KAPITEL 104

Freitagsabends hielt die Rue Myrrha ihre Versprechen.
   Klapprige Bars, Getuschel auf den Gehsteigen, Junkies, die dicht an den Hauswänden entlangschlichen, Englisch sprechende Nutten, die vor den Hauseingängen fröstelten – und regelmäßige Polizeistreifen. Der Regen trübte die Nacht, aber ich hatte noch nie so klar gesehen. Ich hielt meinen roten Faden in der Hand.
   Die Iboga. Wie die Teufelssklaven brauchte auch mein unbekannter »Gast« diese Pflanze.
   Zurück zum Ausgangspunkt.
   Zu Foxy, der Hexe.
   Im Treppenhaus funkelte es von allen Seiten. Durch zugespachtelte Löcher, Risse in den Türen, Spalten in den Holzfußböden drang aus jeder Wohnung Licht – grelle Glühbirnen, Gaslampen, Kerzen, die eine Märchenwelt des Elends beleuchteten. Ich stieg diese Spirale hinauf, während mir der Geruch nach Maniok, siedendem Öl und Urin in die Nase stieg.
   Der Muskelprotz, der die Etage Foxys bewachte, erkannte mich. Er trat zur Seite und ließ mich in den Gang hinein, bevor er mir auf dem Fuß folgte. Als ich durch das Gewirr der Zimmer schritt, sah ich die Mädchen, die sich herrichteten – auf ihren Matten kniend, wie zum Gebet. Sie betrachteten sich in kleinen Spiegeln oder lackierten sich die Nägel mit der Sorgfalt eines Künstlers.
   Ein zweiter Zerberus, dessen Gesicht im Dunkeln lag. Mein Begleiter gab ihm ein Zeichen, und er ließ mich durch. Ich hob den leinenen Vorhang an. Die schrumpeligen Nippsachen, die Kisten, die Flaschen, die Rauchschwaden: Kein Detail fehlte. Eine Hexenküche, an deren Decke Katzenpfoten, Pflanzensträuße, Muschelketten hingen …
   Foxy war allein. Sie saß mit ausgebreiteter Tunika auf dem Boden und hantierte mit Fragmenten von Honigwaben, die sie wie Kekse zerbrach. Sie gluckste, als ich nähertrat:
   »Honey, du hast wieder den Weg zu mir gefunden«, sagte sie auf Englisch.
   »Viele Wege führen zu dir, Foxy.«
   »Was wünschst du, mein Prinz?«
   »Immer wieder das Gleiche. Informationen über Massine Larfaoui.«
   »Die alte Geschichte.«
   »Du hast mir das letzte Mal nicht alles gesagt. Du hast mir nichts von der Schwarzen Iboga erzählt.«
   Sie brach die Honigwaben auseinander, der Honig floss über ihre Finger. Ich setzte ein Knie auf den Boden.
   »Deine krummen Geschäfte interessieren mich nicht, Foxy. Du kannst von mir aus verkaufen, was du willst, an wen du willst.«
   »Schwarze Iboga verkauf ich nicht. Es ist eine heilige Pflanze. Sie ist gefährlich für die Seele. Du wirst niemanden finden, der sie dir verkauft.«
   Sie log nicht: Die Schwarze Iboga war zweifellos tabu. Trotzdem war mit der Pflanze in Paris gehandelt worden. Zamorski hatte es mir bestätigt, und ich vertraute seinen Quellen.
   »Larfaoui deckte sich damit ein. Wie hat er das angestellt?«
   »Da gab es ein Verwirrspiel. Ich will nichts dazu sagen.«
   Sie ließ die goldgelben Waben fallen und ergriff meine Hand. Ihre Finger waren klebrig. Sie murmelte in lässigem Ton:
   »Erinnerst du dich noch an unsere Abmachung?«
   Ich nickte. Ihre Narben leuchteten im Kerzenschein. Sie schnalzte mit ihrer rosa Zunge:
   »Es ist wegen meiner Mädchen.«
   »Deiner Mädchen?«
   Sie nickte mit dem Kopf und zog ein Gesicht wie ein betrübtes kleines Mädchen.
   »Larfaoui drängte sie, ihm dieses Zeug zu besorgen.«
   »Bei wem?«
   »Ich sag dir nochmal: Ich will damit nichts zu tun haben! Außerdem wächst diese Wurzel nicht in meinem Land. Sie hatten andere Kontakte.«
   »Gabuner?«
   »Andere Mädchen, ja, die einen Marabut kannten. Eine Sache unter Negerinnen.«
   »Wann bist du dahintergekommen?«
   »Kurz vor Larfaouis Tod.«
   »Und wie?«
   »Der Bierverkäufer hat mich besucht. Er brauchte Mama.«
   »Wieso?«
   »Er war hinter der Schwarzen Iboga her. Er hatte gedacht, ich könnte ihm helfen. Er hatte sich getäuscht.«
   »Weshalb hat er dich gefragt? Hat er dir von den Geschäften deiner Mädchen erzählt?«
   »Larfaoui hat ausgepackt. Er war auf hundert. Er brauchte die Pflanze unbedingt. Für einen speziellen Kunden.«
   Das Blut knisterte in meinen Adern. Zu Recht oder zu Unrecht hatte ich das Gefühl, mich dem »Höllengast« zu nähern.
   »Was hat er dir über diesen Kunden gesagt?«
   »Nichts. Außer, dass er immer mehr wollte. Und der Kabyle hatte Angst.«
   »Und wann war das genau?«
   »Ich sag dir doch: zwei oder drei Wochen vor seinem Tod.«
   »Schien Larfaoui Angst um sein Leben zu haben?«
   Sie sah mich mit ihren großen Augen an. Sie hatte meine Hände losgelassen und fingerte wieder an den Waben herum. Ich hakte nach:
   »Antworte. Glaubst du, dass dieser Kunde imstande gewesen wäre, Larfaoui umzulegen?«
   »Ich kann dir nur sagen, wer hinter der Schwarzen Iboga her ist, der ist gefährlich! Das sind Besessene. Satanisten. Und Larfaoui hat die Pflanze nicht aufgetrieben. Von daher bin ich sicher …«
   Foxy täuschte sich. Luc hatte am Tatort eine bestimmte Menge Schwarze Iboga gefunden. Ich hielt ein anderes Szenario für wahrscheinlich: Der »Höllengast« und der Mörder waren ein und dieselbe Person. Larfaoui hatte geliefert, aber der »Höllengast« hatte ihn aus einem unbekannten Grund trotzdem getötet und die Iboga zurückgelassen.
   »Hat Larfaoui mit deinen Mädchen nicht über seinen Kunden gesprochen? Hat er nicht irgendetwas gesagt, wodurch man ihn identifizieren könnte?«
   Sie goss eine zähe Flüssigkeit in die flache Schale – kirschrotes Blut, das sie wohl bei Zimmertemperatur aufbewahrt hatte. Dann nahm sie einen Bronzestößel. Sie antwortete mit ihrer Grabesstimme:
   »Ja, Larfaoui hat mit den Mädchen geredet. Er hatte einen Mordsbammel. Er hat gesagt, dieser Mann wäre … anders.«
   »In welchem Sinne anders?«
   Sie wiegte den Kopf auf ihrem langen schwarzen Hals. Dieses Gespräch verärgerte oder beunruhigte sie.
   »Laut Larfaoui verfolgte er ein Ziel.«
   »Was für ein Ziel?«
   »Honey, gib’s auf. Es ist nicht gut, darüber zu reden.«
   »Beim ersten Mal hast du mir gesagt, der Mörder Larfaouis wäre ein Priester gewesen. Glaubst du, dass er dieser Kunde gewesen sein könnte?«
   »Lass mich in Ruhe. Ich muss jetzt das Trankopfer zum Schutz meiner Mädchen zubereiten …«
   Ich troff vor Schweiß. Die Weihrauchschwaden bissen mir in die Augen. Alles schien rot zu sein, als ob meine blutunterlaufenen Augen meine Wahrnehmung einfärbten. Hinter dieser Leinwand erschien der »Höllengast«. Ich malte ihn mir aus, wie er ohne Gesicht Schwarze Iboga kaufte, um seine chemischen Cocktails zu brauen, die er den künftigen Lichtlosen injizierte.
   Ich stand auf. Foxy zerstampfte noch immer mit dem Stößel langsam die Zutaten ihrer Mixtur. Sie blickte auf die flache Schale – tack-tack-tack … Sie murmelte:
   »Er behält uns im Auge. Er verfolgt uns.«
   »Wer?«
   »Der, der mein Mädchen getötet hat. Der, der Larfaoui getötet hat.«
   Meine Kehle brannte, als hätte ich einen Joint aus Weihrauch geraucht. Ich erwiderte:
   »Ich jage ihn.«
   Die Hexe lachte höhnisch. Meine Stimme überschlug sich und war nur noch ein Schrillen:
   »Unterschätz mich nicht. Die Partie ist noch nicht entschieden!«
   »Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast.« Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck spöttischen Mitleids an. »Honey, du hast nichts von der ganzen Geschichte begriffen!«
Das Herz der Hoelle
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