KAPITEL 112
Strauchelnd rannte ich den Hang hinunter, ohne
mich umzudrehen. Ich wollte den Bunker – das Grabmal des Dämons –
nicht mehr sehen. Ich steckte meine Glock wieder ein und kam zu
meinem Wagen. Ich spürte die eisigen Windstöße unter den formalin-
und blutgetränkten Kleidern, die an meiner Haut klebten. Diese Böen
glichen den Eisenplatten, die bei Röntgenaufnahmen verwendet werden
und so kalt sind, dass sie auf der Haut brennen. Diese Durchlüftung
war eine Wohltat. Sie entfernte die Fliegen, die Würmer, die
Organteilchen. Die Spuren des Irren auf meiner Haut.
Hinter meinem Lenkrad murmelte
ich Gebete, wobei ich vor- und zurückwippte und das Unmögliche
versuchte: Beltreïn zu verzeihen. Ich psalmodierte mit
geschlossenen Augen und angespanntem Körper, aber mit dem Herzen
war ich nicht dabei. Nicht das geringste christliche Mitleid. Weder
für ihn noch für mich.
Ich fuhr los. Als ich die
Reifenabdrücke sah, musste ich an die Spuren denken, die ich
möglicherweise im Innern der Villa zurückgelassen hatte – ich
betrachtete meine Hände. Ich hatte meine Latexhandschuhe
anbehalten. Ich streifte sie ab und steckte sie erleichtert in
meine Tasche.
Mit durchgetretenem Gaspedal
brauste ich los und raste über die Serpentinen, die mich ins Tal
brachten. Meine Scheinwerfer. Ich hatte vergessen, die Scheinwerfer
anzuschalten. Als die Lichter angingen, schien es mir, als sprängen
die Tannen, erschrocken über meine Raserei, zur Seite. Obwohl ich
mit den Nerven völlig am Ende war, ging mir ein Gedanke nicht aus
dem Kopf. Der letzte vor dem Epilog.
Noch immer war ein Mörder auf
freiem Fuß.
Der Mörder von Laure und den
Kindern.
Es war noch nicht vorbei.
Und dann dachte ich noch an
etwas, was keinen Aufschub duldete: Manon. Sie aufspüren, bevor die
anderen sie fassten. Eine Erklärung für den Umstand finden, dass
sich ihre Fingerabdrücke am Tatort fanden, und sie von jedem
Verdacht reinwaschen.
Ich bog in einen Waldweg und
fuhr ein kurzes Stück hinein. Ich stieg aus und tauchte mein
Gesicht in das Laub und die Nadeln, mit denen ich es abrubbelte,
bis es zu bluten anfing. Ich zog meinen Mantel aus, schüttelte und
klopfte ihn ab. Ich streifte mir das Hemd vom Körper und pickte die
letzten Maden zwischen den nassen Falten heraus. Mit kältegeröteter
Haut, von Krämpfen geschüttelt, fiel ich endlich auf die Knie und
hoffte, der Wind würde mich vom Tod und von den Sünden reinigen.
Ich flehte den Sturm an, meine Seele zu läutern …
Abstumpfung. Verlust des
Zeitgefühls. Mit nacktem Oberkörper verharrte ich reglos im eisigen
Wind, ohne dass ich irgendetwas spürte. Dann zeichnete sich langsam
ein Bild in meinem Bewusstsein ab. Camille und Amandine, nach dem
Aufwachen in ihren Hemdchen, verschlafene Gesichter, Kuscheltiere
in den Händen, schütten sich Cornflakes in eine Schale. Das Gesicht
gegen den Humus gepresst, fing ich an zu schluchzen.
Wie viel Zeit war verstrichen?
Keine Ahnung. Ich stand mühsam auf. Mit den Zähnen klappernd,
schleppte ich mich zum Wagen. Ich ließ den Motor an und drehte die
Heizung bis zum Anschlag auf. Nach einer Ewigkeit, während die
Wärme mich wieder zu mir selbst brachte, rief ich Foucault
an.
»Ich bin’s«, sagte ich
röchelnd. »Habt ihr Manon gefunden?«
»Nein.«
»Hast du in meiner Wohnung
nachgeschaut?«
»Dort ist sie nicht. Überall
wimmelt es von Polizei, Mann. Alles, was in Paris Uniform trägt,
ist hinter ihr her!«
Der Gedanke tat mir weh. Ich
sah sie vor mir, verloren in der Stadt, wie sie sich im Schatten
von Hauseingängen an die Wand drückte und unter das
Freitagabendgetümmel mischte. Warum rief sie mich nicht an? Warme
Luft erfüllte mittlerweile den Fahrgastraum, aber ich bibberte noch
immer.
»Und Luc?«
»Den muss man hinter doppelten
Gittern einsperren, bevor man es ihm sagt.«
»Wer sagt’s ihm?«
»Keine Ahnung. Die Ärzte oder
Levain-Pahut.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen,
dass mir das erspart blieb. Ich dachte wieder an die beiden kleinen
Mädchen. Zwei reizende Geschöpfe waren von der Erde verschwunden.
Ich erkannte jetzt das besondere Gesicht meiner Verzweiflung.
Ruanda.
Die Verzweiflung über die
Abwesenheit Gottes.
»Und du«, fuhr Foucault fort,
»wie weit bist du?«
»Es gibt einen weiteren
Toten.«
»In der Schweiz?«
»Ich gebe dir die Adresse
durch. Informier die Polizei in Lausanne.«
»Wer ist es?«
»Moritz Beltreïn. Ein
Arzt.«
»Was ist passiert?«
»Schreibst du mit?«
Ich diktierte ihm die Anschrift
der Villa Parcossola und meinte:
»Ruf aus einer Telefonzelle an.
Anonym.«
Das Bild des von Fliegen
übersäten Arztes kehrte wieder.
»Und sag ihnen, sie sollen sich
ranhalten, wenn sie noch etwas von der Leiche finden wollen.«
»Wieso?«
»Das sehen sie dann
selbst.«
»Wann kommst du zurück?«
»Heute Nacht, mit dem Auto.
Foucault, du musst Manon vor den anderen finden.«
Sein Seufzen verriet
Erschöpfung und Resignation:
»Wenn ich sie aufstöbere,
liefere ich sie aus.«
»Nein, du behältst sie bei dir,
bis ich zurückkomme! Wir führen sie zusammen einem Richter
vor.«
Foucault verabschiedete sich
murrend. Ich fuhr wieder auf die Straße nach Lausanne. Allmählich
wurde ich ruhig, eine Ruhe, die aus einer völligen inneren Leere
erwuchs. Ein posttraumatischer Zustand. Ich konzentrierte mich auf
die Lichter der Autobahn. Diese Anstrengung nahm mich ganz in
Beschlag.
In der Gegend von Vevey läutete
mein Handy.
»Ich bin’s.«
Mir stockte das Herz.
Die Stimme Manons.
»Wo bist du?«
»Bei Mama.«
»Wo?«
»Bei Mama, in Sartuis.«
Ich versuchte mir einen Reim
auf ihre Worte zu machen. Es gelang mir nicht, und so klammerte ich
mich an ein praktisches Detail:
»Hast du den Zug
genommen?«
»Gare de L’Est.«
»Um wie viel Uhr?«
»Ich weiß nicht. Als ich aus
dem Büro der Richterin gekommen bin.«
»Bist du direkt zum Bahnhof
gegangen?«
»Ja.«
»Warst du nicht in Lucs
Wohnung?«
»Nein. Wieso?«
Ichdachte an ihre
Fingerabdrücke in der Wohnung in der Rue Changarnier.
»Du bist nie dort
gewesen?«
»Nein!«
Eines ließen ihre Antworten
klar erkennen: Dass sie nichts von den Morden wusste. Schnelles
Kalkül. Es war 22 Uhr. Nach Besançon brauchte man von Paris aus
mindestens fünf Stunden und eine weitere Stunde bis Sartuis. Manon
war gegen 15 Uhr auf freien Fuß gesetzt worden, also bevor ich
Foucault angerufen und ihn gebeten hatte, sie abzuholen. Das
bedeutete, dass sie sofort den Zug genommen hatte und gerade erst
in Sartuis eingetroffen war. Dieses Timing lieferte ihr ein
unerschütterliches Alibi für das Blutbad an der Familie Soubeyras.
Eine wohlige Wärme durchflutete meinen Körper.
»Hat dich jemand gesehen?«,
fragte ich.
»Nein.«
»Wie bist du von Besançon nach
Sartuis gekommen?«
»Mit einem Taxi.«
Der Fahrer könnte bezeugen,
dass sie in Besançon eingestiegen war. Zur Tatzeit des Mordes in
Paris! Ich würde noch gleich in dieser Nacht mit der Suche nach dem
Fahrer beginnen. Und dann die Anwesenheit der Fingerabdrücke Manons
am Tatort erklären. Eine Intrige.
Aber zuerst einmal musste ich
sie retten.
»Warum bist du dorthin
gefahren?«
»Ich hatte Angst. Sie haben
mich stundenlang ausgequetscht, Mat.«
»Warum hast du mich nicht
angerufen?«
»Ich habe geglaubt, dass du mit
denen unter einer Decke steckst. Ich wollte nicht in deine Wohnung
zurück. Und auch nicht in meine, in Lausanne.«
Manon sprach sehr schnell, wie
ein kleines Mädchen, das mitten in der Nacht unter seiner Bettdecke
flüsterte. Meine Stimme klang wieder kraftvoll, als ich
sagte:
»Du rührst dich nicht vom
Fleck. Ich komme.«