KAPITEL 90
Zuerst die Kälte ihres Zimmers. Dann die Tür, die
sich hinter ihrem Rücken schloss, als ich sie küsste und mit den
Lippen gegen das Holz drückte. Ich streifte ihr die Parka herunter,
sie riss mir meine förmlich vom Leib. Unsere Gesten waren
unbeholfen, linkisch. Unsere Münder klebten aneinander. Und noch
immer umfing uns die eisige Luft …
Wir fielen aufs Bett. Ich zog
ihr den Pullover aus. Ihr Schnaufen gellte mir in den Ohren. Im
Halbdunkel kam ihre Haut zum Vorschein. Ein körperlicher Schmerz
durchzuckte mich – mein Verlangen zerriss mich schier. Ihr Gesicht,
in Dunkelheit getaucht, war mir noch nie so rein, so engelhaft
erschienen, während ihr Körper eine verschüttete Welt, die ich
immer verworfen hatte, in mir weckte. Ich fiel, und ich genoss
diesen Fall grenzenlos.
Unsere Kleider behinderten uns
noch – Ärmel und Knöpfe, die sich unserer Gier widersetzten. Schon
bald war Manon nur noch das Muster der geometrischen Figuren ihrer
Unterwäsche. Weiß, grell, erbarmungslos. Spitzen, die mich
verletzten und mich anzogen, mich schnitten und faszinierten. Ich
stand kurz davor zu explodieren, im körperlichen Sinne: Eine Wolke
aus Blut und Körperfetzen.
Ich fiel auf den Rücken. Über
mir ihre Brüste: schwer, zart, herrlich. Wunder der Schwerkraft.
Ihr Beben durchzuckte mich wie ein Stromschlag. Ich richtete mich
auf. Sie drückte sich wieder gegen meine Schultern, schlüpfte
zwischen meinen Armen hindurch. Ich verlor endgültig die Kontrolle.
Vergaß alles. Das Einzige, was zählte, war die Tatsache, dass wir
uns aneinanderschmiegten, verängstigt, unsäglich berauscht durch
das Verlangen, das uns zueinander trieb.
Sie streichelte, führte und
manipulierte mich. Dieser Moment war von einer solchen Intensität,
dass er in seiner Wucht meine Vergangenheit und meine Zukunft zu
einem Knoten schnürte.
Diese unwiderstehlichen prallen
weißen Brüste mit ihren zitternden dunklen Warzenhöfen, die mein
Gesicht streiften, machten mich matt, kraftlos und voller
Sehnsucht. Ich streckte meine halb glühende, halb gefrorene Hand
nach oben, um sie zu berühren.
Aber die Zeit der
Zärtlichkeiten war vorüber. Manon kauerte auf meinem Bauch und
stützte sich mit ihren Händen unter meinem Nacken ab. Ich begriff
nicht, was geschah. Es war die brutalste Lektion meines Lebens.
Über mich gebeugt, umklammerte sie meinen Hals und begann mit
Hüftbewegungen eine seltsame, beharrliche Suche.
Sie suchte das Objekt ihrer
Lust, näherte sich ihm, ließ es los, umschmeichelte es erneut. Ein
sinnliches Ringen, brutal und feinfühlig zugleich, präzise und
barbarisch, aus dem ich ausgeschlossen war. Ich passte mich an ihr
Schlingern an und spürte, wie in mir die gleiche Lust an der Suche,
die gleiche Beharrlichkeit aufstieg. Wir stimmten uns aufeinander
ein, in unserem Bemühen, dem anderen das zu entwenden, was er für
unseren Genuss bereithielt.
Alles wurde schneller. Unsere
Lippen zerquetschten einander, unsere Finger verhakten sich. Der
Höhepunkt war da, nur einen Hauch entfernt, irgendwo in unserem
Unterleib. Leib an Leib, schwankten, suchten und sondierten wir.
Sie saß noch immer rittlings auf mir und verkeilte sich mit den
Fersen im Bettzeug, jegliche Scham, jegliche Zurückhaltung war
längst vergessen – und ich wusste, dass dies der einzige Weg war,
um zum Höhepunkt zu kommen. Diese tektonische Verdrehung unserer
Körper, dieses wütende Reiben an den Feuersteinen unserer
Geschlechtsteile, bis der Funke endlich übersprang – nur darum ging
es jetzt.
Plötzlich bäumte sie sich auf.
Da packte ich sie an ihren Haaren und zog sie zu mir. Ein Schwung
noch, ein Millimeter, und ich wäre glücklich. Ihre Brüste kehrten
kraftvoll zurück und schwangen wie Glocken dicht über meinem
Gesicht. Plötzlich schlug ein Funken aus den Steinen. Die Glut
ballte sich und schoss wie ein elektrischer Strom durch meine
Gliedmaßen. Noch ein Sekundenbruchteil. Ich stieß ihren Oberkörper
zurück und verschlang sie zum letzten Mal mit den Augen:
hochgerissene Arme, schwellende Brüste, angespannter Bauch,
Reispapier, schwarzer Schamberg …
Die Glut schoss durch mein
Geschlecht.
In dieser Sekunde war ich wie
vernichtet.
Doch schon im nächsten Moment
war ich wieder ich. Die Ekstase war verklungen. Aber ich fühlte
mich wie neugeboren und gereinigt. Ich versank in Trübsinn.
Beschämung. Klare Gedanken. Ich dachte an die Lüge meiner letzten
fünfzehn Jahre. Die ausschließliche Liebe zu Gott. Die
Barmherzigkeit gegenüber den anderen. Der Sex, der exotischen
»kleinen Spielkameradinnen« vorbehalten war. Frommer Selbstbetrug …
Mein männliches Begehren, das unter meiner christlichen Liebe
weiterschwelte. Ich verübelte es Manon fast, dass es ihr gelungen
war, mit wenigen Zärtlichkeiten mein kunstvoll gearbeitetes
Lügengebäude zum Einsturz zu bringen. Dann schwebte ich auf einer
Woge der Wärme. Ich war wieder glücklich.
»Alles in Ordnung?«
Aus ihrer heiseren Stimme klang
Erleichterung, wohlwollende Aufmerksamkeit. Ohne zu antworten,
tastete ich meine Klamotten ab, auf der Suche nach einer Zigarette.
Camel. Feuerzeug. Zug. Ich ließ mich, quer übers Bett, auf den
Rücken fallen. Manon legte ihren Zeigefinger auf mein Gesicht, zog
die Konturen von Stirn und Nase nach. So vergingen mehrere Minuten.
Das Zimmer hatte sich von einem Kühlschrank in einen Ofen
verwandelt. Die Glasscheiben waren feucht beschlagen. Ich leerte
meine Zigarettenschachtel auf den Nachttisch, um sie als
Aschenbecher zu benutzen.
»Lass uns ein Spiel spielen«,
flüsterte sie. »Sag mir, was dir an mir am meisten gefällt …«
Ich antwortete nicht. Ich hatte
einen Flash erlebt, einen Schuss reinen Heroins. Ich spürte in mir
nur noch eine grenzenlose Benommenheit, eine totale
Mattigkeit.
»Na los«, brummte sie. »Sag
schon, was du an mir magst …«
Ich stützte mich auf einem
Ellbogen ab und betrachtete sie. Nicht nur ihr Körper, sondern ihr
ganzes Wesen lag nackt vor mir. Die Nacht riss die Masken und auch
die Gesichter herunter. Übrig blieb nur die Stimme. Und die Seele.
Vorbei die aufgesetzten Mienen, die gesellschaftlichen
Konventionen, die alltäglichen Lügen.
Ich hätte ihr sagen können,
dass in diesem Moment nicht der Liebhaber in mir verstört war,
sondern der Christ angesichts der vollkommenen Entblößung. Es war,
als hätten wir beide eine Beichte abgelegt. Gereinigt von jeder
Schuld, von jedem falschen Schein. Das war das Widersinnige: Aus
der Sünde des Fleischs herauskommend, waren wir so unschuldig wie
noch nie.
Das hätte ich ihr zuflüstern
können … Stattdessen stammelte ich ein paar Banalitäten über ihre
Augen, ihre Lippen, ihre Hände. Wörter, die so abgegriffen waren,
dass sie jede Bedeutung verloren hatten. Sie lachte leise:
»Du bist eine Null, aber das
macht nichts.«
Sie legte sich auf den Bauch
und schmiegte ihr Kinn in ihre Hände:
»Ich sag dir, was ich an dir
mag …«
Ihre Stimme war voller
Dankbarkeit nicht für mich, sondern für das Leben, seine
Überraschungen, seine Freuden. Die Kraft ihrer Worte enthüllte,
dass sie immer an diese Versprechungen geglaubt hatte und ihr diese
Nacht recht gegeben hatte.
»Ich mag deine Locken«, begann
sie, während sie mit den Fingern durch mein Haar strich. »Sie sehen
immer feucht aus, wie Souvenirs des Regens.« Sie strich mit ihrem
Zeigefinger unter meinen Augen entlang. »Ich mag deine Falten, die
wie die Schatten deiner Gedanken sind. Dein Gesicht, das sich in
die Länge zieht. Deine Handgelenke, deine Schlüsselbeine, deine
Hüften, die wehtun und zugleich so weich, so sanft, so cool sind
…«
Sie berührte jeden Körperteil,
wie um sich zu versichern, dass alles in Ordnung war.
»Ich mag deinen Körper,
Mathieu. Seine Lebendigkeit, seine Bewegungen. Die Art, wie du
durch deine Gesten deine Gefühle mitteilst. Wie du plötzlich
unentschlossen mit den Schultern zuckst. Wie du dein Kinn senkst,
um deinen Worten Nachdruck zu verleihen. Wie du dich erschöpft
hinfläzt, als würdest du gleich einschlafen, und zugleich total
erregt, zum Zerreißen angespannt bist. Es gefällt mir, wie du mit
deinem großen Feuerzeug deine Zigaretten anzündest, wie du die
Zigaretten zwischen den Fingerkuppen hältst … Es ist, als würde
alles Feuer fangen: Hand, Arm, Gesicht …«
Sie strich mir über die
Schläfen und fuhr fort:
»Ich mag all diese Ecken und
Kanten, diese Risse und Spalten. Es scheint dir schwerzufallen,
deinen Platz in der Welt zu finden. Es ist, als würdest du dir im
letzten Moment mit Gewalt Zutritt verschaffen. Ohne deiner Sache je
sicher zu sein … Versteh das bitte nicht falsch, aber du hast auch
etwas Weibliches. Aus diesem Grund hatte ich diesen unglaublichen
Orgasmus mit dir. Du kanntest intuitiv meine kleinen Geheimnisse,
meine empfindlichen Punkte … Für dich war das ein vertrautes
Gelände, das sich unter deinen Fingern nach und nach enthüllt hat
…«
Sie lachte laut auf, während
sie meine Hand streichelte:
»Zieh nicht so ein Gesicht! Das
sind Komplimente!«
Dann sagte sie ernst:
»Ich spüre auch eine Distanz,
einen Respekt, fast eine Art Angst vor mir, die mir ein
unwiderstehliches Vergnügen bereitet. Deine Vielschichtigkeit übt
eine magische Anziehung auf mich aus. Du bist so widersprüchlich:
warm, kalt, gefestigt, labil, willensstark, schüchtern, männlich,
weiblich …«
Die Kälte kehrte zurück. Es
fiel mir schwer, ihre Beschreibung auf mich zu beziehen. Sie legte
ihren Arm um meinen Hals und küsste mich.
»Aber vor allem gibt es tief in
dir etwas, was an dir nagt, und was dir eine Geistesgegenwart und
Ausstrahlung gibt, die ich so noch bei niemandem erlebt
habe.«
»Nicht einmal bei Luc?«
Die Frage war mir entschlüpft.
Sie richtete sich auf:
»Weshalb redest du von
Luc?«
»Ich weiß nicht. Du hast ihn
doch gut gekannt, oder? War er hier?«
»Er blieb mehrere Tage. Aber er
hatte keine Ähnlichkeit mit dir. Er war viel labiler.«
»Luc, labiler?«
»Er wirkte entschlossen, aber
in ihm gab es keinen festen Punkt, kein Fundament. Er befand sich
im freien Fall. Während du einen Halt hast, dich an einen Faden
klammerst …«
»Ist zwischen euch etwas
gewesen?«
Sie lachte wieder:
»Du kommst auf Ideen! Diese
Liebe, zumindest diese Form der Liebe, hat bei ihm keinen
Platz.«
»Das meine ich nicht. Hast du
etwas für Luc empfunden?«
Sie zerraufte mir das
Haar:
»Bist du eifersüchtig?« Sie
schmiegte ihren Kopf an meine Schulter. »Nein. Ich wäre nie auf
diese Idee gekommen. Luc lebte auf einem anderen Planeten. Er
sagte, dass er mich liebt, aber das klang hohl.«
»Das hat er tatsächlich
gesagt?«
»Er hat es immer wieder gesagt.
Aber es war wie eine Floskel. Ich habe es nicht geglaubt.«
Plötzlich hatte ich einen
Geistesblitz. Eine Möglichkeit, an die ich noch nicht gedacht
hatte. Ein Selbstmord aus Liebeskummer. Luc hatte sich in Manon
verliebt. Und das war der Grund für seinen versuchten Suizid! Er
hatte mit dem Leben Schluss gemacht, weil ihm eine unbekümmerte
junge Frau eine Abfuhr erteilt hatte. Luc hatte Manon geliebt, mit
seiner ganzen fanatischen Leidenschaft, und sie hatte ihn mit einem
Lächeln abgewiesen und ihn dadurch in die Hölle gestoßen.
»Wie kannst du dir so sicher
sein«, fragte ich schroff. »Vielleicht war Luc wahnsinnig in dich
verliebt.«
»Weshalb sprichst du in der
Vergangenheit?«
Ich antwortete nicht. Mir war
ein Fehler unterlaufen, wie man ihn sich von einem Tatverdächtigen,
der sich in Polizeigewahrsam befindet, mitten in der Nacht wünscht.
Manon sah mich ernst an:
»Was ist los? Du hast mir
gesagt, Luc sei versetzt worden.«
»Ich hab dich angelogen.«
»1st ihm etwas passiert?«
»Er hat vor zwei Wochen
versucht, sich das Lehen zu nehmen. Er hat es überlebt, aber er
liegt im Koma.«
Manon kniete sich vor mir
hin.
»Wie? Wie hat er versucht, sich
umzubringen?«
Ich erzählte ihr die
Einzelheiten. Der Versuch sich, mit Steinen beschwert, zu
ertränken, die Rettung unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine. Wie
bei ihr.
Wir schwiegen. Dann stand Manon
nackt auf und betrachtete, die Stirn ans Fenster gelehnt, durch die
Scheibe die Nacht. Sie wandte mir den Rücken zu und murmelte dann
plötzlich fassungslos:
»Du bist wirklich der dümmste
Polizist, dem ich je begegnet bin.«
Auch Agostina Gedda hatte mir
das gesagt. Ich würde es zu guter Letzt noch glauben …
»Ich hätte es dir eher sagen
sollen, ich weiß, aber …«
»Luc wollte sich nicht das
Leben nehmen.« Sie drehte sich um und kam mit wütendem Blick auf
mich zu. »Verdammt, wieso hast du das nicht begriffen?«
»Was?«
»Das war kein
Selbstmordversuch. Er wollte meinen Todeskampf im Brunnen Punkt für
Punkt am eigenen Leib nachvollziehen.«
Ich verstand nicht, was sie
sagen wollte. Vor mir stehend, packte sie mit beiden Händen meinen
Haarschopf und zog daran:
»Kapierst du denn nicht? Er hat
sich absichtlich ins Koma versetzt, um das Gleiche zu sehen, was
ich damals angeblich gesehen habe! Er hat versucht, eine
Nahtod-Erfahrung herbeizuführen, und gehofft, dass es eine negative
wäre!«
Ich sagte nichts, doch
innerhalb weniger Sekunden war das Bild komplett. Und ich wusste,
dass Manon recht hatte. Über mich gebeugt, schrie sie:
»Und du behauptest, ihn zu
kennen. Er soll dein bester Freund sein? Du liegst völlig daneben!
Luc ist ein Fanatiker. Er war zu allem bereit, um Antworten auf
seine Fragen zu erhalten. Er hat seine Ermittlungen im Jenseits
fortgesetzt! Er hat versucht, sich umzubringen, um selbst dem
Teufel zu begegnen!«
Jedes Wort ein
Peitschenschlag.
Jeder Gedanke ein Pfahl ins
Herz.
Ich konnte nichts mehr sagen –
und es gab auch nichts mehr zu sagen. Manon hatte im Bruchteil
einer Sekunde erraten, worauf ich in zwei Wochen nicht gekommen
war. »Ich habe den Schlund gefunden«, hatte Luc zu Laure gesagt.
Das bedeutete, dass er den Weg gefunden hatte, das Mittel, um mit
dem Leibhaftigen in Kontakt zu treten. Er hatte sein Koma
absichtlich herbeigeführt, um der Hölle einen Besuch
abzustatten!
Luc war aufgebrochen, um in den
Tiefen des menschlichen Unbewussten dem Teufel zu begegnen.