KAPITEL 103
Mir fiel sofort ein Name ein: Éric Thuillier. Der
Neurologe, der Luc seit seiner Einlieferung ins Hôtel-Dieu
behandelte.
Es war 1.30 Uhr. Ich wählte die
Nummer des Krankenhauses und verlangte Dr. Éric Thuillier. Die
Wahrscheinlichkeit, dass er heute Nacht Bereitschaftsdienst hatte,
war ziemlich gering.
Doch ich hatte Glück, er war
da, allerdings konnte man mich nicht verbinden, da er gerade einen
Notfall versorgte. Ich legte auf, ohne eine Nachricht zu
hinterlassen, denn ich war schon unterwegs zum Hôtel-Dieu, das nur
fünfzig Meter entfernt war.
Die Intensivstation, wieder
einmal.
Ich blieb vor den Glastüren
stehen, die den Stationsflur abschlossen. Schwaches grünliches
Licht, das Schimmern eines Aquariums. Geruch nach Teer und
Desinfektionsmittel. Ich begnügte mich damit, die bedrückende
Szenerie hinter den Glastüren zu betrachten; ich wollte den
Neurologen abpassen, der aus einem der Zimmer herauskommen
musste.
Ein Schatten tauchte im Gang
auf. Trotz des Kittels, des Mundschutzes und der Schuhe erkannte
ich die vermummte Gestalt. Kaum dass Thuillier aus der vorderen
Glastür getreten war, grüßte ich ihn. Er zog den Mundschutz
herunter und war offenbar nicht erstaunt, mich zu sehen. Um diese
Uhrzeit musste man auf dieser Station mit allem rechnen. Im
Empfangsbereich zog er seinen Kittel aus.
»Ein Notfall?«, fragte er,
während er den Kittel zu einem Knäuel drehte.
»Für mich schon.«
Er warf den Ballen in einen
Mülleimer, der an der Wand befestigt war.
»Ich wollte mit Ihnen nur über
eine meiner Theorien sprechen.«
Er lächelte:
»Und das hat nicht Zeit bis
morgen.«
Ich lächelte zurück. Da war er
wieder, der Klassenbeste, dem ich schon zu Beginn meiner
Ermittlungen begegnet war. Oxford-Kragen und kleine Brille, zu
kurze Kordhosen.
»Darf man hier rauchen?«
»Nein«, sagte Thuillier, »aber
ich hätte gern eine.«
Ich hielt ihm meine Schachtel
hin. Der Neurologe pfiff bewundernd:
»Filterlose? Schmuggeln Sie die
ein?« Er zog eine Zigarette heraus. »Ich wusste nicht einmal, dass
es die überhaupt noch gibt.«
Ich nahm meinerseits eine. Als
Polizist wusste ich, wie wichtig der Einstieg in ein Gespräch war.
Schon die erste Minute entschied oftmals über den Verlauf einer
Vernehmung. Heute Nacht wirkte der Charme. Wir waren auf der
gleichen Wellenlänge. Thuillier deutete auf eine halboffene Tür in
meinem Rücken.
»Lassen Sie uns da
hineingehen.«
Ich folgte ihm. Wir fanden uns
in einer unmöblierten fensterlosen Kammer wieder. Ein ungenutzter
Raum oder vielleicht auch das Raucherzimmer.
Thuillier setzte sich auf die
einzige Bank, die herumstand, und zog eine Bonbondose aus der
Tasche, deren Deckel er als Aschenbecher verwenden würde.
»Und wie lautet Ihre
Theorie?«
»Ich möchte mit Ihnen über das
Erlebnis von Luc Soubeyras sprechen, das er uns heute Morgen
beschrieben hat.«
»Faszinierend, und dabei hab
ich schon einiges gesehen, glauben Sie mir.«
Ich nickte und fing dann
an:
»Zunächst eine chronologische
Frage. Luc hat diese innere Reise so geschildert, als hätte er sie
erlebt, während er am Ertrinken war. Halten Sie es für möglich,
dass er dieses Erlebnis auch erst beim Aufwachen aus dem Koma
gehabt haben könnte?«
»Vielleicht. Er könnte die
beiden Zeiträume verwechseln: Bewusstlosigkeit und Wiederbelebung.
Das geschieht häufig. Beide Phasen sind nicht deutlich voneinander
getrennt, es ist ein einziges schwarzes Loch.«
»Hätte er diese Halluzination
auch noch später haben können, in den Tagen danach, als sein
Bewusstsein noch immer … umnebelt war?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz
folgen.«
Ich ging auf ihn zu und nahm
meine ganze Überzeugungskraft zusammen:
»Ich frage mich, ob seine
Nahtod-Erfahrung nicht durch einen Dritten herbeigeführt
wurde.«
»Wie das?«
»Ich stelle mir vor, dass man
ihm eine Art … mentale Illusion ›eingespritzt‹ hat.«
»Auf welche Weise?«
»Sagen Sie mir nur, ob das
vorstellbar ist.«
Der Neurologe nahm einen riefen
Zug aus der Filterlosen und überlegte. Er schien amüsiert zu
sein:
»Man kann einen Menschen
natürlich immer unter Drogen setzen oder suggestive Methoden
anwenden. Zucca hat das heute Morgen eindrucksvoll vorgeführt. Er
hatte Lucs Bewusstsein voll und ganz unter seiner Kontrolle.«
»Außerdem ist das Bewusstsein
eines Menschen, der aus dem Koma aufwacht, doch besonders leicht zu
beeinflussen, nicht wahr?«
»Ja. Einige Tage lang kann der
Wiederbelebte nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden.
Und seine Erinnerungen sind ungenau. Es ist ein totaler
Brei.«
»Luc wäre also ein leichtes
Opfer für eine solche Manipulation gewesen?«
»Verstehe ich Sie richtig? Ein
Fremder soll sich Zutritt zu seinem Zimmer verschafft und ihm einen
Cocktail halluzinogener Drogen verabreicht haben?«
»Genau.«
Thuillier zog eine ungläubige
Miene.
»Das dürfte, praktisch gesehen,
recht schwierig sein. Unsere Station gleicht einer Festung, sie
wird rund um die Uhr überwacht. Niemand kann sich einem Patienten
nähern, ohne zuvor ein Formular zu unterschreiben oder einer
Pflegekraft über den Weg zu laufen.«
»Niemand bis auf einen
Arzt.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Ich denke laut nach.«
Der Neurologe drückte die
Zigarette in seiner kleinen Dose aus.
»Angenommen, Sie hätten recht.
Was sollte der- oder diejenige damit bezwecken? Einen Menschen, der
gerade aus dem Koma erwacht ist, unter Drogen zu setzen oder zu
hypnotisieren, das ist ungefähr so, als würde man ein Unfallopfer,
das sich gerade von seinen Verletzungen erholt hat, in einen
Abgrund stürzen. Dazu müsste man ein echter Sadist sein.«
»Aber theoretisch ist es
möglich.«
Er sah mich von der Seite
an.
»Sind das nur Spekulationen,
oder haben Sie Indizien?«
»Ich gehe davon aus, dass die
Person eine afrikanische Pflanze, Iboga, benutzt haben
könnte.«
»Sie übertreiben ein bisschen.
Die Iboga enthält starke psychotrope Wirkstoffe. Ihr Doktor Mabuse
soll Luc unmittelbar nach dem Aufwachen aus dem Koma diese Substanz
verabreicht haben, um ihm eine Nahtod-Erfahrung
vorzutäuschen?«
»Wäre das möglich?«
»Schwerlich. Die Iboga
verursacht schwere Nebenwirkungen. Erbrechen, Krämpfe. Luc würde
sich daran erinnern. Außerdem gibt es das Problem der
Verabreichung. Diese Droge wird normalerweise in Form eines
Getränks eingenommen …«
»Ich habe gehört, dass es auch
eine Injektionslösung geben soll.«
»Die kann nur ein Spezialist
zubereiten. Man muss den Wirkstoff isolieren und aufbereiten.
Außerdem ist die Iboga eine gefährliche Pflanze, ein echtes Gift.
Sie hat in Afrika schon unzählige Opfer gefordert.«
Ich hob die Hand.
»Diese Frage stellt sich hier
nicht. Der Täter, den ich mir vorstelle, ist ein psychopathischer
Mörder. Jemand, der sich für den Teufel hält und keinerlei
moralische Bedenken kennt.«
»Sie fangen an, mir Angst zu
machen.«
»Stellen wir uns vor, wie er
weiter vorgegangen sein könnte.
Lässt sich die Iboga mit
anderen Anästhetika kombinieren?«
»Von einem Experten, ja.«
Ein Chemiker, ein Botaniker,
ein Entomologe und jetzt auch noch ein Pharmakologe und
Anästhesist. Und außerdem: ein Arzt, der sich unbemerkt Zutritt zur
Intensivstation des Hôtel-Dieu verschaffen konnte. Mein Profil
wurde immer deutlicher.
Ich fuhr fort:
»Sie stimmen meiner Hypothese
also zu?«
»Sie erscheint mir an den
Haaren herbeigezogen und äußerst kompliziert. Der Täter müsste
mehrere Substanzen mischen: eine, um den Patienten zu betäuben,
eine andere, um unerwünschte Nebenwirkungen der Iboga zu verhüten,
dann der in einer flüssigen Verbindung gelöste Wirkstoff der Iboga
…«
»Und außerdem noch eine
Substanz, die die Empfänglichkeit für Suggestionen erhöht.«
»Wie das?«
»Während des Eingriffs
erscheint der Manipulator, als Teufel geschminkt und verkleidet,
dem Überlebenden. Er tritt als Figur innerhalb der Halluzination
auf.«
»Wie der alte Mann, von dem Luc
gesprochen hat?«
»Genau. In dem Moment, wo der
Betreffende das Gefühl hat, seinen Körper zu verlassen, und den
Tunnel sieht, taucht der geschminkte und maskierte Mörder auf
…«
»Aber wenn das Opfer ohnmächtig
ist?«
»Er hat das Bewusstsein nicht
ganz verloren. Das kommt auf die Dosierung der Substanzen an, oder?
Mein Zauberlehrling führt vielleicht eine Art Dämmerzustand herbei
…«
Thuillier lachte nervös:
»Meinen Sie nicht, dass Sie
etwas dick auftragen? Wer würde schon einen solchen Aufwand
treiben?«
»Ich glaube, dass ich es mit
einem genialen Verbrecher zu tun habe, einem Mörder, der mit der
Krankheit der Opfer spielt. Ein Mann, der sein eigenes Reich des
Bösen erschafft, losgelöst von der Welt der Menschen. Er ist so
etwas wie ein metaphysischer Mörder.«
»Luc Soubeyras soll nach seinem
Aufwachen aus dem Koma unter Drogen gesetzt worden sein?«
»Genau das nehme ich an.«
»Auf meiner Station?«
»Ich verstehe, dass diese
Vorstellung Sie vielleicht erschüttert. Im Übrigen habe ich nicht
den leisesten Beweis, nicht einmal ein Indiz. Abgesehen von der
Iboga, die am Rande meiner Ermittlungen eine Rolle spielt.«
Thuillier wirkte
nachdenklich.
»Haben Sie noch eine
Zigarette?«, fragte er schließlich.
Ich hielt ihm mein
zerknittertes Päckchen hin und zog dann meinerseits eine heraus.
Die Kammer glich allmählich einem Dampfbad. Durch die erste
bläuliche Wolke hindurch brummte er:
»Sie bewegen sich in einer
recht … grauenhaften Welt.«
»Es ist die Welt desjenigen,
hinter dem ich her bin. Nicht meine.«
Für ein paar Sekunden qualmten
wir schweigend vor uns hin. Ich fuhr dann fort, nachdem sich meine
Gedanken allmählich ordneten:
»Wenn ich recht habe, bedeutet
dies, dass der Besucher sich unter einem Vorwand Zutritt in Ihre
Abteilung verschafft hat. Oder aber er gehört zu den Spezialisten,
die Luc behandelt haben. Könnte ich die Liste der Ärzte einsehen,
die Luc betreut haben?«
»Kein Problem. Aber, glauben
Sie mir, ich kenne die Ärzte, die …«
»Jedenfalls wusste mein Mann,
dass Luc aufgewacht war. Wer hatte Kenntnis davon?«
Thuillier strich sich mit der
Hand durchs Haar.
»Wir müssen eine Liste
erstellen. Ärzte, aber auch Pflegekräfte, Pharmakologen,
Mitarbeiter der Verwaltung … Nicht gerade wenige Personen. Ganz
abgesehen vom Internet. Die Nachricht könnte auf unterschiedliche
Weise verbreitet worden sein. Sogar im Rahmen einer Bestellung
spezifischer Medikamente.«
Ich notierte mir diese
verschiedenen Möglichkeiten im Geiste. Thuillier hob den
Kopf.
»Wenn ich Sie richtig
verstanden habe, wäre Luc nur ein Opfer unter anderen?«
»Ja, ich gehe von einer ganzen
Serie aus.«
»Und Ihr Typ stünde jedes Mal
am Bett des Wiederbelebten?«
»Nein, nicht immer. Ich glaube,
dass er einige Überlebende lange, nachdem sie aus dem Koma erwacht
sind, konditioniert hat. Er macht sich ihre psychische Labilität
zunutze. Wenn der Betreffende Jahre später diese Halluzination
erlebt, glaubt er verständlicherweise, sich an eine
Nahtod-Erfahrung zu erinnern, die er während seines Komas hatte.
Als würde sich plötzlich ein Schleier über seinem Gedächtnis
lüften.«
Während ich meine Vermutungen
äußerte, spürte ich, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich
hatte das Gefühl auszubluten. Unter meinen Worten, unter meinen
Gedanken nahm der »Höllengast« Gestalt an.
Der Schöpfer der
Lichtlosen.
Ein Teufel in menschlicher
Gestalt, der sich geduldig seine eigene Armee aufbaute.
Der Neurologe stand auf und
klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter:
»Kommen Sie, lassen Sie uns
einen Kaffee trinken. Sie wirken ziemlich angespannt. Ich mache
Ihnen eine Liste und gebe Ihnen auch Informationsmaterial über die
Iboga mit. Einer meiner Studenten hat letztes Jahr darüber
geforscht. Es gibt immer jemanden, der sich für diese
psychedelischen Geschichten interessiert!«