. Der Mord, den sie tatsächlich oder vorgeblich begangen hatte, änderte alles. Ein Wunder, das ist immer die Geschichte einer geretteten Seele. Ich ahnte, weshalb der Vatikan seine Anwälte geschickt hatte. Nicht, um ihre Unschuld zu beweisen – Agostina bekannte sich schuldig –, sondern um den Schaden zu begrenzen. Das Aufsehen, das ihr Fall erregte. Der Heilige Stuhl hatte einen riesigen Fehler begangen, als er ein solches Monster offiziell zu einer Person erklärte, die durch ein Wunder geheilt wurde. Man musste den Skandal ersticken.
   Es wurde dunkel. Die Rasenflächen wurden nach und nach von der Finsternis verschluckt, die Siedlung verblasste. 17 Uhr. Und noch immer keine Neuigkeiten von Michele Geppu. Von Kopf bis Fuß frierend, beschloss ich, zurück zum Wagen zu gehen und mehrere Telefonate zu führen.
   Zunächst mit Foucault.
   »Gibt’s was Neues?«, fragte ich.
   »Nein. Die internationalen Anfragen zu den Morden haben nichts gebracht. Bis jetzt zumindest. Wir müssen warten.«
   »Und die Entomologen im Jura?«
   »Fehlanzeige.«
   »Nimm beim Jura etwas Gas weg.« Ich dachte an Sarrazin und seine Empfindlichkeit. »Hast du überprüft, ob eine Verbindung zwischen Unital6 und Notre-Dame-de-Bienfaisance bestand?«
   »Ja. Und ich hab nichts gefunden.«
   »Bohr bei der Stiftung weiter nach. Ihre Wallfahrten. Ihre Seminare.«
   »Wonach soll ich suchen?«
   »Keine Ahnung. Wie oft haben sie Reisen zu welchen Zielen und Preisen organisiert. Bohr tiefer.«
   Ich hatte dies ohne rechte Begeisterung gesagt, und Foucault musste es gespürt haben.
   »Läuft in der Firma alles glatt?«, fuhr ich fort. »Ist das Meer ruhig?«
   »Könnte man sagen. Dumayet hat mich deinetwegen ausgequetscht.«
   Am Vorabend hatte ich der Polizeidirektorin eine einfache SMS geschickt, in der ich ihr mitteilte, dass ich meinen »Urlaub« verlängern würde. Eine solche Nachricht erheischte mündliche Erklärungen. Ich hatte mich heute nicht dazu durchringen können.
   »Was hast du ihr gesagt?«, fragte ich.
   »Die Wahrheit. Dass ich nicht die geringste Ahnung hätte, was du treibst.«
   Ich verabschiedete mich von meinem Stellvertreter und rief Svendsen an, um zu erfragen, ob er etwas über die Flechten und den Skarabäus herausgefunden hatte, und mich nach den Resultaten der Suche nach anderen verwesten Mordopfern zu erkundigen. Der Gerichtsmediziner hatte nichts von sich hören lassen. Daher überraschte es mich nicht, als er mir sagte, die Botaniker seien noch immer mit der Analyse der Proben beschäftigt, bisher ohne Ergebnis. Sie konsultierten riesige Kataloge, in denen Arten und Gattungen aufgeführt waren. In Bezug auf den Skarabäus hatten die Experten das Urteil Plinkhs bestätigt und eine Liste mit den Zuchtstätten erstellt. Keine davon befand sich in der Nähe der Täler des Jura.
   Wegen der Leichen hatte der Schwede zahlreiche Telefonate geführt. Vergeblich. Er hatte an alle rechtsmedizinischen Institute eine vertrauliche Anfrage geschickt. Es waren noch keine Antworten eingegangen. Ich fragte ihn, ob die Recherchen auf europäischer Ebene ausgeweitet werden könnten. Svendsen fluchte vor sich hin, aber das war kein kategorisches Nein. Ich wusste, dass er sich bemühen würde.
   Zum Schluss rief ich den »Kalkulator« an, der schlechte Nachrichten für mich hatte. Der Inhaber des schweizerischen Kontos hatte das Geld persönlich in bar abgehoben. Es hatte keine namentliche Überweisung auf ein anderes Konto stattgefunden.
   Wer war die Person, die diese Summen kassiert hatte? In Anbetracht der neuen Informationen ließ sich meine ursprüngliche Hypothese von einem Detektiv nicht mehr aufrechterhalten. An wen überwies Sylvie dreizehn Jahre lang Geld? Wurde sie erpresst?
   Spendete sie Geld, um ihr Gewissen zu erleichtern? Ich hatte keine Mittel mehr, um dies herauszufinden.
   Letztes Telefonat mit Sarrazin. Ich war nach unserer Vereinbarung bereits einen Tag in Verzug. Der Gendarm hatte mir heute zwei Nachrichten hinterlassen.
   »Was hat das zu bedeuten?«, keifte er los. »Du hast einen weiteren Polizisten auf den Fall angesetzt?«
   Es war das erste Mal, dass er mich duzte. Ich tat es ihm gleich:
   »Wovon redest du?«
   »Von den Entomologen. Man hat mir gesagt, dass ein Polizist aus Paris ebenfalls in dieser Frage herumschnüffelt. Vorsicht, Durey. Treib kein falsches Spiel mit mir, sonst …«
   Ich unterbrach ihn in seinem Sermon und erklärte ihm, dass einer meiner Stellvertreter in der Tat eine Liste der Insektenkundler im Jura erstellt habe. Diese Nachforschungen seien vor unserer Abmachung in die Wege geleitet worden. Heute hätte ich ihn angewiesen, damit aufzuhören. Sarrazin beruhigte sich.
   »Hast du darüber was Neues?«, drängte ich in ihn.
   »Nichts. Ich habe wieder von vorn angefangen. Aber ich habe nichts Neues herausgefunden. In der Region gibt es nur Hobbyforscher. Rentner, Studenten. Niemand, der ins Profil passt.«
   Sackgasse. Dennoch gingen mir Plinkhs Worte noch immer durch den Kopf: »Er ist da, glauben Sie mir. Ganz in unserer Nähe. Ich spüre seine Gegenwart, seine Heerscharen, irgendwo in unseren Tälern.« Wir müssten weitersuchen.
   Sarrazin fragte mich seinerseits nach Neuigkeiten. Ich antwortete ausweichend. Eigentlich wollte ich meine Informationen nicht mit dem Gendarmen teilen. Ein unerklärliches Misstrauen hielt mich zurück. Vielleicht die Gleichung von Chopard: das Gesetz der dreißig Prozent … Ich versprach, ihn am nächsten Tag wieder anzurufen.
   Bis zur Abendessenszeit fuhr ich kreuz und quer durch die Stadt. In der Dunkelheit wirkten die Lava-Arterien düster und majestätisch. Gassen öffneten sich wie Spalten im Felsen, ihre Geheimnisse und ihre Schätze offenbarend. Catania, die schwarze Stadt, erwachte im Licht der Straßenlaternen zu vibrierender, glänzender Geschäftigkeit, so wie ein Nachtschwärmer, während andere zu Bett gehen, munter und fidel um die Häuser zieht.
   Vergeblich hielt ich Ausschau nach einem japanischen Restaurant – Reis, grüner Tee, Essstäbchen. Schließlich speiste ich in einer Pizzeria, allein mit meinem Handy, das nicht klingeln wollte. Aufrecht auf meinem Stuhl sitzend, das Geklirr der Messer und Gabeln um mich herum ignorierend, konzentrierte ich mich auf andere Empfindungen. Gerüche von Sardellen, Tomaten und Basilikum. Die Inneneinrichtung aus dunklem Holz, das mit Muscheln und kleinen Segelschiffen in Flaschen verziert war, erinnerte an die Höhle eines Seefahrers, der Schiffbruch erlitten hatte. Frauen, die Kleider aus Wildleder und Samt trugen, deren changierende Brauntöne an köstliche glacierte Maronen erinnerten.
   Ich verließ das Restaurant um 20 Uhr. Kein Anruf von Geppu. Ich konnte es kaum noch erwarten, Agostina zu treffen. Das Gefängnis von Malaspina barg einen Schlüssel zur Aufklärung des Falles, das spürte ich. Oder zumindest hoffte ich es. Ein Lichtblitz, der dieses undurchschaubare Labyrinth erhellen würde.
   Rückkehr ins Hotel. Fernsehen. Noch immer stand der Ätna im Zentrum der Berichterstattung. Noch immer schossen Lavafontainen aus der Nord- und Südflanke des Berges heraus, und allmählich machte sich in den Ortschaften südlich des Vulkans Panik breit … Begleitet von Prozessionen und Bittgebeten waren Tausende von Personen evakuiert worden.
   Ein Spezialist, der ins Studio eingeladen worden war, erklärte, dass der Ausbruch drei Stadien durchlaufen würde: zunächst die Erdbebenwellen; dann die Lavaeruptionen, deren Ende niemand absehen konnte; schließlich Aschenregen. Die Staubschicht, die die Stadt bis jetzt beseitigt hatte, war noch gar nichts. Bald wäre die Region von dichtem Schwarz überzogen. Abschließend sagte der Mann mit einem Lächeln: »Aber in Catania sind wir daran gewöhnt!«
   Das war der Schlüsselsatz. Trotzdem war dieser Ausbruch viel heftiger als alles, was die Menschen der Region bislang erlebt hatten. Bestand Anlass zur Sorge? Musste man den Zorn des Vulkans fürchten? Ein weiteres Mal sah ich in dieser Atmosphäre ein Omen. Der Teufel erwartete mich irgendwo im Umfeld des Vulkans.
   Ich nahm meinen Rechner, das Kabel und das Netzteil aus meiner Tasche. Ich wollte meine letzten Gedanken festhalten und die Fotos, die ich gemacht hatte, digitalisieren.
   Endlich vibrierte mein Handy. Ich griff hastig danach.
   »Pronto!«
   »Geppu. Morgen um zehn werden Sie in Malaspina erwartet.«
   »Brauche ich keine unterschriebene Genehmigung?«
   »Keine Genehmigung. Sie begeben sich heimlich dorthin.«
   »Haben Sie die Anwälte nicht unterrichtet?«
   »Wollen Sie einen Monat lang warten?«
   »Ich danke Ihnen.«
   »Gern geschehen. Agostina wird Ihnen gefallen. Viel Glück!«
   Der Mann wollte gerade auflegen, als ich sagte:
   »Ich wollte Sie fragen … ein letzter Punkt. Wissen Sie, ob konkrete, materielle Beweise gegen Agostina vorlagen?«
   Geppu lachte laut auf – wie eine Stichflamme:
   »Sie machen Witze, oder? Am Tatort fand man überall ihre Fingerabdrücke!«
Das Herz der Hoelle
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