KAPITEL 106
8.30 Uhr, Freitag, 15. November
Die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Manon war um sieben
aufgestanden. Ich hatte ihr Frühstück gemacht – Croissants und
Schoko-Croissants –, dann hatte ich eine halbe Stunde damit
verbracht, sie zu beruhigen. Manon war nicht überzeugt. Ganz
abgesehen davon, dass sie in meiner Wohnung allmählich Platzangst
bekam. Ich hatte sie geküsst, ohne zu erwähnen, was sie im Schlaf
gesagt hatte, und ihr versprochen, gegen Mittag
vorbeizuschauen.
Ich befand mich jetzt in der
Rue Dante auf dem linken Seineufer, unmittelbar gegenüber der
Kathedrale Notre-Dame. Nur wenige Meter von der Grünanlage
entfernt, in der ich mich am Vorabend mit Foucault getroffen hatte.
Ich parkte in der zweiten Reihe, vor der Adresse, die ich den
anderen angegeben hatte.
Das Apsara war ein halb
indisches, halb indonesisches Café. Ich traf mich dort mit meinen
Männern, wenn eine vertrauliche Besprechung anstand – niemand wäre
auf den Gedanken gekommen, die Jungs von der Mordkommission an
einem Ort zu suchen, an dem man nur Ingwertee und Lassi mit Mango
trinken konnte.
Das Café war geschlossen. Es
war eine Gefälligkeit des Wirts, dass er uns so früh hereinließ.
Die Ausstattung erinnerte an das Innere eines Palmwedels:
smaragdgrüne Wandbehänge, veronesegrüne Tischtücher, blassgrüne
Papierservietten. Alle Möbel waren aus Korbweide gefertigt.
Das perfekte Versteck.
Das einzige Problem: Es gab ein
Rauchverbot.
Ich war der Erste. Ich
schaltete mein Handy aus und bestellte einen Keemun. Während ich
ihn genüsslich trank, ging ich noch einmal meine Strategie durch.
Es war an der Zeit, meine Leute einzuweihen, und zwar umfassend.
Ich hatte bereits viel Zeit verloren – eine ganze Woche, seit
meiner Rückkehr aus Polen. Ich musste ihnen nun die ganze
Angelegenheit erklären und ihnen für die nächsten beiden Tage
präzise Aufgaben übertragen. Es war einfach undenkbar, dass der
»Höllengast« keine einzige Spur hinterlassen hatte!
Foucault, Meyer und Malaspey
trafen ein, durch ihre bloße Präsenz eine Bedrohung der
zerbrechlichen Inneneinrichtung. Wenn man ihre breiten Schultern,
ihre Lederärmel und ihre Parkarevers sah, fürchtete man um die
Porzellanskulpturen und andere empfindliche Nippsachen des
Restaurants.
Sobald sie Platz genommen
hatten, begann ich mit meinem Lagebericht.
Kapitel eins: der Mord an
Massine Larfaoui. Kapitel zwei: der Fall Simonis im Jura. Kapitel
drei: die anderen Morde nach dem gleichen Ritual. Dann sprach ich
über die Nahtod-Erfahrungen, die Lichtlosen … Ich lieferte ihnen,
schlüsselfertig, den metaphysischen Überbau des Falls: die negative
Erfahrung, das Eingreifen des Teufels, der Hölleneid.
Meinen Männern gingen die Augen
über.
Zum Schluss legte ich ihnen
meine natürliche, rationale Erklärung dar. Ein einziger Mann als
Drahtzieher des Albtraums.
Ein Wahnsinniger, der sich für
Satan hielt, die Lichtlosen selbst erschuf und mit Säuren und
Insekten grausame Rache für sie nahm.
Ich ließ diese Informationen
auf sie wirken und fuhr dann fort:
»Kurz und gut, ich suche einen
Einzeltäter. Und ich bin fest davon überzeugt, dass der Kerl im
Jura lebt. Er hat Sylvie Simonis, Salvatore, den Ehemann von
Agostina Gedda, und den Vater von Raimo Rihiimäki abgeschlachtet.
Er unterzieht die, die wie durch ein Wunder überlebt haben, einer
Gehirnwäsche und trichtert ihnen satanistische Erinnerungen ein.
Ich glaube immer mehr, dass es sich um einen Arzt handelt, der über
gründliche Kenntnisse in anderen Disziplinen verfügt: Chemie,
Botanik, Entomologie und Anästhesie. Meines Erachtens hat er eine
Zeit lang in Zentralafrika gelebt. Er ist im Bilde über
spektakuläre Fälle von Wiederbelebung und kann sich, auf welche
Weise auch immer, unbemerkt Zutritt zu ihren Krankenzimmern
verschaffen.«
Dann ließ ich eine weitere
Bombe platzen:
»Ich glaube auch, dass er es
war, der Lucs Gedächtnis manipuliert hat, nachdem er aus dem Koma
aufgewacht ist.«
Wieder Schweigen. Niemand hatte
seine Tasse angerührt. Es war der verrückteste Fall, der jedem von
uns jemals untergekommen war. Schließlich ergriff Foucault, der auf
seinem Stuhl nervös hin und her rutschte, das Wort.
»Und was sollen wir jetzt
machen?«
»Wir fangen wieder ganz von
vorn an und konzentrieren uns auf die konkreten Tatsachen.«
»Ich hab dein ganzes Tal
durchgekämmt, Mat. Deine Skarabäus-Geschichten und …«
»Wir müssen wieder bei null
anfangen. Dieser Typ existiert, davon bin ich fest überzeugt.« Ich
wandte mich Meyer zu. »Du gehst nochmals den Insekten, den Flechten
und den Afrikanern im Jura auf den Grund. Foucault wird es dir
erklären. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Anhaltspunkt, ein
Name herauskommt, wenn man all diese Informationen zueinander in
Beziehung setzt. Anders geht es nicht.«
Anschließend wandte ich mich an
Malaspey:
»Du knöpfst dir das Umfeld von
Larfaoui vor. Du konzentrierst dich auf die afrikanische Droge, die
Schwarze Iboga, die sehr schwer zu beschaffen ist. Eine Droge, die
der Kabyle an einige handverlesene Kunden verkaufte. Ich hab eine
Akte darüber angelegt, die ich dir mitgebracht habe. Versuch
herauszufinden, ob es andere Ringe gibt, über die man an das Zeugs
kommt. Der Mörder braucht diesen Stoff für seine Experimente. Er
wird mit anderen Dealern in Verbindung treten.«
Mit der Pfeife im Mundwinkel
machte sich Malaspey Notizen. Ich konnte ihm vertrauen, er hatte
mehrere Jahre im Drogendezernat gearbeitet. Foucault meldete sich
zu Wort:
»Und ich?«
»Ich gehe davon aus, dass der
Mörder in der Lage ist, in ganz Europa die Fälle, in denen Menschen
erfolgreich wiederbelebt wurden, zu lokalisieren. Er verfügt also
über ein Mittel, um sie ausfindig zu machen. Das ist unsere
heißeste Spur. Auf die eine oder andere Weise spürt er die
Überlebenden auf. Wir müssen herausfinden, wie er das macht.«
»Wen genau soll ich
kontaktieren?«
»Organisationen, die
Nahtod-Erfahrungen oder auch Fälle von Menschen erfassen, die das
Gefühl hatten, ihren Körper zu verlassen. Die IANDS zum Beispiel:
die International Association for Near Death Studies.«
»Ist das eine amerikanische
Organisation?«
»Es gibt eine Niederlassung in
den USA, aber auch in Frankreich und in mehreren europäischen
Ländern. Du erkundigst dich bei allen Filialen. Sie erinnern sich
vielleicht an einen Typen, der sich für negative Erfahrungen
interessiert hat. Oder jemand, der sich irgendwie verdächtig
verhalten hat. Da du Fremdsprachen beherrschst, wird das kein
Problem für dich sein.«
Foucault verzog das Gesicht.
Ich fuhr fort:
»Erweitere deine Suche auf alle
spektakulären Fälle von Wiederbelebung, selbst wenn die
Betreffenden keine Visionen hatten. Wenn ich recht habe, nimmt es
der Mörder in die Hand, ihr Gedächtnis zu manipulieren. Es muss
Organisationen geben, die sich um aus dem Koma erwachte Patienten
kümmern.«
Ich zündete eine Camel an –
auch wenn es die reine Atmosphäre des Cafés beeinträchtigte.
»Ich selbst«, erklärte ich,
»werde die Krankenakten von Raimo Rihiimäki, Agostina Gedda und
Manon Simonis auftreiben. Vielleicht kommt dabei ein Name heraus,
der in allen drei Akten auftaucht. Ein Arzt, ein Experte, ein
Spezialist.«
Meyer warf ein:
»Mat, das ist ja schön und gut,
so in die Vollen zu gehen. Aber wir haben andere Fälle, bei denen
es brennt.«
»Ihr lasst alles andere
liegen.«
»Und Dumayet?«, fragte
Foucault.
»Ich kümmere mich um sie. Diese
Ermittlungen haben absoluten Vorrang. Ich will, dass ihr alle drei
Himmel und Hölle in Bewegung setzt.«
Pause. Ich lachte laut auf und
gab dem Kellner ein Zeichen:
»Kommen wir zu den ernsten
Dingen. Sie verstecken hier bestimmt eine Flasche!«