KAPITEL 85

In Polen wurde es früher dunkel. Oder es braute sich ein Gewitter zusammen. Oder meine Wahrnehmung von Hell und Dunkel hatte sich verändert. Als ich zu der genannten Zeit in die Klostergärten zurückkehrte, schien es mir, als wären die Bäume, Sträucher und Kirchenfenster bereits in Finsternis gehüllt. Nur ein quecksilbriges Schimmern hielt sich noch zwischen den Nadeln der Tannen, den Zweigen der Buchsbäume, den Figuren der Glasmalereien an den Fenstern.
   Ich ging in den Hof hinein. Plötzlich entdeckte ich einen weißen Fleck am Fuß einer Säule mit dem heiligen Stanislas. Ich sah das helle Haar und musste unwillkürlich an die Oper Manon von Massenet denken, die ich während meines Studiums so oft gehört hatte – insbesondere an jene Phrase, als die Heldin zum ersten Mal dem Chevalier Des Grieux begegnet: »Jemand! Schnell zu meiner Bank aus Stein …«
   Drei Schritte noch, und eine heftige Erregung durchzuckte mich, als hätte mich eine Kugel in die Brust getroffen.
   Sie war da. Manon Simonis.
   Das Phantom, mit dem ich seit Tagen umging, ohne zu wissen, ob es wirklich existierte. Sie saß auf einer Bank bei der Säule, den Kopf über ein Buch geneigt. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie sie heute wohl aussah, da sich bei mir das Bild des kleinen Mädchens mit den weißen Augenbrauen festgesetzt hatte. Aber ich hätte mir niemals die Erscheinung ausmalen können, die sich vor mir abzeichnete.
   Manon hatte jetzt hellbraunes Haar, und ihre Statur hatte nichts mehr mit dem schmächtigen Kind auf den Fotos gemein. Sie war eine athletische Frau mit kräftigen Schultern geworden. Unter einem weißen Pullover mit großen Fransen zeichneten sich üppige Formen ab – und ihre Hände erschienen mir aus der Entfernung riesengroß.
   Ich ging noch näher heran und konnte ihr Profil erkennen. Erst jetzt fand ich die vollkommenen Gesichtszüge des Kindes aus Sartuis wieder. Die gerade, sanfte Nase war von mustergültiger Ebenmäßigkeit. Sie wurde überragt von zwei großen niedergeschlagenen Augen. Manon las. Ihr konzentrierter Gesichtsausdruck wurde durch eine hochgezogene Braue unterstrichen, und sie trug eine Hippie-Frisur.
   Ich hustete. Sie hob den Kopf und lächelte mir zu. Im gleichen Moment hatte ich das Gefühl, von einer starken Kraft erschüttert zu werden, die mich förmlich aus mir selbst herausschleuderte. Eine Blendung. Aber nicht ich selbst erlebte es. Es war ein zweites, äußeres Bewusstsein, wie ein geflohener Doppelgänger meines Ichs, der die Wirkung des Erlebnisses auf den wahren Mathieu abschätzte. Gleichzeitig flüsterte mir eine Stimme zu: »Du bist bereit. Deine Ermittlungen waren letztlich nur eine Vorbereitung auf diese Begegnung.«
   »Sind Sie der französische Polizist?«
   Sie lächelte, und zwischen ihren leicht geöffneten Lippen schimmerten ihre Schneidezähne wie Elfenbein. Manon rückte zur Seite, um mir auf der Bank Platz zu machen. Diese Bewegung ließ ihre üppigen Formen hervortreten. Aus dem blassen Mädchen war eine junge Frau geworden, die an die weißen und rosafarbenen Pinup-Girls der Playboy-Kalender erinnerte. Sie schwenkte ihr Buch mit dem vergilbten Deckel:
   »Sie haben hier ein paar französische Bücher. Nur religiöses Zeug. Ich kenne es schon auswendig.«
   Sie zählte die Titel auf, aber ich hörte sie nicht. All meine Sinne waren durch den Schock dieser Begegnung wie betäubt. Als hätte mich eine Detonation halb taub gemacht, oder als wäre ich durch ein starkes Licht geblendet worden. Ich bemühte mich, in die Gegenwart zurückzukehren.
   »Wissen Sie, warum ich hier bin?«, fragte ich.
   »Andrzej hat es mir gesagt. Sie sind hier, um mich zu befragen.«
   »Mein Besuch scheint Sie nicht zu überraschen.«
   »Ich verstecke mich seit drei Monaten. Ich habe damit gerechnet, dass man mich aufspürt. Der Polizei scheint es großen Spaß zu machen, mich zu vernehmen.«
   Was wusste sie über den neuesten Stand der Ermittlungen? Wusste sie von Lucs Selbstmordversuch? Von dem Tod Stéphane Sarrazins? Nein. Wer hätte sie hier, zwischen diesen schmucklosen Mauern, informieren sollen. Zamorksi mit Sicherheit nicht.
   Ich setzte mich auf die Bank. Mit einem Geschmack von Papier im Mund fuhr ich fort:
   »Ich bin kein Ermittler. Zumindest nicht in dem Sinne, den Sie damit verbinden. Ich habe keinen offiziellen Auftrag.«
   »Was tun Sie dann hier?«
   »Ich bin ein Freund von Luc, Luc Soubeyras.«
   Sie schüttelte ruckartig den Nacken. Ihr Lächeln verschwand hinter glatten Haarsträhnen. In dem Dämmerlicht erinnerte sie an die Fotos von David Hamilton oder an die Bilder der »Flower Power« der siebziger Jahre. Halsketten aus Samen und Blumen im Haar. Ich war zu jung, um diese Epoche gekannt zu haben – aber ich hatte sie mir immer als eine gesegnete Zeit vorgestellt. Eine Ära des Idealismus, der Revolte, des Ausbruchs musikalischer Kreativität. Vor mir befand sich eine dieser Feen der Vergangenheit.
   »Wie geht es ihm?«, fragte sie beiläufig.
   »Sehr gut«, log ich. »Er wurde versetzt. Ich führe jetzt die Ermittlungen insgeheim weiter.«
   »Dann haben Sie die Reise umsonst gemacht.«
   »Wieso?«
   »Ich kann Ihnen nichts sagen.«
   Sie neigte den Kopf zur Seite und deklamierte in leierndem Tonfall:
   »Erinnern Sie sich, was am 12. November 1988 geschehen ist? Nein. Wissen Sie, wer Sie in dem Brunnen zu ertränken versucht hat? Nein. Erinnern Sie sich an das anschließende Koma? Nein. Verdächtigen Sie irgendjemanden des Mordes an Ihrer Mutter? Nein. Ich könnte lange so weitermachen … Auf alle Fragen habe ich nur eine Antwort: Nein.«
   Ich schloss die Augen und atmete den intensiver werdenden Duft von Pflanzen und Laub ein. Mit der Dämmerung war die Feuchtigkeit gekommen. Es war ein Gewitter, das sich zusammenbraute, aber in einer kälteren, drückenderen Version als im Jura. Ein polnisches Gewitter. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte ich keine Lust zu rauchen. Auf dem Einband des Buches las ich den Titel Die enge Pforte von André Gide.
   »Gefällt es Ihnen?«, sagte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
   Sie machte ein unschlüssiges Gesicht. Sie hatte fleischige Lippen. Langsam regte sich eine Kraft in mir. Wie sahen wohl die Höfe ihrer Brustwarzen aus? Weich und rosa wie dieser Mund? Kein heißes, befremdliches, beschämendes Verlangen, wie ich es gegenüber der Direktorin des Gefängnisses von Malaspina empfunden hatte. Sondern ein getragenes, voll entwickeltes, von jedem Gedanken abgelöstes Begehren.
   Ich bohrte nach:
   »Mögen Sie diese Geschichte nicht?«
   »Ich finde sie … schwach.«
   »Können Sie mit der Suche der jungen Frau nichts anfangen?«
   »Für mich ist die Religion ein Fenster, das weit offen steht. Gewiss nicht dieses engstirnige Zeug aus diesem Roman.«
   Als Jugendlicher hatte ich das Buch Gides zwanzig Mal gelesen. Das Schicksal einer jungen Frau, die Gott ihrem Verlobten, die geistliche Liebe der fleischlichen Sinnenlust vorgezogen hatte. Heute erinnerte ich mich nur noch an die beiden Jugendlichen im Buch, die wie Tote sprachen.
   Ich wagte einen Kommentar:
   »Gide spricht von der Selbstaufopferung, die die Gemeinschaft mit Gott verlangt. Diese Herausforderung ist eine Pforte, ein Durchgang, ein Filter. Am Ende findet man die Reinheit, die …«
   Sie wischte meine Überlegungen mit lässiger Geste beiseite. Ich stellte mir noch einmal ihre Rundungen unter dem Pullover vor, das Gespinst der blauen Äderchen auf ihrer weißen Haut.
   Die Hitze in mir nahm ständig zu. Eine unwiderstehliche und vertraute Empfindung. Ich hatte eine Erektion.
   »Was für ein Opfer?«, fragte sie mit festerer Stimme. »Man soll sich selbst zerstören, um zu Gott zu gelangen? Das Gegenteil ist wahr! Man muss man selbst sein, sich selbst zuhören, um das Seelenheil zu finden. Das ist die Botschaft Christi: Gott ist in uns!«
   »Sind Sie Katholikin?«
   »Wenn ich es nicht wäre, wäre ich es geworden. Alles andere spielt doch keine Rolle!«
   Sie blätterte mechanisch in ihrem Buch. Sie machte plötzlich ein ernstes Gesicht. Mir wurde klar, dass die erste Manon nur das Vorzimmer zu einer zweiten, verborgenen Manon war. Ihr Gesicht war jetzt hart, angespannt, finster. In der jungen Frau schlummerte eine zweite Person, die ernst, streng und verängstigt war. Eine Schönheit der Nacht.
   Mir wurde bewusst, dass sie noch immer sprach:
   »Verzeihung, es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren …«
   Sie lachte rau, fast männlich. Doch sofort kam das Lichtwesen wieder zurück. Ihre kleinen Schneidezähne schimmerten zwischen ihren Lippen so hell wie unvergängliche Schneeflocken:
   »Wollen wir uns nicht duzen? Ich habe gerade gesagt, dass ich hier nicht viel Besuch bekomme.«
   »Sie … langweilst du dich?«
   »Ich langweile mich zu Tode, um es deutlich zu sagen.«
   Unsere Antworten wirkten festgelegt wie in einem Film, nur dass sie nicht logisch, nicht aufeinander abgestimmt waren, als wären die Seiten des Drehbuchs durcheinandergeraten.
   »Früher«, fuhr Manon fort, »habe ich Biologie studiert. Ich hatte Freunde, Prüfungen, ging in Cafés, in denen ich gern Zeit vertrödelte. Ich war von meinen alten Ängsten, meiner ewigen Wachsamkeit kuriert …«
   Sie hatte ein Bein angewinkelt und spielte an den Fransen ihrer Jeans:
   »Und dann kam der letzte Sommer. Meine Mutter verschwand. Ich musste mich allein all den Fragen der Polizei stellen, ich fühlte mich bedroht durch irgendetwas, irgendwen. Plötzlich war der Albtraum wieder da. Andrzej ist aufgetaucht, und er hat mich dazu überredet, hier Zuflucht zu suchen. Er ist sehr überzeugend. Heute weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Aber wenigstens fühle ich mich in Sicherheit.«
   Regen. Eine neue Kühle wehte durch die Galerie. Ich schwieg. Ich muss finster dreingeblickt haben. Manon lachte wieder und streichelte mir die Wange:
   »Ich hoffe, du bleibst! Wir werden uns beide zu Tode langweilen!«
   Die Berührung ihrer Finger elektrisierte mich. Mein Verlangen verschwand, und an seine Stelle trat ein größeres, umfassenderes Gefühl. Ein Rausch, der bereits der Benebelung durch die Liebe glich. Ich saß in der Falle. Wo war die Manon, die ich mir vorgestellt hatte? Die kleine Besessene, die aus dem Totenreich zurückgekehrt war? Die Frau, die des Mordes verdächtig war, des Pakts mit dem Teufel, der Ausbreitung des Bösen?
   »Es ist Zeit für Radio Vatikan!«, rief sie aus, als sie auf ihre Uhr sah. »Das ist hier die einzige Zerstreuung. Es gibt nicht einmal einen Fernseher, man glaubt es nicht!«
   Sie stand auf. Der Regen peitschte durch die Galerie und benetzte unsere Gesichter:
   »Komm. Wir kochen uns nachher einen kleinen Borschtsch.«
Das Herz der Hoelle
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