KAPITEL 10
Vorhölle.
Das Wort fiel mir ein, als ich
durch die Türen der Intensivstation ging. Die Vorhölle. Da, wo die
Seelen der Gerechten des Alten Testaments eingesperrt sind, bevor
sie von Jesus befreit werden. Der geheimnisvolle Ort, an dem sich
die Kinder aufhalten, die gestorben sind, bevor sie getauft werden.
Eine schattenhafte, düstere, bedrückende Umgebung, in der man
darauf wartet, dass sich das Schicksal erfüllt. »Zwischen Leben und
Tod«, hatte Svendsen gesagt.
Bekleidet mit einem im Rücken
geschnürten Kittel, einer Haube und Zellstoffgaloschen ging ich den
dunklen Flur entlang. Linker Hand befand sich das
Bereitschaftszimmer der Pfleger, das von einem Nachtlicht erhellt
wurde. Rechter Hand eine Glaswand, dahinter mehrere abgetrennte
Zellen. Nur das Klicken der Beatmungsmaschinen und die Beeps der
Vitalmonitore hallten in der Finsternis wider.
Ich dachte an eine Stelle in
dem der Hölle gewidmeten Vierten Gesang der Göttlichen Komödie von Dante:
Am Rand fürwahr
mich fand ich ob dem Schlunde
Des Jammertals, das
donnernd widerhallt
Von Schreien ohne
Zahl in seinem Grunde.
Tief, dunkel war’s,
voll Nebel, der sich ballt;
Zur Tiefe tauchend,
konnt in all den Weiten
Nicht Raum mein Aug
erkennen noch Gestalt.
Nummer 18.
Lucs Zimmer.
Er war mit Riemen an ein Bett
gefesselt, dessen Kopfteil erhöht war. Durchsichtige Schläuche
schlängelten sich um ihn. Eine Sonde war in ein Nasenloch
eingeführt worden, eine andere in den Mund. Sie waren an einen
schwarzen Blasebalg angeschlossen, der sich raschelnd öffnete und
schloss. Eine Infusion im Hals, eine weitere im Unterarm. Ein Clip,
der an einem seiner Finger steckte, leuchtete wie ein Rubin. Rechts
stand ein schwarzer Bildschirm, über den grüne Lichtkurven
wanderten. Über dem Bett hingen Klarsichtbeutel, gefüllt mit
Infusionslösungen.
Ich ging näher heran. Es heißt,
man soll mit Menschen, die im Koma liegen, sprechen. Ich öffnete
die Lippen, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich
beschloss zu beten. Ich kniete mich hin und bekreuzigte mich. Ich
schloss die Augen und flüsterte mit gesenktem Kopf: »Ich vertraue
auf dich, mein Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist …«
Ich stockte. Ich konnte mich
nicht konzentrieren. Ich gehörte nicht hierher, ich gehörte auf die
Straße, auf der Suche nach der Wahrheit. Ich stand wieder auf, mit
einer Gewissheit im Herzen: Ich könnte ihn erwecken. Ich könnte ihn
retten. Unter einer Voraussetzung: Ich musste herausfinden, warum
er das getan hatte. Meine Erkenntnisse würden ihn aus der Vorhölle
herausholen!
Im Eingangsbereich der Station
sprach ich eine Sekretärin an und bat sie, Dr. Éric Thuillier
herbeizurufen – den Neurologen, mit dem zu sprechen mir der
Anästhesist tags zuvor geraten hatte.
Ich musste ein paar Minuten
warten, bis der Arzt erschien. Er war um die Vierzig und sah aus
wie ein Intellektueller. Oxford-Hemd, halsenger Pulli, eine zu
kurze, zerknitterte Kordhose. Mit seinem strubbeligen Haar machte
er einen etwas ungepflegten Eindruck, den jedoch seine Hornbrille
widerlegte.
»Docteur Thuillier?«
»Ja.«
»Commandant Mathieu Durey,
Mordkommission. Ich bin ein enger Freund von Luc Soubeyras.«
»Ihr Freund hat großes Glück
gehabt.«
»Haben Sie ein paar Minuten
Zeit? Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.«
»Ich muss in ein anderes
Stockwerk. Kommen Sie mit.«
Ich folgte ihm durch einen
langen Flur. Thuillier legte mir seine Sicht der Dinge dar, ohne
dass ich etwas Neues erfuhr. Ich unterbrach ihn:
»Besteht Aussicht, dass er
wieder aufwacht?«
»Das kann ich nicht sagen. Sein
Koma ist tief. Aber ich habe schon Schlimmeres gesehen. In
Frankreich fallen jedes Jahr über zweihunderttausend Menschen ins
Koma. Nur fünfunddreißig Prozent wachen unversehrt wieder
auf.«
»Und die anderen?«
»Sterben, bekommen Infektionen
oder vegetieren hirngeschädigt vor sich hin.«
»Man hat mir gesagt, er sei
fast zwanzig Minuten klinisch tot gewesen.«
»Ihr Freund leidet an einem
sogenannten anoxischen Koma, das durch Atemstillstand hervorgerufen
wird. Sein Gehirn wurde eine Zeit lang nicht mit Sauerstoff
versorgt. Aber wie lange genau? Zweifellos sind in diesem Zeitraum
Milliarden von Nervenzellen abgestorben, vor allem im Bereich der
Großhirnrinde, die die kognitiven Funktionen steuert.«
»Was bedeutet das
konkret?«
»Falls Ihr Freund aufwacht,
wird er zwangsläufig unter Folgeschäden leiden, die leicht oder
auch schwer sein können.«
Ich spürte, wie ich erbleichte.
Ich wechselte das Thema:
»Und wir? Ich meine: die
Menschen in seinem Umfeld. Können wir etwas tun?«
»Sie können Pflegemaßnahmen
durchführen. Zum Beispiel, ihn massieren oder ihn einkremen, um zu
verhindern, dass seine Haut austrocknet. Sie können so körperliche
Nähe zu ihm herstellen.«
»Bringt es etwas, mit ihm zu
sprechen? Ich habe gehört, dass es hilfreich sein könnte.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es
nicht. Niemand weiß Genaueres. Meine Tests haben ergeben, dass Luc
auf gewisse Reize reagiert. Es sind sogenannte ›Äußerungen eines
residualen Bewusstseins‹. Also warum nicht? Vielleicht tut ihm eine
vertraute Stimme gut? Und auch für den, der mit einem Patienten
spricht, kann es eine Erleichterung sein.«
»Haben Sie seine Frau
getroffen?«
»Ich habe ihr das Gleiche
gesagt wie Ihnen.«
»Was für einen Eindruck hatten
Sie von ihr?«
»Sie war erschüttert. Und auch,
wie soll ich sagen … etwas starrsinnig. Die Situation ist tragisch,
aber man muss sich damit abfinden.«
Er stieß eine Tür auf und ging
die Treppe hinunter. Ich folgte ihm. Über die Schulter sagte
er:
»Ich wollte Sie noch etwas
fragen. War Ihr Freund in ärztlicher Behandlung? Hat er Spritzen
bekommen?«
Diese Frage wurde mir zum
zweiten Mal gestellt.
»Stellen Sie mir die Frage
wegen der Einstichstellen?«
»Haben Sie eine Erklärung
dafür?«
»Nein, aber ich kann Ihnen
versichern, dass er keine Drogen nahm.«
»Sehr schön.«
»Ändert das etwas?«
»Ich muss bei der Diagnose
alles berücksichtigen.«
Als er das untere Stockwerk
erreicht hatte, wandte er sich mit einem betretenen Lächeln zu mir
um. Er nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken.
»Na schön, ich muss jetzt los.
Wir können nur eines tun: Warten. Die ersten Wochen sind
entscheidend. Sie können mich jederzeit anrufen.«
Er grüßte mich und verschwand
hinter der Schwingflügeltür. Ich ging hinunter ins Erdgeschoss. Ich
versuchte, mir Luc als einen Drogenabhängigen vorzustellen.
Undenkbar! Aber woher kamen diese Einstiche? War er krank? Hätte er
das vor Laure verbergen können? Auch das müsste ich
überprüfen.
Im Hof der Notaufnahme in der
Nähe des Eingangs der Abteilung für kranke Strafgefangene sah man
ebenso viele blaue Uniformen wie weiße Kittel. Ich schlüpfte
zwischen zwei Einsatzwagen der Polizei durch und gelangte zum
Portal.
In diesem Moment überkam mich
das Gefühl, heimlich beobachtet zu werden, und ich drehte mich
um.
Abgestellte Rollstühle waren
wie Einkaufswagen ineinandergeschoben und durch eine Kette
miteinander verbunden. Im letzten lag Doudou.
Er hatte die Rückenlehne des
Stuhls bis zum Anschlag heruntergeklappt und sich hineingefläzt. Er
ließ mich nicht aus den Augen und hielt in seiner rechten Hand eine
Zigarette. Ich nickte ihm leicht zu und ging durch den Vorbau ins
Gebäude.
»Ein Geheimnis«, sagte ich mir.
»Die Männer von Luc haben irgendein verdammtes Geheimnis.«