KAPITEL 93
Mit seinen Toten leben.
Obgleich ich mir immer wieder
die Worte Zamorskis – »Sie befinden sich in einem echten Krieg« –
in Erinnerung rief, konnte ich mich nicht beruhigen. Wer würde mir
all dieses vergossene Blut vergeben? Wann würde das Gemetzel
aufhören?
Wir befanden uns im »VIP-Salon«
des Flughafens Warschau. Ein hochtrabender Name für einen ziemlich
tristen Raum. Matte Beleuchtung, klapprige Stühle, ein rissiges
Rollfeld hinter schmutzigen Scheiben … Trotzdem empfand ich diese
Umgebung nach dem, was wir erlebt hatten, als angenehm.
Gegen 15 Uhr ging ein Flug nach
Frankfurt, mit einem Anschlussflug nach Paris, der um 19 Uhr am
Flughafen Charles-de-Gaulle ankam. Als mir die Stewardess das
gesagt hatte, hätte ich sie beinahe geküsst. Denn ihre Worte hatten
für mich noch eine ganz andere Bedeutung: Unsere Flucht würde
gelingen!
Manon, die sich in meine Arme
geschmiegt hatte, war völlig erledigt. Sie war, wie ich, noch vom
Nebel durchnässt. Diese Feuchtigkeit, die nicht von uns weichen
wollte, war wie der sinnliche Ausdruck unserer Bedrücktheit. Ich
schloss die Augen und verspürte eine seltsame Erleichterung, eine
Auswirkung des Schmerzmittels, das in meinem Blut kursierte.
Der Taxifahrer hatte bei einem
Arzt haltgemacht, der meine Schulter versorgt hatte. Die Klinge
hatte eine Kerbe ins Schlüsselbein geritzt, jedoch keinen Muskel
durchtrennt. Nach einer Tetanusspritze – ich hatte ihm gesagt, ich
wäre auf eine landwirtschaftliche Maschine gestürzt – hatte der
Arzt die Wunde genäht und dann einen Verband an meinen Oberkörper
angelegt, der so fest war wie Gips. Nach seiner Aussage war nicht
mit Komplikationen zu rechnen. Allerdings verordnete er mir
unbedingte Ruhe. Ich hatte genickt und dabei an Paris und die
Tatsache gedacht, dass die Karten jetzt neu gemischt waren.
Der zweite Grund für meine
innere Ruhe war die Überzeugung, dass das Problem der
Teufelssklaven erledigt sei. Sie konnten uns zwar weiter verfolgen,
aber sie hatten ihre Chance verspielt. Manon stand von nun an unter
meinem Schutz und befand sich bald auf meinem Territorium. In Paris
würde sie rund um die Uhr von meinen Männern überwacht,
kampferprobten Polizisten, die es ohne Weiteres mit irgendwelchen
Spinnern mit tödlichen Prothesen aufnehmen könnten.
Meine Gedanken schweiften ab
und verweilten dann wieder einmal bei Luc. Seinem Plan. Seiner
Vermessenheit. Seinem Wahnsinn. Ohne es zu wissen, war ich ein
Stein in seinem Spiel gewesen. Der vertrauenswürdige Polizist, der
die Beweise zusammentragen und seine Geschichte rekonstruieren
würde. Er wusste, dass ich mich mit seinem Selbstmord nicht einfach
abfinden würde, dass ich seine Ermittlungen fortführen und Schritt
für Schritt den Weg nachgehen würde, der ihn zu seiner Tat geführt
hatte. Ich war sein Apostel Matthäus, der das Evangelium seines
Kampfs gegen den Teufel schrieb.
Meine Analyse hatte sich in
einigen Details geändert. Etwa im Hinblick auf die Münze des
Erzengels Michael. Ich hatte mich geirrt. Luc hatte sie nicht
benutzt, um sich zu schützen, sondern einzig und allein dazu, um
mich auf die Spur des Teufels zu bringen. Er wollte, dass ich den
Schlund fände und so schnell wie möglich begriff, worum es bei
seinem Abstieg in die Hölle gegangen war. Luc wollte dem Engel der
Finsternis von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen!
Die einzige Frage, die jetzt
von Bedeutung war, lautete: Was würde er aus seinem Koma
mitbringen? Würde er ohne die geringste Erinnerung aufwachen, oder
hatte er im Gegenteil ein entscheidendes Erlebnis gehabt? Ich
kannte bereits die Antwort von Laure: »Er hat etwas gesehen.«
»Ihr Flug ist
aufgerufen.«
Wir folgten der Stewardess
unsicheren Schritts in die Abflughalle. Reisepass, Bordkarte. Wir
führten jede Handbewegung mit der Behändigkeit eines k.o.-
geschlagenen Boxers aus. Bis wir uns in der Kabine in unsere Sitze
fallen ließen. Während die Stewardess noch die
Sicherheitsvorschriften erläuterte, schliefen wir bereits tief und
fest. Zwei Rucksacktouristen, die seit Wochen kein Hotel gesehen
hatten.
In Frankfurt kamen wir uns im
Transitsaal wieder wie Gespenster vor. Dieses Mal war die
First-Class-Lounge funkelnagelneu, voller Geschäftsleute, die in
ihre Herald Tribune versunken waren. Sie
warfen uns argwöhnische Blicke zu. Ich setzte Manon in einen Sessel
und besorgte etwas zu essen. Coca-Cola, Kaffee, Knabberzeug. Doch
wir rührten weder die Knabbereien noch den Kaffee an. Einstweilen
schütteten wir Cola in uns hinein, um uns innerlich von dem
angehäuften Grauen zu reinigen.
Einige Stunden später
überflogen wir die Lichter von Paris. Ich neigte mich zum
Seitenfenster und sah die kalte Nacht und den Smog über der
Hauptstadt. Selbst durch das Fenster spürte ich, dass es nicht die
gleiche Kälte wie in Krakau war. In Polen herrschte beißende Kälte.
In Paris dagegen schmutziger Tau.
19 Uhr, ein Freitag
Verstopfte Autobahn. Prasselnder Regen. Ich
öffnete das Taxifenster und atmete tief ein. Der Geruch von
feuchtem Beton, Auspuffgasen, das Klatschen von Pfützen. Und die
Fahrer saßen erstarrt im Innern ihrer Schlitten wie eingefrorene
Standbilder.
Als der Wagen schließlich in
die Rue Debelleyme einbog, war ich so aufgeregt wie ein frisch
verheirateter Mann. Wie würde Manon auf dieses neue Leben
reagieren? Auf meine Wohnung? Sie war schließlich noch nie in Paris
gewesen.
Ich führte sie über meine
berühmte Außentreppe. Sie reagierte darauf mit einem höflichen,
zerstreuten Lächeln. Sie war noch immer in einem Schockzustand. Der
Überfall in Krakau hatte das zutiefst verängstigte kleine Mädchen
in ihr geweckt. Ich selbst war noch immer völlig verstört. Doch
jenseits der Angst und des Grauens spürte ich noch etwas anderes.
Eine fiebrige Erregung, verbunden mit einer seltsamen Benommenheit.
Liebe?
Manon setzte sich auf das Sofa
im Wohnzimmer. Den Tee, den ich ihr anbot, lehnte sie ab. Alkohol:
Nein. Wie versteinert behielt sie ihre gesteppte Jacke an. Das
Unangenehmste stand mir noch bevor – ihr zu erklären, dass ich
umgehend zum Hôtel-Dieu fahren müsste. Ihre Reaktion überraschte
mich nicht:
»Ich komme mit.«
Es war das erste Mal seit
Krakau, dass sie mehr als drei Wörter hintereinander sprach.
»Unmöglich«, widersprach ich
ihr. »Ich muss in Paris Vorkehrungen treffen. Dich
beschützen.«
»Ich weiß nicht einmal, wo ich
bin.«
Ich empfand plötzlich tiefes
Mitleid mit ihr. Ihre Trauer war meine Trauer. Ihre Bestürzung war
meine Bestürzung. Ich kniete mich vor sie hin und nahm ihre
Hände.
»Du musst mir vertrauen.«
Sie lächelte. Ein Gefühl der
Hitze durchwallte mich. Ich flüsterte:
»Lass mich dich beschützen.
Lass mich …«
Ich konnte meinen Satz nicht
beenden. Sie hatte ihre Hände um mein Gesicht gelegt und meinen
Mund zu ihren Lippen gezogen. Ich schmolz dahin. Wärme erfüllte
meinen ganzen Körper. Meine Lebenskraft schwand, und das war das
wunderbarste Gefühl, das ich empfunden hatte …
Zwei Stunden später war ich
unterwegs zum Hôtel-Dieu. Erfüllt von lebhaften Erinnerungen.
Manon. Ihre Hände auf meinem Körper. Der Rhythmus meines Bluts.
Unsere letzten Augenblicke. Sie berührte unbekannte Punkte,
ungeahnte Flächen in mir. Die sanfte, erfrischende Akupressur der
Liebe …
Luc Soubeyras war auf eine andere Station verlegt
worden.
Keine blaugrüne Beleuchtung,
keine OP-Kittel mehr. In einem großen weißen Gang führten große
Glasscheiben zu geräumigen Zimmern. Auch hier waren die Patienten
noch an Schläuche und Sensoren angeschlossen, unter dem grellen
Licht von Neonröhren.
Als ich durch den Korridor
ging, kehrte ich endlich in die Gegenwart zurück. Ich würde Luc
lebend und bei Bewusstsein vorfinden. Als ich ihn hinter der
Scheibe sah, hätte ich beinahe losgeschrien. Er hatte nach wie vor
Schläuche in der Nase und Elektroden am Hals und an den Schläfen,
und er hatte noch weiter abgenommen. Aber seine Augen waren
geöffnet.
Ich stürzte hinein. Vor
überschwänglicher Begeisterung nahm ich seine beiden Hände.
»Mann, ich bin so …«
»Ich habe ihn gesehen.«
Ich hielte inne. Seine Stimme
war ganz dünn. Er murmelte wieder:
»Ich habe ihn gesehen, Mathieu.
Ich habe den Teufel gesehen.«