KAPITEL 57

Beim Aufwachen am nächsten Morgen schaltete ich den Fernseher ein. Ich musste nicht lange herumsuchen, um Neuigkeiten über den Vulkan zu erfahren. Die Lava breitete sich weiter aus. An der Nordflanke hatte sich der Strom auf einer Breite von 400 Metern bis auf 1500 Meter hinabgewälzt. Der Pinienwald von Linguaglossa brannte lichterloh, während Löschflugzeuge die Bäume mit Wasser besprühten, in dem Bestreben, die Katastrophe hinauszuzögern. Im Süden war der Lavastrom mittlerweile über einen Kilometer breit. Wegen des Ascheregens musste Sapienza evakuiert werden. Auf beiden Seiten des Berges hatten Bulldozer Erdwälle errichtet, um den Strom abzubremsen, während seine Ränder mit Wasser bespritzt und so in zwei erstarrte Bollwerke verwandelt wurden.
   Fantastische Bilder. Glutströme, die mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Sekunde die Hänge hinabsausten. Das schmelzflüssige Magma wälzte sich talwärts wie eine gigantische Schlange, die über klirrende und knallende Glasscherben kroch und Lavageysire in die Finsternis spuckte.
   Es war 7 Uhr morgens. Es war noch dunkel. Ich machte die Lampe am Kopfende an und betrachtete das Zimmer. Ein winziges Gelass, das durch die Motive auf der Tapete noch kleiner wurde. Das Bett stieß an den Fernseher, der seinerseits die Vorhänge der Fenstertür berührte, die zum Bad ging.
   Ich trat hinaus auf den Balkon. Meine Bude war im vierten Stock. Ein herrlicher Blick über die Dächer von Catania, die im Blau des Morgengrauens sichtbar wurden. Die Antennen und Gewölbe glichen den Lanzen und Schilden einer vorrückenden Armee. Die bereits erhellten Fenster erinnerten an die gelbbraunen Kästchen eines Adventskalenders.
   Ich zündete mir eine Camel an (ich hatte mich am Flughafen eingedeckt) und genoss den wunderschönen Anblick. Catania kannte ich zwar nicht, dafür aber Palermo. Ich wusste, dass Sizilien nicht bloß ein abgetrennter Teil Italiens ist, sondern eine uralte Welt für sich, voller Würde und Schweigen. Ein Welt von steinerner Kargheit, wild, losgelöst, sonnenverbrannt und gewalttätig.
   Ich beschloss, außerhalb zu frühstücken, um mich mit der Stadt vertraut zu machen. Doch zunächst setzte ich meine zweite Automatik zusammen, eine Glock, die ich zerlegt hatte, um unbemerkt durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen zu gelangen (die Metalldetektoren schlugen bei dieser Waffe aus Kunststoff nicht an), dann steckte ich sie in ihr Futteral aus schwarzem Cordura.
   Im Foyer der Pension waren Reporterteams. Fotografen überprüften ihre Apparate. Kameraleute steckten Batterien in ihre Taschen, als wäre es Munition. Journalisten kämpften am Telefon um Passierscheine.
   Draußen dagegen war alles ruhig. Im Morgengrauen schienen die Verzierungen an den Fassaden, Portalen und Balkonen die schmalen Gassen zu erdrücken. Zu diesem überladenen Dekor kamen die Autos, die Stoßstange an Stoßstange auf den Gehsteigen, dicht an den Mauern, parkten und die Parkverbotsschilder förmlich verhöhnten.
   Ich entdeckte eine Trattoria mit gefärbten Scheiben. Ein schwarzer Kaffee stretto und ein mit Marmelade gefülltes Croissant verschafften mir einen klaren Kopf. Als Erstes wollte ich zur Questura fahren. Ich hoffte, dass mir Michele Geppu genauere Auskünfte über den Fall Gedda geben und mir vielleicht ein Gespräch mit Agostina im Gefängnis von Malaspina vermitteln würde. Anschließend wollte ich in Zeitungsarchiven nach Artikeln über den Mord und die Vergangenheit der Sizilianerin recherchieren. Callacciura hatte von einer »Persönlichkeit« und einer »italienischen Geschichte« gesprochen. Ich war auf alles gefasst.
   Eine halbe Stunde, nicht weniger, um im Chaos der Autos und im Gewirr der Straßen meinen Wagen zu finden. In einer sizilianischen Stadt einen Fiat Punto wiederzufinden, dessen Nummernschilder von Vulkanstaub überzogen waren, war eine echte Meisterleistung.
   Pünktlich um 8.30 Uhr brach ich auf.
   Die Sonne war aufgegangen. In Catania, der schwarzen Stadt, verschmolzen Mauern, Gehsteige und Straßen zu einer Einheit. Man bewegte sich in einer mineralischen Welt mit vagen, verwischten, fast ausgelöschten Gestalten. Nur hin und wieder zeigte sich hinter einem Portal ein grüner Garten oder in einer Nische eine Madonna mit abblätternder Farbe. Ich dachte daran, was ich früher einmal, als ich in Rom lebte, im Carriere della Serra und in La Repubblica über die Stadt gelesen hatte. Catania war die Stadt in Italien – ja in Europa – mit der höchsten Verbrechensrate. Die Mafia mit ihren Konflikten, ihren Machenschaften und ihren Machtkämpfen hatte hier unangefochten das Sagen. Eines Morgens hatte man auf der Piazza Garibaldi, am Fuß der Statue des Helden, sogar den abgetrennten Kopf eines Ehrenmannes gefunden, der in Ungnade gefallen war.
   Der Verkehr wurde dichter. Unter dem tiefen Himmel herrschte eine Mischung aus Panik und Gleichgültigkeit. Vor jeder Kirche drängten sich die Gläubigen, sie sammelten sich zu Prozessionen und beteten für das Wohl der Stadt. Auf der anderen Seite fegten Händler in aller Ruhe die Asche vor ihrer Tür zusammen. Auf den Dächern der Gebäude widmeten sich Frauen der gleichen Tätigkeit, wobei sie sich von Terrasse zu Terrasse lauthals beschimpften.
   Um 9 Uhr entdeckte ich die Questura. Einsatzfahrzeuge rasten in vollem Tempo heraus. Carabinieri drängten sich im größten Innenhof und hatten khakifarbene Gewehre umgehängt, mit feuerabweisender Farbe lackiert. Ich fragte eine Wache nach dem Weg. Er verwies mich an die Pressestelle, wo ich die Genehmigungen einholen könnte. Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis und sagte, ich wolle den Questore persönlich sprechen. Er deutete auf das Gebäude hinten im Hof.
   Im Treppenhaus herrschte die gleiche hektische Geschäftigkeit. Männer rannten die Stufen hinunter. Stimmen hallten unter den hohen Decken wider. Ein Fernseher dröhnte noch lauter. Man spürte, dass Spannung in der Luft lag, eine nervöse Erregung, die alle befallen hatte.
   Im obersten Stockwerk fand ich das Büro des Questore. Inmitten des allgemeinen Getümmels schlüpfte ich inkognito ins Büro der Sekretärin und dann, durch eine zweite Tür in einen Raum, der so groß war wie eine Turnhalle. Am hinteren Ende des Raums saß der Questore hinter seinem Schreibtisch, ins Aktenstudium vertieft.
   Ehe er auf meine Anwesenheit reagieren konnte, durchquerte ich den Saal mit langen Schritten und zog meinen französischen Dienstausweis. Der Questore sah auf.
   »Wer sind Sie?«, fragte er. »Wie kommen Sie hier herein?«
   Süditalienischer Akzent. Ich legte das Empfehlungsschreiben vor. Während er las, musterte ich den Mann. Er hatte breite Schultern und trug einen dunkelblauen Anzug, der an eine Admiralsuniform erinnerte. Er hatte einen kahlen Schädel von fast aggressiver Festigkeit und schwarze Augen, die unter dem durchgehenden Strich der Brauen wie zwei Oliven leuchteten. Nachdem er den Brief gelesen hatte, legte er seine behaarten Hände auf seinen Schreibtisch.
   »Sie möchten mit Agostina Gedda sprechen? Wieso?«
   »Ich arbeite in Frankreich an einer Sache, die möglicherweise eine Verbindung zu diesem Fall hat.«
   »Agostina Gedda …«
   Er wiederholte diesen Namen mehrmals, als hätte man ihn an eine weitere Katastrophe erinnert, die in seiner Stadt geschehen war. Seine Augen sahen mich wieder prüfend an.
   »Haben Sie irgendeine Vollmacht, um in Sizilien zu ermitteln?«
   »Nichts außer diesem Brief.«
   »Ist es eilig?«
   »Supereilig.«
   Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und stöhnte:
   »Sie scheinen nicht auf dem Laufenden zu sein, der Ätna ist dabei, uns die Kehle abzuschnüren.«
   »Ich hatte diese … äußeren Umstände nicht vorhergesehen.«
   Hinter mir ging die Tür auf. Der Questore machte eine unwirsche Handbewegung. Die Tür wurde sofort wieder geschlossen.
   »Agostina Gedda …« Sein düsterer Blick ruhte noch immer auf dem Brief. »Die Akten befinden sich in Palermo, denn die Ermittlungen werden dort geführt.«
   »Ich möchte sie nur treffen.«
   »Dieser ganze Fall ist mir zuwider.«
   »Keine sehr erfreuliche Sache.«
   Er schüttelte seinen kantigen Kopf.
   »Der Mord hat etwas Mysteriöses. Etwas, was nicht aufgeklärt wurde.«
   »Kann ich sie sehen, ja oder nein?«
   Der Questore antwortete nicht. Er starrte noch immer auf meinen Brief. Für einige Sekunden tauchte er wieder in den Fall Gedda ein. Und das, was er in Gedanken sah, schien ihm nicht zu gefallen. Schließlich blickte er auf und nahm einen Kugelschreiber.
   »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
   Er kritzelte etwas an den Rand des Briefs.
   »Ich kenne die Direktorin von Malaspina. Aber da sind die Anwälte von Agostina.«
   »Sind es mehrere?«
   Er sah mich aus seinen dunklen Augen an. Ich glaubte einen Funken Wohlwollen zu erkennen.
   »Sie scheinen sich in dem Fall genauso gut auszukennen wie ich.«
   »Ich bin soeben in Catania eingetroffen.«
   »Dieses Mädchen wird von den besten Rechtsanwälten Italiens vertreten. Den Advokaten des Vatikans.«
   »Was könnte die Römische Kurie dazu veranlassen, eine Mörderin zu schützen?«
   Er seufzte abermals und legte den Brief rechts neben sich, in Griffweite. Hinter mir ging die Tür ein weiteres Mal auf. Diesmal stand der Questore auf.
   »Informieren Sie sich gründlich über die Tatumstände, bevor Sie dieses Monster aufsuchen.«
   Er durchquerte das Zimmer mit flotten Schritten. Beamte erwarteten ihn an der Tür. Über die Schulter warf er mir zu:
   »Hinterlassen Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer. Ich rufe Sie im Lauf des Tages an, spätestens morgen Früh.«
Das Herz der Hoelle
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