KAPITEL 102

Ich hörte meine Mailbox ab. Corine Magnan hatte mich angerufen. Endlich. Ich wählte ihre Nummer im Hof des Rechtsmedizinischen Instituts, während leichter Sprühregen fiel.
   »Ich habe Sie recht spät angerufen«, hub sie an, »entschuldigen Sie. Meine Arbeitstage in Paris finden kein Ende. Was kann ich für Sie tun? Nicht viel, befürchte ich. Ich darf eigentlich nicht einmal mit Ihnen reden.«
   Sie hatte den Ton vorgegeben. Ich hisste die weiße Fahne.
   »Ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten.«
   »Durey, ich bitte Sie: Halten Sie sich da raus. Ich habe bereits die Augen zugedrückt, als Sie im Jura herumschnüffelten. Ich erinnere Sie daran, dass Sie in dieser Sache keinerlei Befugnisse haben!«
   Ihre Stimme klang schroff, aber ich spürte, dass diese Haltung nur ein Schutzmechanismus war. Allein in Paris, ohne Unterstützung und ohne Kenntnisse, bewacht von den Zerberussen der Kriminalpolizeidirektion 1, zeigt Corine Magnan ihre Krallen, um sich besser durchsetzen zu können.
   »Okay«, sagte ich in versöhnlichem Ton. »Dann sagen Sie mir nur, was Sie heute Morgen im Krankenhaus gemacht haben. Sie ermitteln doch im Mordfall Sylvie Simonis: Was hat der mit den Wahnvorstellungen Lucs zu tun?«
   Es trat ein kurzes Schweigen ein. Magnan sortierte ihre Informationen. Sie überlegte, was sie mir preisgeben wollte und was nicht. Schließlich sagte sie:
   »Die Hypnose von Soubeyras eröffnet eine neue Perspektive auf meinen Fall.«
   »Sie glauben also an die vermeintlichen Visionen und an die Besessenheit.«
   »Was ich glaube, ist nicht weiter von Belang. Was mich interessiert, sind die Auswirkungen dieser traumatischen Erlebnisse auf die Protagonisten meines Falls.«
   »Sprechen Sie offen. Welche Protagonisten?«
   »Meine Hauptverdächtige ist Manon Simonis. Diese junge Frau könnte 1988, in ihrem Koma, das Gleiche erlebt haben wie Luc Sobeyras.«
   »Manon erinnert sich an nichts dergleichen.«
   »Das schließt nicht aus, dass sie eine negative Nahtod-Erfahrung erlebt hat.«
   »Angenommen, sie hat tatsächlich eine solche Erfahrung gemacht und wäre dadurch zu einer Mörderin geworden, was schon recht unglaubwürdig ist: Was für ein Motiv sollte sie haben?«
   »Rache.«
   Ich stellte mich weiter dumm.
   »Wofür?«
   »Durey, hören Sie mit diesem Spiel auf. Sie wissen genauso gut wie ich, dass ihre Mutter 1988 versucht hat, sie umzubringen. Manon könnte sich daran erinnern, auch wenn sie das Gegenteil behauptet.«
   Ein eisiges Kribbeln im Gesicht. Corine Magnan wusste viel genauer über den Fall Bescheid, als ich dachte. In skeptischem Ton fuhr ich fort:
   »Lassen Sie mich zusammenfassen. Manon soll also, während sie im Brunnen mit dem Tod rang, eine negative Nahtod-Erfahrung durchlebt haben. Dieses Erlebnis soll sie dann langsam in ein rachedurstiges Monster verwandelt haben, das vierzehn Jahre wartete, ehe es zuschlug?«
   »Das ist eine Hypothese.«
   »Und Ihr einziges Indiz ist der Schockzustand von Luc Soubeyras?«
   »Ja, und seine Entwicklung.«
   »Man braucht konkrete Beweise, wenn man jemanden festnehmen will.«
   »Aus diesem Grund nehme ich vorläufig niemanden fest.«
   »Wollen Sie Manon erneut vernehmen?«
   »Ja, vor meiner Rückreise nach Besançon.«
   »Das hält sie nicht durch.«
   »Sie ist nicht aus Zucker.« Ihr Ton wurde noch milder. »Durey, Sie sind bei dieser Geschichte Richter in eigener Sache. Und Sie wirken ziemlich gereizt. Wenn Sie Manon wirklich helfen wollen, dann halten Sie sich raus. Ansonsten machen Sie alles nur noch schlimmer.«
   Meine Wut kehrte in gesteigerter Form zurück.
   »Wie können Sie aus der Aussage eines Mannes, der gerade aus dem Koma aufgewacht ist, irgendwelche Schlüsse ziehen? Ich kenne Luc seit zwanzig Jahren. Er ist nicht so, wie er immer ist.«
   »Sie tun so, als würden Sie nicht verstehen. Gerade dieser Zustand interessiert mich. Der psychische Einfluss einer negativen Nahtod-Erfahrung. Ich muss herausfinden, ob ein solches Trauma tatsächlich zu einem Verbrechen führen kann. Und ob Manon während ihres klinischen Todes ein ähnliches Erlebnis hatte …«
   Die Situation wurde immer deutlicher. Mein bester Freund als Kronzeuge gegen die Frau, die ich liebte. Ein wahrhaft tragischer Zwiespalt. Corine Magnon fügte hinzu, wie um mir den Rest zu geben:
   »Ich weiß viel mehr, als Sie ahnen. Agostina Gedda. Raimo Rihiimäki. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Teufelsvision einem Mord dieses Typs vorausgeht.«
   »Wer hat Ihnen von diesen Fällen erzählt?«
   »Luc Soubeyras hat nicht nur ausgesagt, er hat mir auch seine Ermittlungsakte gegeben.«
   Mir wurde schwindlig. Ich hätte daran denken müssen. Ich stammelte:
   »Seine Arbeit ist nur ein Gespinst unhaltbarer Mutmaßungen. Sie haben nichts gegen Manon in der Hand!«
   »Dann brauchen Sie sich ja keine Sorgen zu machen«, versetzte sie in ironischem Tonfall. »Commandant, es ist spät. Rufen Sie mich bitte nicht mehr an.«
   Ich schrie in den Hörer hinein, meine letzte Karte spielend:
   »Eine Aussage unter Hypnose ist rechtlich wertlos! Wie umschiffen Sie die Klippe, dass der Zeuge laut Gesetz seine Aussage ›aus freien Stücken und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte‹ machen muss? Nach der Strafprozessordnung darf auf den Zeugen keinerlei Zwang ausgeübt werden!«
   »Ich sehe, dass Sie juristisch beschlagen sind, das ist schön«, entgegnete sie sarkastisch. »Aber wer spricht von einer Aussage? Ich habe die Ausführungen Luc Soubeyras’ im Rahmen einer psychiatrischen Begutachtung aufgezeichnet. Luc ist ein freiwilliger Zeuge. Ich muss zunächst seinen Geisteszustand überprüfen lassen. In diesem Zusammenhang stellt die Hypnose kein Problem dar. Informieren Sie sich, es gab Präzedenzfälle.«
   Magnan triumphierte. Ich entgegnete ohne rechte Überzeugung:
   »Ihre Ermittlungen gleichen einem Kartenhaus.«
   »Gute Nacht, Commandant.«
   Das Freizeichen ertönte in meiner Hand. Ich starrte fassungslos auf mein Handy. Ich hatte diesen Satz verloren, und ich war sicher, dass mir Magnan nicht alles gesagt hatte. Ich wählte eine andere Nummer. Foucault.
   Es war 0.30 Uhr, aber seine Stimme war klar.
   »Ich hab gerade Feierabend gemacht«, sagte er lachend.
   »Woran arbeitest du?«
   »Eine fantastische Geschichte wie von L’Isle-Adam. Ein Ertrunkener, der kein Wasser in den Lungen hat. Und du, was treibst du? Seit einer Woche …«
   »Hast du Bock auf eine Angelpartie?«
   »Wohin soll’s gehen?«
   »Sag ich dir persönlich. Bist du in der Firma?«
   »Bei mir zu Hause.«
   »Wir treffen uns auf dem Square Jean XXIII.«
   Ich sprang in mein Auto und fuhr über den Pont d’Austerlitz. Die Seine-Uferstraße Richtung Notre-Dame – der Square lag neben der Kathedrale. Ich stellte meinen Wagen auf dem linken Seineufer in der Nähe der Kirche Saint-Julien-le-Pauvre ab und ging dann zu Fuß und inkognito über den Pont de l’Archevêché wieder auf die andere Seineseite.
   Ich stieg über den Drahtzaun. Foucault war schon da, er saß auf der Rückenlehne einer Bank. Sein gelockter Haarschopf hob sich von der grauen Mauer der Kathedrale auf der anderen Seite der Grünfläche ab.
   »Was ist das hier?«, feixte er. »Etwa eine Verschwörung?«
   »Eine Gefälligkeit.«
   »Ich höre.«
   »Eine Untersuchungsrichterin aus Besançon, die sich gegenwärtig in Paris aufhält.«
   »Die für deinen Fall zuständig ist?«
   »Corine Magnan, ja.«
   »Wo hat sie sich einquartiert?«
   »Das will ich von dir wissen. Ich bin ihr heute Morgen über den Weg gelaufen. Sie hat sich an die Typen von der Kriminalpolizeidirektion 1 gewandt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie bei ihnen abgestiegen ist.«
   »Okay, ich mach sie ausfindig. Und dann?«
   »Ich will wissen, was sie über die Tochter von Sylvie Simonis, Manon, weiß.«
   »Die bei dir wohnt?«
   Neuigkeiten sprachen sich schnell herum. Aus Gründen der Diskretion hatte ich mich an das Dezernat zur Kriminalitätsbekämpfung in »Problembereichen« gewandt, um dort mein Observierungsteam anzuwerben. Aber bei der Polizei gibt’s keine Geheimnisse. Ich überging die Frage und fuhr fort:
   »Ich brauche ihre Akte.«
   »Ist das alles? Sie hat sie bestimmt Tag und Nacht bei sich.«
   »Es sei denn, sie wiegt eine Tonne.«
   »Wenn sie eine Tonne wiegt, kann ich sie nicht hinausschmuggeln und kopieren.«
   »Du kriegst das schon hin. Du kopierst die Absätze, die Manon betreffen. Ich möchte wissen, was sie gegen Manon hat.«
   Foucault sprang von der Bank herunter.
   »Ich leg gleich los. Ich ruf dich morgen Früh an.«
   »Nein, sobald du etwas Neues hast.«
   »Ganz sicher.«
   Ich drückte ihm den Arm.
   »Danke.«
   Ich blickte ihm nach, wie er unter den Trauerweiden des Square verschwand, während der Wind und der Geruch von feuchtem Asphalt mich einhüllten. Ich schlotterte, und trotzdem vermittelten mir diese Empfindungen ein Gefühl der Geborgenheit. Ich war zu Hause, in Paris.
   Ich setzte mich auf die Bank. Der Regen war zu einem hauchfeinen, kaum wahrnehmbaren Nieseln geworden. Ich nahm den Faden meiner Gedanken dort wieder auf, wo ich ihn zwei Stunden zuvor abgelegt hatte. Die Hypothese eines Einzeltäters, der in der Lage war, den Körper eines lebenden Menschen in Verwesung zu versetzen und zugleich Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Der »Höllengast« …
   Es fehlte nicht an Fragen. Wie ging er bei der Gehirnwäsche vor? War es ihm gelungen, eine Nahtod-Erfahrung nachzuahmen? Wenn dies der Fall war, wieso waren seine Opfer dann überzeugt davon, diese »Reise« unmittelbar vor oder nach ihrer Bewusstlosigkeit gemacht zu haben? War es ihm gelungen, auch ihre Erinnerungen durcheinanderzubringen?
   Jedenfalls müsste man die technische Seite dieser Halluzinationen genauer erkunden – die chemischen Produkte, die Drogen oder die Methoden der Suggestion, mit denen sich solche Wahnvorstellungen auslösen ließen.
   Plötzlich ging mir ein Licht auf.
   Nur eine Substanz konnte derartige Halluzinationen herbeiführen. Die Schwarze Iboga. Mit ihrer Hilfe könnte der »Höllengast« vielleicht künstlich eine Hölle erzeugen und den Wundergeheilten darin »erscheinen«. Er versetzte sie in einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod, tauchte dann leibhaftig vor ihnen auf und manipulierte sie in ihrer Trance.
   Wieder zurück zum Anfang der Ermittlungen.
   Die Iboga war die Pflanze, mit der alles begonnen hatte …
   Endlich eine direkte Verbindung zwischen dem Mord an Massine Larfaoui, dem Iboga-Dealer, und denen an Sylvie Simonis, Arturas Rihiimäki und Salvatore Gedda … Der »Höllengast« hatte vielleicht die Schwarze Iboga bei Larfaoui gekauft. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu der Vermutung, dass er auch den Kabylen auf dem Gewissen hatte.
   Ich stand auf und atmete tief ein.
   Ich musste mich nochmals in die Akte Larfaoui vertiefen und der Iboga-Spur auf den Grund gehen.
   Aber zuerst einmal musste ich überprüfen, ob meine Hypothese »medizinisch« haltbar war.
Das Herz der Hoelle
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