KAPITEL 101
Auf der Straße checkte ich die Mailbox meines
Handys. Keine Nachricht. Mist. Ich ging zurück zu meinem Auto und
beschloss, direkt in meine Wohnung zu fahren. Unterwegs knarrte es
jedes Mal, wenn ich schaltete. Ich latschte voll auf die Bremsen,
wenn ich langsamer fahren wollte, und würgte den Motor ab, wenn ich
anfahren wollte. Jedes Mal, wenn ich das Steuer nach links oder
rechts einschlug, flammte der Schmerz in meiner Schulter wieder
auf. Ich musste mich unbedingt ausruhen – einmal eine Nacht
durchschlafen.
Zu Hause erwartete mich eine
weitere Enttäuschung. Manon schlief noch. Ich legte Pistole und
Holster ab und ging in die Küche. Sie hatte ein Essen nach meinem
Geschmack zubereitet. Bambussprossen, grüne Erbsen, Sojaöl, weißer
Reis und Sesamkörner. Eine Thermoskanne war mit Tee gefüllt. Ich
betrachtete das Geschirr und die Gedecke, die sorgfältig auf der
Theke angeordnet waren: die Schüssel aus Jujubeholz, die lackierten
Essstäbchen, die Schälchen, die Tasse … Unwillkürlich sah ich
hinter diesen zuvorkommenden Aufmerksamkeiten eine verborgene
Botschaft. Es war immer die Gleiche: »Scher dich zum Teufel.«
Ich nahm das Essen lustlos im
Stehen ein. Meine düsteren Gedanken vergingen nicht. Den ganzen Tag
hatte ich mich unter Verrückten bewegt, aber ich war nicht besser
als sie. Weshalb hatte ich zwölf Stunden mit unsinnigen Hypothesen
vergeudet? Mich die ganze Zeit mit Lucs Visionen befasst, die
letztlich nur Halluzinationen waren? Stattdessen hätte ich mich auf
die konkrete Ermittlungsarbeit konzentrieren sollen: den Mörder von
Sylvie Simonis finden, denn das allein zählte.
Denjenigen finden, der Manon
entlasten könnte.
Seit meiner Rückkehr war ich
damit keinen Schritt weitergekommen. Ich war nicht in der Lage,
meine Männer auf Erfolg versprechende Fährten anzusetzen. Der Jura
hatte nichts gebracht. Gabun hatte nichts gebracht. Und unterdessen
waren der Mordkommission neue Fälle übertragen worden … Die Männer
meines Teams wandten sich wieder den laufenden Ermittlungen zu.
Dumayet hatte recht: Ich war auf der falschen Spur.
Ich unterbrach diese
Scheinmahlzeit, stellte die Speisen in den Kühlschrank und räumte
Teller, Schälchen und Essstäbchen in den Geschirrspüler. Ich nahm
die Flasche Wodka aus dem Gefrierfach und schenkte mir eine Tasse
voll. Ich tat einen kräftigen Schluck. Ein Brennen im Rachen. Ich
nahm die Flasche mit und flegelte mich aufs Sofa.
Ich hatte kein Licht gemacht.
Ich blieb im Halbdunkel sitzen und betrachtete die schwarzen Balken
an der Decke. Von draußen drang der Lärm des Regens und des
Verkehrs herein. Neue Ermittlungsansätze finden. Die Visionen von
Luc und die sogenannte Existenz des Teufels ad acta legen. Neue
Ideen entwickeln, um im Jura, bei den Insekten, den Flechten und
den Säuren weiterzukommen … Ich musste die Ermittlungen eingrenzen.
Schließlich hatte ich eine Täterin in Italien und einen Täter in
Estland. Ich müsste mich auf den Mörder in Sartuis konzentrieren.
Wenn ich meine Serie von Mördern vervollständigt hätte, könnte ich
immer noch Metaphysik betreiben.
Ich führte meine Tasse an meine
Lippen und hielt plötzlich inne. Ein Gedanke schoss mir durch den
Kopf. Seit Langem – seitdem ich die Lichtlosen entdeckt hatte –
hegte ich den Verdacht, dass irgendjemand im Verborgenen die Fäden
zog, dass es eine Art »Coach« gab, der diesen »Visionären« half und
sie unterstützte. Im Innersten hatte ich nie an die alleinige
Täterschaft Agostinas oder Raimos geglaubt. Weder sie noch er besaß
die notwendigen Kenntnisse, um die Opfer bei lebendigem Leibe mit
nekrophagen Insekten zu traktieren.
Aber ich hatte diese Idee nicht
konsequent zu Ende gedacht.
Eine Person im Hintergrund, ja,
aber nicht nur.
Ein echter Mörder.
Ein Mörder, der anstelle der
Lichtlosen mordete und dem es auf die eine oder andere Weise
gelang, sie davon zu überzeugen, dass sie die Tat begangen
hatten.
Van Dieterling hatte von einem
»Über-Mörder« gesprochen.
Zamorksi von einem
»Drahtzieher«.
Aber beide meinten damit den
Teufel persönlich.
Die Wahrheit sah anders aus:
Ein Mensch, ein einfacher Sterblicher, tötete im Schatten der
Lichtlosen. Ein Wahnsinniger, der die Überlebenden von
Mordanschlägen in ganz Europa aufspürte und sie rächte. Lautete die
Inschrift auf der Baumrinde in Bienfaisance nicht: »ICH BESCHÜTZE
DIE LICHTLOSEN«?
Ich musste nicht den Täter im
Mordfall Sylvie Simonis finden, sondern einen Mörder für die drei
Fälle – und zweifellos noch weitere!
Ein Mörder, der zwar im Jura
lebte, dessen war ich mir sicher, aber in ganz Europa sein Unwesen
trieb. Mit Sicherheit ein Mensch, der sich nicht nur mit Säuren und
Insekten auskannte, sondern die Lichtlosen auch einer Gehirnwäsche
unterzog, sodass sie glaubten, an seiner statt gemordet zu haben
…
Und wieder machte es Klick in
mir. Wäre es nicht denkbar, dass dieser Mensch die Lichtlosen
selbst erschuf? Dass er in ihr Unbewusstes eindrang und ihnen diese
negativen Visionen einflößte?
Nein, kein Teufel, sondern ein
Demiurg.
Ein Mensch, der bei den drei
Morden die Fäden in der Hand gehabt hatte.
Ein Mensch, der die Visionen
herbeiführte, die einer anderen Wirklichkeit zu entstammen
schienen.
Ich dachte mir einen Namen für
diesen Drahtzieher aus.
Der »Höllengast«.
Ja, man musste dieses ganze
diabolische Theater auf die Erde zurückholen. Der leuchtende alte
Mann, der fleischfressende Engel, das gehäutete Kind: Diese
Visionen waren Erscheinungsformen eines Menschen. Ein Verrückter,
der sich schminkte, sich verkleidete und seine Geschöpfe einer
Gehirnwäsche unterzog. Ein Mörder, der seine Opfer quälte und mit
den Malen Satans kennzeichnete. Ein Wahnsinniger, der sich für
Satan hielt und die Lichtlosen selbst erschuf!
Ein weiterer Schluck
Wodka.
Neue, brennende
Überlegungen.
Wie gelang es ihm, den
Wundergeheilten ihre Visionen einzuflößen? Wie trat er ihnen
gegenüber in Erscheinung? Keine Antwort. Trotzdem spürte ich, wie
meine neue Gewissheit meinen Körper wie eine warme Welle
durchflutete.
Der »Höllengast«.
Dieser Schweinehund existierte,
und ich würde ihn fassen. Er hatte mir geschrieben: »ICH HABE DICH
ERWARTET« und »NUR DU UND ICH«. Dieser Teufel erwartete seinen
Erzengel Michael zum großen Duell!
Ich schenkte mir abermals die
Tasse voll, um auf meine neuen Einsichten anzustoßen.
Die Vibration meines Handys
ließ mich zusammenzucken.
Ich dachte an Corine Magnan. Es
war Svendsen.
»Ich habe vielleicht
Neuigkeiten.«
»Worüber?«
»Die Bisswunden.«
Ich hatte die Wodkaflasche zur
Hälfte geleert und den Kopf noch immer voller Theorien. Daher
begriff ich nicht sofort, wovon der Gerichtsmediziner sprach. Nach
einigen Sekunden fiel dann der Groschen. Seit Langem hatte niemand
mehr mit mir über diesen Aspekt der Morde gesprochen: die Abdrücke
der Zähne. Ich hatte dieses Indiz immer weggeschoben, aus Angst,
physische Beweise für die Existenz Pazuzus, des Teufels mit dem
Fledermauskopf, zu finden.
Der Gerichtsmediziner fuhr
fort:
»Ich hab vielleicht
herausgefunden, wie er vorgeht.«
»Bist du im Rechtsmedizinischen
Institut?«
»Wo sonst?«
»Ich komme.«
Ich stand mit Mühe auf, stellte
die Flasche wieder ins Gefrierfach, nahm meinen Regenmantel und
befestigte das Holster an meinem Gürtel. Ich warf einen Blick auf
die Zimmertür. Ich schrieb eine kurze Notiz: Ich müsse »wegen der
laufenden Ermittlungen« dringend weg, und legte sie auf den
Wohnzimmertisch. Ich verschwand lautlos.
Ich ging über die Straße und
klopfte an die Scheibe des Autos, in dem die Typen saßen, die meine
Wohnung überwachen sollten. Nach unserer Rückkehr nach Paris hatte
ich ein Team angefordert, das meine Wohnung observieren und Manon
beschatten sollte. Die Scheibe ging herunter. Geruch nach Hamburger
und kaltem Kaffee.
»Ich bin in ein, zwei Stunden
wieder zurück. Haltet die Augen auf.«
Ein kreidebleicher Mann
nickte.
Ich eilte zu meinem Wagen.
Unwillkürlich sah ich zu den Fenstern meiner Wohnung auf. Plötzlich
glaubte ich eine Gestalt zu erkennen, die sich flink und
geschmeidig hinter den Vorhängen bewegte. Mit zusammengekniffenen
Augen beobachtete ich die Falten. War Manon aufgewacht, oder war es
nur das Streiflicht der Scheinwerfer vorbeifahrender Autos?
Ich wartete eine gute Minute.
Nichts tat sich. Ich fuhr los und war mir nicht einmal mehr sicher,
was ich überhaupt gesehen hatte.
22 Uhr
Fließender Verkehr, glänzende Fahrbahn. Ich
zündete eine Zigarette an. Der Wodkageschmack verflüchtigte sich,
ich hatte wieder einen klaren Kopf. Diese unvorhergesehene
Spritztour hob meine Stimmung.
Doch als ich das
Rechtsmedizinische Institut betrat, überfiel mich sofort ein
Unbehagen. Svendsen erwartete mich mit zwei Macheten, die er vor
sich auf einen Obduktionstisch gelegt hatte. Erinnerungen an Ruanda
kamen wieder hoch. Ein brennender Schmerz wie von Säure. Ich lehnte
mich gegen einen Bahre.
»Was ist denn das?«
Meine Stimme hatte sich
verändert. Der Schwede lächelte:
»Deine Lösung. Die
Vorführung.«
Er nahm eine Dose
Industriekleber und bestrich eine der Klingen damit. Dann nahm er
eine Handvoll Glasscherben, die er auf dem Kleber verstreute.
Anschließend drückte er die zweite Machete darauf, wie eine Scheibe
Brot auf den Schinken eines Sandwichs.
»Das wär’s!«
»Das ist was?«
Er umwickelte die beiden Griffe
mit Klebeband, sodass sie zu einem Heft verschweißt wurden. Dann
wandte er sich einer Form unter einem Leintuch zu. Ohne zu zögern,
entblößte er den Oberkörper eines alten Mannes mit aufgedunsenem
Gesicht. Er hob seine Waffe und ließ sie auf die Brust sausen. Ich
war perplex. Manchmal war Svendsen unkontrollierbar.
Mühsam entfernte er die
Glasscherben aus der Haut und forderte mich dann auf, näher zu
treten.
Ich rührte mich nicht.
»Komm schon. Nur keine Sorge.
Dieser Leichnam ist seit einer Woche hier. Ein Obdachloser. Niemand
wird sich über die Verletzung der Leiche beschweren.«
Widerwillig machte ich einen
Schritt vor und betrachtete die Verletzung. Sie sah genauso aus wie
eine echte Bisswunde, zumindest wie »meine« Bisswunden. Eine Hyäne
oder Raubkatze, die auf die Leiche Sylvie Simonis’ losgelassen
worden war.
»Hast du kapiert?«
Er schwenkte voller Stolz seine
Doppelmachete. Um uns herum glänzten die Stahlwände matt unter der
Beleuchtung.
»Und wenn ich die Zeit gehabt
hätte, echte Raubtierzähne aufzutreiben, wäre die Illusion perfekt
gewesen.«
Der Bogen der Glassplitter
funkelte in dem silbernen Licht. An die Stelle von Ruanda traten
andere Schreckensbilder. Die Doppelklinge, die auf Sylvie Simonis
niederfuhr. Die dumpfen Geräusche der Schläge. Die Ah-Schreie des
atemlosen Mörders. Der zerfetzte, zerfleischte Körper
Sylvies.
»Wie bist auf diese Idee
gekommen?«
»Eine Abrechnung zwischen
Schwarzen an der Place de la République. Die Form der
Verstümmelungen hat mich dazu veranlasst, ein paar Telefonate zu
führen. Ärzte, die bei den jüngsten bewaffneten Konflikten vor Ort
halfen. Ruanda, Sierra Leone, Sudan …«
»Niemand hat diese Technik in
Ruanda benutzt.«
Er hob den Kopf.
»Das stimmt, du musst es ja
wissen. Tatsächlich spreche ich von Sierra Leone. Ich habe mich
kundig gemacht. Die Milizen von Foday Sankoh in den neunziger
Jahren. Einige Gruppen benutzten diese Methode, um den Menschen
weiszumachen, sie hätten sich die Hilfe der Tiere des Waldes
gesichert. Du bist doch dort gewesen, da brauch ich es dir doch
nicht lang und breit zu erklären.«
Ich wusste nichts über Sierra
Leone, aber ich erinnerte mich daran, dass die Männer dieser
Milizen sich mit schrecklichen Masken herausputzten. Bekannte
Bilder: Soldaten, die sich Patronengürtel umgehängt hatten,
schwenkten automatische Waffen und zogen gespenstische
Fratzen.
Ich betrachtete noch einmal die
Doppelmachete Svendsens. Diese scheußliche Waffe verlieh meinen
pragmatischen Hypothesen Gewicht.
Ein und derselbe Mörder.
In Estland, in Italien, in
Frankreich, ein Mann, der jedes Mal dieses zusammengeschusterte
»Dings« benutzte.
Es war auch ein weiterer
Verweis auf Afrika. Die Person, die ich suchte, hatte dort unten
gelebt. Sie hatte ihre Waffen auf dem schwarzen Kontinent
geschmiedet. Sie hatte bewaffnete Konflikte miterlebt und die
Insekten und Pflanzen dieser Länder studiert.
Ein Mensch aus Fleisch und Blut
zeichnete sich ab.
Pazuzu nahm Menschengestalt
an.
Ich beglückwünschte Svendsen
und verließ schnellen Schritts das Leichenschauhaus. Mehr denn je
musste ich die Ermittlungen auf der Grundlage konkreter
Erkenntnisse fortführen. Der »Höllengast« hatte sich große Mühe
gegeben, sich dem Teufel anzugleichen und den Glauben an eine
übernatürliche Kraft zu fördern. Aber jedes Detail seiner Technik
wurde enträtselt, und ich würde den Albtraum bis zu seinem Ursprung
zurückverfolgen.