KAPITEL 71
»Fiumicino. International Airport.«
Ich sprang ins Taxi. Ich wollte
Rom so schnell wie möglich verlassen. Das erste Flugzeug nehmen und
möglichst viele Kilometer zwischen mich und diesen gewaltsamen Tod
bringen. »Ein Unfall«, murmelte ich. Die Wörter zitterten in meinem
Mund. »Ein Unfall …«
Via de Lungara. Ich dachte an
meine Reisetasche, die in der Pension geblieben war.
»Pantheon!«, schrie ich. »Via
del Seminario!«
Der Fahrer drehte auf der
Stelle um und überquerte den Tiber auf der Mazzini-Brücke. Ich
versuchte noch einmal meine Gedanken zu sammeln und Ruhe und
Selbstbeherrschung wiederzufinden. Unmöglich. Ich trommelte mit den
Fingern an die Scheibe, mein Kragen war schweißnass. Zum ersten Mal
hatte ich allergrößte Lust, alles hinzuschmeißen. Nach Paris
zurückzukehren und den braven Polizisten in seiner Nische, Quai des
Orfèvres, zu spielen.
Das Taxi hielt. Ich stürzte
hinauf in mein Zimmer, packte meine Sachen zusammen, beglich die
Rechnung und sprang ins Auto. Auf dem Weg zum Flughafen in Rom
wurde mir plötzlich klar, dass ich kein Ziel hatte.
Die Akte Gedda war geschlossen.
Die von Raimo Rihiimäki, dem Esten, den Foucault identifiziert
hatte, ebenfalls. Was den Fall Sylvie Simonis anlangte, so hatte
ich nichts gefunden, obwohl ich die Stadt auf den Kopf gestellt
hatte. Keine Nachricht von Sarrazin, Foucault und Svendsen. Keine
der Spuren, auf die ich sie angesetzt hatte, hatte irgendetwas
ergeben: der Skarabäus, die Flechten, Unital6, die Verknüpfung
aller Informationen … Ein absolut toter Punkt.
Schließlich gelang es mir,
Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Ich hatte es mit drei
verschiedenen Fragenkomplexen zu tun.
Der erste betraf den Mord an
Sylvie Simonis. Ein Mörder in Sartuis. Derjenige, der die
Uhrmacherin gefoltert und Manon gerächt hatte. Wer hatte in die
Baumrinde geritzt: ICH BESCHÜTZE DIE LICHTLOSEN und in den
Beichtstuhl: ICH HABE DICH ERWARTET. Handelte es sich ebenfalls um
einen Wiederbelebten wie Agostina oder Raimo?
Der zweite Fragenkomplex bezog
sich auf die Theorie van Dieterlings. Kein einzelner Mörder,
sondern eine Serie von Mördern. Man musste die neuen Lichtlosen in
ihrer Gesamtheit betrachten, die Bedeutung ihres Rituals
entschlüsseln, verstehen, was sich dahinter verbarg. »Es findet
eine Wandlung statt«, hatte er gesagt. Wandlung und
Prophezeiung.
Die Landschaft zog vorüber. Was
sollte ich tun? Weltweit nach weiteren Fällen Ausschau halten? Zu
welchem Zweck? Die Liste der geständigen Mörder erweitern? Das
Archiv des Kirchenfürsten vervollständigen? Den Drahtzieher der
Mordserie identifizieren? Wenn es der Teufel persönlich war, konnte
ich ihm wohl kaum Handschellen anlegen …
Aber vor allem lief das darauf
hinaus, die Existenz des Teufels zu bejahen. Und das kam für mich
nicht in Frage. Ich musste mich auf die einzige konkrete Frage
konzentrieren, das einzige Rätsel, das einem Kriminalpolizisten
anstand: Wer hatte Sylvie Simonis getötet? Zurück zum
Ausgangspunkt.
Blieb der dritte Fragenkomplex.
Die Killer auf meinen Fersen. Auch sie führten mich zurück zum Fall
Simonis. Einer von ihnen war Cazeviel gewesen. Wer war der andere?
Weshalb wollte man mich ausschalten? Waren sie Sylvies Mörder?
Nein: Diese Söldner hüteten ein Geheimnis. Die Existenz der
Lichtlosen? Ihre jüngste Wandlung? Oder ein anderes Geheimnis
hinter dem Fall Simonis? Auch von dieser Seite gab es keine heißen
Spuren. Es sei denn, der zweite Killer würde ein weiteres Mal
versuchen, mich abzuknallen, und ich könnte ihn befragen … Nicht
gerade eine verlockende Aussicht.
16 Uhr
Der Flughafen Fiumicino in Sicht.
Über den Vororten Roms dämmerte
es bereits. Violette Wolken, gelblicher Himmel. Ich bat Luc um
Hilfe. Was hatte er in diesem Stadium der Ermittlungen beschlossen?
Wie war er weiter vorgegangen? Es bestand ein grundlegender
Unterschied zwischen ihm und mir. Luc glaubte an den Satan, ich
nicht. Das Haupthindernis auf meinem Weg war mein logischer und
rationaler Intellekt. Ich war der Letzte, der in diesem Fall
Fortschritte erzielen konnte …
Luc dagegen hatte gewiss die
Spur der Lichtlosen weiterverfolgt, war den Zeichen auf den Grund
gegangen und hatte sich dem bösen Kern angenähert …
Eine Idee: Sich ein für alle
Mal Gewissheit über die Existenz des Teufels verschaffen.
Ganz sicher sein wollen.
Im Grunde genommen war das
einzige übernatürliche Element im Fall Gedda die physische Heilung
Agostinas. Das einzige unerklärliche Phänomen. Vielleicht hatte das
kleine Mädchen in seinem Koma Halluzinationen gehabt. Eine
höllische Nahtod-Erfahrung. Vielleicht war sie durch dieses
Erlebnis traumatisiert und zu einer Mörderin geworden. Metaphysisch
gesehen, bewies das nichts.
Ihre wunderbare Heilung dagegen
war eine andere Geschichte.
Innerhalb weniger Tage vom
Wundbrand genesen: Das war etwas Konkretes. Das Taxi hielt an. Wir
waren in Fiumicino angekommen. Ich bezahlte den Fahrer.
Abfertigungsgebäude. Schalter. Es gab nur einen Ort auf der Welt,
an dem nachzuvollziehen war, was sich in einer Augustnacht des
Jahres 1984 im Körper Agostinas ereignet hatte.
Die Frau hinter dem Schalter
lächelte mich an:
»Wohin möchten Sie
fliegen?«
»Nach Lourdes.«
Von Rom aus gab es regelmäßige
Flüge in die Marienstadt, da jedoch die Hochsaison vorbei war, ging
heute Abend kein Flug mehr. Der nächste Flieger startete am
nächsten Morgen um 6.15 Uhr. Ich kaufte ein Ticket für die
Business-Klasse und machte mich dann auf die Suche nach einem
Hotel.
Ich fand eine Schlaffabrik
innerhalb des Flughafens, ganz in der Nähe des Rollfelds. Gänge,
fensterlose Zimmer. Spartanisch eingerichtet mit einem Bett und
einer Uhr. Eine Duschkabine in einer Ecke.
Ich verschloss die Tür und ließ
mich angezogen aufs Bett fallen. Meine Kleider waren klebrig von
Schweiß, zerknittert und zerrissen. Ich schloss die Augen. Das
Dröhnen der Flugzeuge über dem Gebäude drang durch die Mauern in
meinen Schädel.
Ein Messer bahnte sich einen
Weg durch die Menge, auf dem Wendelgang von Giuseppe Momo. Es drang
in einen fleischigen Arm unmittelbar vor mir. Als das Blut
herausspritzte, fuhr ich zusammen. Ich blinzelte. Zu wem gehörte
dieser Arm? Wer war der fettleibige Komplize Cazeviels, der mir
schon zwei Mal, in Catania und im Vatikan, den Weg versperrt hatte?
Es kam so weit, dass ich geradezu auf einen weiteren Angriff
hoffte.
Reflexartig umklammerte ich
meine Glock. Mein Körper entspannte sich. Halbschlaf. Die Stimme
von Luc: »Ich habe den Schlund gefunden.« – »Auch ich«, antwortete
ich ihm im Geist, »habe ihn gefunden.« Zumindest kannte ich seine
Existenz. Aber wie sollte ich mich ihm nähern?
Ich dämmerte langsam weg. Jetzt
schwebte ich in einem finsteren Gang. Ein Labyrinth unter der Erde.
Ein rotes Fanal leuchtete schwach. Ich streckte die Hand aus. Eine
Stimme erklang. Es war die sanfte, verführerische Stimme von
Agostina Gedda.
Lex est
quod facimus.
Gesetz ist, was wir tun.