KAPITEL 28
»Ein Gerichtsmediziner namens Valleret? Noch nie
gehört.«
Ich fuhr Richtung Südwesten,
ins Viertel Planoise, wo sich das Klinikum Jean-Minjoz befand. Ich
hatte Svendsen angerufen. Er kannte alle bedeutenden
Gerichtsmediziner Frankreichs und Europas. Er hätte in Paris von
einem renommierten Spezialisten, einem »Ass« seines Fachs, gehört.
Shapiro hatte auch von »Scherereien« gesprochen. Vielleicht
praktizierte Valleret als Facharzt auf einem anderen Gebiet in
Paris. Die Gerichtsmedizin war manchmal eine Zuflucht für Ärzte,
die vor den Lebenden flohen.
»Im Klinikum Jean-Minjoz in
Besançon. Kannst du dich schlau machen? Ich glaube, er hat in Paris
Probleme gehabt.«
»Eine Leiche im Schrank
vielleicht?«
»Sehr witzig. Machst du’s oder
nicht? Es eilt.«
Svendsen feixte:
»Halt die Leitung frei, mein
Schatz.«
Ich schaltete mein Handy aus
und fuhr auf den Parkplatz der Klinik. Das Krankenhaus war ein
trostloses Betonsilo mit Reihen schmaler Fenster, das offenbar in
den fünfziger Jahren erbaut worden war. In Höhe des ersten
Stockwerks hingen Spruchbänder: »Dreht uns nicht die Luft ab!«,
»Subventionen statt Reduktionen!«
Ich zündete mir eine Zigarette
an und klopfte ungeduldig gegen das Lenkrad. Ich musste mich
beeilen, denn Capitaine Sarrazin würde mir auf den Fersen bleiben.
Er würde mich nicht nur beschatten lassen, sondern mit Sicherheit
versuchen, mir immer einen Schritt voraus zu sein. Vielleicht hatte
er sogar schon Valleret angerufen … Das Läuten meines Handys ließ
mich zusammenzucken.
»Dein Typ hatte allen Grund,
sich auf Leichen zu verlegen.«
Ich sah auf meine Uhr. Svendsen
hatte weniger als sechs Minuten gebraucht, um fündig zu
werden.
»Zunächst hat er als
orthopädischer Chirurg gearbeitet. Ein echter Meister seines Fachs,
wie es scheint. Aber er bekam Depressionen und hat Mist gebaut.
Eine Operation ging schief.«
»Das heißt?«
»Ein Kind. Eine Infektion.
Valleret hatte während der Operation einen Aussetzer und mit dem
Skalpell einen Muskel durchtrennt. Seither hinkt der Junge.«
»Wie konnte das
passieren?«
»Er trank und hat sich mit
Beruhigungsmitteln vollgedröhnt. Nicht gerade das, was ein Chirurg
tun sollte …«
»Was geschah dann?«
»Die Eltern haben ihn verklagt.
Die Klinik hat Valleret gedeckt, aber er musste seinen Hut nehmen.
Er hat eine Ausbildung zum Gerichtsmediziner gemacht, und so
verschlug es ihn nach Besançon. Geschieden, abgebrannt,
tablettensüchtig. Noch einer von denen, die sich für die
Rechtsmedizin entschieden haben, um sich zu läutern. Dabei ist die
Wissenschaft von den Toten die vornehmste Kunst, weil sie die
Seelen der Lebenden pflegt und …«
Ich unterbrach seine lyrischen
Ergüsse.
»Name der Klinik? Datum?«
»Clinique d’Albert. 1999. Les
Ulis.«
Ich dankte Svendsen.
»Ich möchte vor allem einen
ausführlichen Bericht über die Sache«, erwiderte er. »Ich bin
sicher, dass du an einem brandheißen Ding sitzt. Es ist in deinem
Interesse. Valleret wird nicht alles begriffen haben, was mit der
Leiche zu tun hat. Man ist für die Sprache der Toten geboren oder
nicht. Ich …«
»Ich ruf dich an.«
Ich überquerte den Vorplatz im
Laufschritt. Über dem Portal hing ein Transparent mit der
Aufschrift: »Wir nehmen Ihre Gesundheit nicht als Geisel!« Das
Rechtsmedizinische Institut befand sich im dritten Untergeschoss.
Ich hastete zu den Aufzügen, ohne die Gruppe streikender
Pflegekräfte, die ein Sit-in veranstalteten, eines Blicks zu
würdigen.
Im Untergeschoss war es gut
zehn Grad kühler. Der Gang war menschenleer und unbeschildert.
Intuitiv ging ich nach rechts. An der Decke verliefen schwarze
Rohre; an den Betonwänden wechselten sich unbemalte und graugrüne
Flächen ab. Ein Gebläse brummte.
Noch einige Schritte, dann,
links, ein kleiner trister Raum. Stühle, ein niedriger Tisch.
Gegenüber eine Schwingflügeltür mit kleinen runden Fenstern. An
einer Wand das großformatige Foto einer Wiese. Es sollte die
Atmosphäre wohl etwas aufheitern, aber es war vergebliche
Liebesmüh. Ein Gemisch diverser Gerüche – Desinfektionsmittel,
Kaffee und Eau de Javel – hing in der Luft. Ich dachte an
Umkleideräume in einem Schwimmbad, nur dass die Badegäste hier
Leichen waren.
Die Flügeltür wurde
aufgestoßen, und eine fahrbare Trage kam zum Vorschein, über die
sich ein stämmiger Krankenpfleger beugte. Er hatte Wikingerhaare,
die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, und trug eine
Plastikschürze.
»Sie wünschen?«
Die Stimme war sanft und stand
in einem merkwürdigen Gegensatz zu der kraftstrotzenden
Erscheinung. Ein Assistent, der es gewohnt war, mit trauernden
Hinterbliebenen zu sprechen.
»Ich würde gern Doktor Valleret
sprechen.«
»Der Doktor empfängt keine
Besucher. Ich …«
Um die Sache abzukürzen, zückte
ich meinen Dienstausweis. Die Türflügel schwenkten in die andere
Richtung, und die Trage blieb verwaist zurück. Einige Sekunden
später erschien ein hochgewachsener Mann mit gebeugtem Rücken, eine
Zigarette im Mund. Er sah mich misstrauisch an.
»Wer sind Sie? Ich kenne Sie
nicht.«
»Commandant Durey,
Mordkommission Paris. Ich interessiere mich für den Fall
Simonis.«
Er lehnte sich gegen die Kante
einer Tür und hielt so ihre Pendelbewegung an.
»Ist die Gendarmerie
informiert?«
Ohne zu antworten, ging ich auf
ihn zu. Er war fast genauso groß wie ich. Sein offener Kittel war
fleckig, und er hielt seine Zigarette auf eine merkwürdige Art
dicht an die Lippen, wobei er mit der Hand die Hälfte des Gesichts
verdeckte. Bislang hatten mir die Ammenmärchen kein Glück gebracht,
und so schenkte ich meinem Gegenüber reinen Wein ein:
»Doktor, ich habe hier
keinerlei Befugnisse. Die Untersuchungsrichterin Magnan hat mich
vor die Tür gesetzt, und Capitaine Sarrazin hat mir offen gedroht.
Trotzdem werde ich diese Stadt nicht eher verlassen, bis ich mehr
über die Leiche von Sylvie Simonis weiß.«
»Wieso?«
»Dieser Fall hat einem Freund
von mir keine Ruhe gelassen. Einem Kollegen.«
»Wie heißt er?«
»Luc Soubeyras.«
»Nie gehört.«
Valleret ließ die Hand sinken.
Aber selbst jetzt, wo sein Gesicht ganz sichtbar war, wirkte es
verschwommen, als habe er etwas zu verheimlichen. Ein Gesicht auf
der Flucht, dachte ich. Ich fuhr fort:
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen
stellen?«
»Nein, natürlich nicht. Die Tür
ist hinter Ihnen.«
»Ich habe Erkundigungen über
Sie eingeholt. Clinique d’Albert. 1999.«
»Ach was?«, sagte er lächelnd.
»Wollen Sie meine Patienten erschrecken?«
»Besançon ist eine kleine
Stadt. Ihr Ruf könnte leiden, wenn ich …«
Er lachte laut auf:
»Mein Ruf?« Er warf die
Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Fuß aus. »Sie haben
keinen guten Riecher, mein Freund.«
Sein Lächeln erstarb. Er wirkte
nachdenklich, fast abwesend:
»Mein Ruf? Dieses Wort habe ich
schon lange aus meinem Wortschatz gestrichen …«
Ich spürte instinktiv, dass
sich hinter diesem abgebrühten Zynismus ein sensibler Mensch
verbarg. Vielleicht könnte ich ihn durch Aufrichtigkeit erreichen,
das Eis zum Schmelzen bringen.
»Luc Soubeyras ist mein bester
Freund«, sagte ich etwas lauter. »Nach einem Selbstmordversuch
liegt er jetzt im Koma. Er war tief gläubig, und seine Tat ist
daher besonders unbegreiflich. In den letzten Monaten ermittelte er
im Fall Simonis. Möglicherweise hat ihn das, was er dabei
entdeckte, zu dieser Verzweiflungstat getrieben.«
»Er hätte allen Grund dazu
gehabt.«
Ich fuhr zusammen. Zum ersten
Mal schenkte jemand meiner Hypothese von den »tödlichen
Ermittlungen« Glauben. Valleret richtete sich auf. Er würde reden,
ich musste ihn nur noch ein klein wenig anschubsen.
»Hat Sylvie Simonis Ihrer
Meinung nach Selbstmord begangen?«
»Selbstmord?« Er sah mich
schräg an. »Nein, ich glaube nicht, dass sie sich das, was sie
durchgemacht hat, hätte selbst antun können.«
»Es war also Mord?«
Er drückte die Tür auf und
bedeutete mir mit einer Handbewegung voranzugehen:
»Der verrückteste,
raffinierteste Mord, den die Welt je gesehen hat.«