KAPITEL 1

»Zwischen Leben und Tod.«
   Eric Svendsen hatte eine Schwäche für Floskeln. Ich hasste ihn dafür, jedenfalls heute. Ein Gerichtsmediziner sollte sich auf einen klaren, präzisen Bericht beschränken – basta. Aber der Schwede konnte nicht anders: Er war ein hoffnungsloser Phrasendrescher …
   »Luc wird entweder jetzt aufwachen«, fuhr er fort, »oder gar nicht mehr. Sein Körper funktioniert, aber sein Bewusstsein ist an einem toten Punkt. Er schwebt zwischen zwei Welten.«
   Ich saß im Wartezimmer der Intensivstation. Svendsen stand im Gegenlicht. Ich fragte ihn:
   »Wo ist es eigentlich passiert?«
   »In seinem Landhaus in der Nähe von Chartres.«
   »Weshalb wurde er hierher verlegt?«
   »Das Krankenhaus in Chartres ist für so schwere Notfälle nicht ausgerüstet.«
   »Warum wurde er ausgerechnet hierher, ins Hôtel-Dieu, gebracht?«
   »Weil alle verletzten Polizisten hier behandelt werden.«
   Ich rutschte auf meinem Stuhl nach hinten. Ein Schwimmer bei den Olympischen Spielen, bereit zum Kopfsprung. Mir wurde übel von dem Geruch der Desinfektionsmittel, der durch die geschlossene Doppeltür drang und sich mit der Hitze vermischte. Alle möglichen Fragen schwirrten mir durch den Kopf:
   »Wer hat ihn gefunden?«
   »Der Gärtner. Er hat ihn im Fluss entdeckt, in der Nähe des Hauses, und ihn in letzter Minute aus dem Wasser gezogen. Um 8 Uhr morgens. Zufällig war ein Notarztwagen in der Nähe. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen.«
   Ich stellte mir den Schauplatz vor. Das Haus in Vernay, die Rasenfläche mit den angrenzenden Feldern, den hinter üppigem Grün verborgenen Fluss, das dichte Unterholz am anderen Ufer. Wie viele Wochenenden hatte ich dort verbracht …? Ich sprach das verbotene Wort aus:
   »Wer hat von Selbstmord gesprochen?«
   »Die Rettungssanitäter. Sie haben es in ihrem Bericht geschrieben.«
   »Wieso kann es kein Unfall gewesen sein?«
   »Der Körper war mit Gewichten beschwert.«
   Ich blickte auf. Svendsen breitete zum Zeichen seiner Ratlosigkeit die Arme aus. Im Gegenlicht wirkte er wie ein Scherenschnitt. Ein hagerer Körper und fülliges krauses Haar, rund wie eine Mistelbeere.
   »Luc trug an der Hüfte mit Draht befestigte Brocken von Betonsteinen. Eine Art Bleigürtel, wie ihn Taucher benutzen.«
   »Könnte es nicht Mord sein?«
   »Red keinen Stuss, Mat. Dann hätte man ihn sicher mit drei Kugeln im Bauch gefunden. Aber es gibt keinerlei Hinweise auf Gewaltanwendung. Er hat sich ertränkt, daran gibt es nichts zu deuteln.«
   Ich dachte an Virginia Woolf, die sich ihre Taschen mit Steinen vollgestopft hatte, bevor sie sich in Sussex, in England, in einem Fluss ertränkt hatte. Svendsen hatte recht. Der Schauplatz der Tat ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Jeder andere Polizist hätte sich mit seiner Dienstwaffe eine Kugel in den Kopf gejagt. Luc aber hatte Sinn für Rituale – und für heilige Stätten. Vernay, für dessen Erwerb, Restaurierung und Einrichtung er sich krummgelegt hatte. Ein perfektes Refugium.
   Der Gerichtsmediziner legte mir die Hand auf die Schulter.
   »Er ist nicht der erste Polizist, der Selbstmord begeht. Ihr bewegt euch am Rand des Abgrunds und …«
   Wieder Floskeln. Ich hörte nicht mehr hin und dachte an die Statistiken. Im Vorjahr hatten sich in Frankreich fast einhundert Polizisten erschossen. Seine berufliche Laufbahn mit Selbstmord zu beenden schien gang und gäbe.
   Im Flur war es noch dunkler geworden. Äthergeruch, drückende Hitze. Wann hatte ich zum letzten Mal mit Luc gesprochen? Seit wie vielen Monaten hatten wir nichts mehr voneinander gehört? Ich sah Svendsen an.
   »Und du, was machst du hier?«
   Er zuckte mit den Schultern.
   »Sie hatten mir eine Leiche gebracht. Einen Einbrecher, Schlaganfall während eines Einbruchs. Die Typen, die ihn brachten, kamen vom Hôtel-Dieu und haben mir von Luc erzählt. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin hergekommen. Meine Klienten können warten.«
   Seine Worte riefen mir die Stimme von Foucault, meinem Gruppenleiter, in Erinnerung, der mich vor einer Stunde angerufen hatte: »Luc hat Schluss gemacht!«
   Die Migräne in meinem Kopf wurde stärker.
   Ich musterte Svendsen genauer. Ohne weißen Kittel kam er mir unwirklich vor. Doch er war es, kein Zweifel: Seine kleine Hakennase und seine kneiferähnliche Brille waren unverwechselbar. Ein Pathologe an Lucs Bett … Er würde ihm Unglück bringen.
   Die Doppeltür am Eingang der Station ging auf. Ein untersetzter Arzt in einem zerknitterten grünen Kittel tauchte auf. Ich erkannte ihn sofort: Christophe Bourgeois, Anästhesist und Intensivmediziner. Vor zwei Jahren hatte er versucht, einen psychopathischen Zuhälter zu retten, der bei einer Razzia im 18. Arrondissement, in der Rue Custine, in die Menge geschossen hatte. Der Mann hatte zwei Polizisten niedergestreckt, bevor eine Kugel vom Kaliber .45 sein Rückgrat durchschlug – eine Kugel aus meiner Pistole.
   Ich stand auf und ging Christophe entgegen. Er runzelte die Stirn.
   »Sie kommen mir bekannt vor.«
   »Mathieu Durey, Commandant bei der Mordkommission. Der Fall Benzani im März 2000. Ein Ganove, der niedergeschossen wurde und hier verstarb. Letztes Jahr haben wir uns vor dem Gericht in Créteil wiedergesehen, wo der Prozess in Abwesenheit stattfand.«
   Der Mann machte eine Geste, die besagte: »Ich begegne so vielen Leuten …« Er hatte dichtes weißes Haar, ein beeindruckender, vitaler Mann. Er sah zur Intensivstation hinüber.
   »Sind Sie wegen des Polizisten da, der im Koma liegt?«
   »Luc Soubeyras ist mein bester Freund.«
   Er verzog das Gesicht, als bedeute das noch mehr Ärger.
   »Wird er überleben?«
   Der Arzt öffnete das Band seines Kittels in seinem Rücken.
   »Es ist ein Wunder, dass sein Herz wieder schlägt«, sagte er schnaufend. »Als man ihn aus dem Wasser zog, war er tot.«
   »Was wollen Sie damit sagen?«
   »Klinisch tot. Wäre das Wasser nicht so kalt gewesen, hätte man nichts mehr für ihn tun können. Aber durch die Unterkühlung war die Durchblutung des Körpers schwächer. Die Notärzte in Chartres haben unglaubliche Geistesgegenwart bewiesen und das Unmögliche versucht, indem sie sein Blut künstlich erwärmten. Und das Unmögliche hat funktioniert. Eine echte Auferstehung.«
   »Was haben sie getan?«
   Svendsen, der näher gekommen war, schaltete sich ein:
   »Ich erkläre es dir.«
   Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Der Arzt sah auf seine Uhr.
   »Ich habe jetzt wirklich keine Zeit.«
   Ich explodierte:
   »Mein bester Freund liegt hier nebenan. Also nehmen Sie sich die Zeit gefälligst!«
   »Verzeihen Sie«, sagte der Doktor lächelnd. »Die Diagnose ist noch nicht abgeschlossen. Wir müssen noch herausfinden, wie tief sein Koma ist.«
   »Wie steht es mit seinen Körperfunktionen?«
   »Die Vitalfunktionen sind wieder normal, aber wir können nichts tun, um ihn aus dem Koma aufzuwecken … Und falls er aufwacht, können wir nicht vorhersagen, in welchem Zustand. Alles hängt von den Hirnverletzungen ab. Unser Freund hatte die Schwelle des Todes überschritten, verstehen Sie? Die Sauerstoffversorgung war eine Zeit lang unterbrochen, was zweifellos Schäden verursacht hat.«
   »Gibt es nicht verschiedene Formen des Komas?«
   »Ja, mehrere. Den vegetativen Zustand, in dem der Patient auf gewisse Reize reagiert, und das echte Koma. Ihr Freund scheint sich genau an der Grenze zwischen den beiden zu befinden. Aber Sie sollten den Neurologen, Éric Thuillier, aufsuchen.« Ich schrieb den Namen in mein Notizbuch. »Er führt gerade die Tests durch. Melden Sie sich für morgen an.«
   Er sah erneut auf die Uhr und senkte dann die Stimme:
   »Etwas anderes … Ich habe nicht gewagt, seine Frau danach zu fragen, aber hat Ihr Freund Drogen genommen?«
   »Nein. Wieso?«
   »Wir haben in seiner Ellenbeuge Einstichstellen gefunden.«
   »War er vielleicht in ärztlicher Behandlung?«
   »Seine Frau sagt, nein.«
   Der Arzt zog seinen Kittel aus und reichte mir die Hand:
   »Ich muss jetzt auf eine andere Station.«
   Ich sah, wie die Türen ein weiteres Mal aufgingen. Laure. Auch Lucs Frau trug einen Kittel aus Zellstoff und eine Haube. Sie taumelte eher, als dass sie ging. Ich eilte auf sie zu. Sie wich zurück, als ob ihr meine Stimme oder meine Anwesenheit Angst einjagte. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und unergründlich.
   »Laure, wenn du irgendetwas brauchst …«
   Sie schüttelte den Kopf. Sie war noch nie eine Schönheit gewesen, aber jetzt glich sie einem Gespenst. Sie sprach leise und hastig:
   »Gestern Abend hat er uns gesagt, wir sollten ohne ihn zurückfahren. Er wollte in Vernay bleiben. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht …«
   Ihr Flüstern wurde unhörbar. Ich hätte sie in den Arm nehmen sollen, aber ich brachte es nicht über mich. Weder jetzt noch zu einem anderen Zeitpunkt. Ich sagte aufs Geratewohl:
   »Er wird durchkommen, ganz bestimmt. Man …«
   Sie warf mir einen eisigen Blick zu. Ihre Augen funkelten feindselig.
   »Das kommt nur von eurem Job, eurem bescheuerten Job.«
   »Aber … es ist …«
   Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, brach Laure in Tränen aus. Wieder hätte ich gern mein Mitgefühl zum Ausdruck gebracht, aber ich konnte Laure nicht berühren. Ich schlug die Augen nieder und bemerkte, dass sie den Mantel, den sie unter dem Kittel trug, falsch zugeknöpft hatte. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre angesichts dieses Details selbst in Schluchzen ausgebrochen. Nachdem sie sich die Nase geschnäuzt hatte, sagte sie leise:
   »Ich muss gehen … Die Kinder warten.«
   »Wo sind sie?«
   »In der Schule. Ich habe sie dort gelassen.«
   Ich hatte ein Rauschen in den Ohren. Unsere Stimmen wurden wie von Watte gedämpft.
   »Soll ich dich hinfahren?«
   »Ich bin mit dem Auto gekommen.«
   Während sie sich abermals schnäuzte, beobachtete ich sie. Schmales Gesicht, Hasenzähne, an der Seite graue Locken, die den Schläfenlocken von Rabbinern glichen. Ungewollt musste ich an eine Äußerung von Luc denken. Eine jener zynischen Floskeln, auf die er sich so ausgezeichnet verstand: »Das Problem Frau muss man so schnell wie möglich lösen, um es ad acta legen zu können.«
   Genau dies hatte er getan, indem er die junge Frau aus ihrer Heimat, den Pyrenäen, hierher verpflanzt und mit ihr schnell hintereinander zwei Kinder gezeugt hatte. Ich sagte, weil mir nichts Besseres einfiel:
   »Ich ruf dich heute Abend an.«
   Sie nickte und verschwand in Richtung Umkleideraum. Ich drehte mich um: Der Anästhesist war verschwunden. Nur Svendsen stand noch da – der unvermeidliche Svendsen. Mein Blick fiel auf den Kittel, den der Doktor auf einem Stuhl zurückgelassen hatte. Ich griff danach:
   »Ich gehe zu Luc rein.«
   »Lass es sein.« Er stoppte mich mit einem festen Handgriff. »Der Doktor hat uns doch gerade gesagt, dass sie Tests mit ihm durchführen.«
   Ungehalten machte ich mich von seinem Griff los. Da sagte er in beschwichtigendem Tonfall:
   »Komm morgen wieder, Mat. Das wäre für alle besser.«
   Mein Zorn legte sich. Svendsen hatte recht. Ich musste die Ärzte ihre Arbeit machen lassen. Was hätte ich davon, meinen Freund zu sehen, wie er an Schläuchen und Infusionen hing.
   Mit einer Handbewegung verabschiedete ich mich von dem Gerichtsmediziner und stieg die Treppe hinunter. Mein Kopfweh ließ nach. Gedankenverloren ging ich in Richtung Station für Strafgefangene, auf der verletzte Tatverdächtige und Drogenabhängige auf Entzug behandelt wurden. Doch dann blieb ich stehen. Bloß keinem mir bekannten Polizisten begegnen! Ich wollte keine rührseligen Beileidsbezeigungen oder mitfühlenden Worte hören.
   Ich nahm den Weg zur Haupteingangshalle. Am Ausgang zog ich mein Paket Camel ohne Filter heraus und zündete mir eine an. Ich atmete den ersten Zug tief ein.
   Mein Blick fiel auf den Warnhinweis, der auf das Paket geklebt war: RAUCHEN KANN EINEN LANGSAMEN UND SCHMERZHAFTEN TOD ZUR FOLGE HABEN! Ans Gitter gelehnt, nahm ich einige Züge und ging dann nach links, zum Gebäude, das den Mittelpunkt meines Lebens bildete: Quai des Orfèvres, Nr. 36. Plötzlich besann ich mich anders und wandte mich nach rechts, dem zweiten Angelpunkt meines Lebens zu.
   Der Kathedrale Notre-Dame.
Das Herz der Hoelle
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