KAPITEL 30

Als ich die Stadt hinter mir gelassen hatte, tauchte ich in Wirbel von gelben und ockerfarbenen Blättern ein. Je nach Baumarten fuhr ich durch Teepfützen, über Blattgold oder verbrannten Toast. Eine ganze Palette gedämpfter und doch intensiver Farben.
   Ich hatte mir einen Führer und Landkarten für jedes Departement der Franche-Comté gekauft. Ich fuhr auf der Nationalstraße 57 Richtung Pontarlier-Lausanne, direkt nach Süden, und steuerte die Region Haut-Doubs an der Schweizer Grenze an.
   Mit zunehmender Höhe wichen die herbstlichen Farbtöne dem dunklen Grün der Tannen. Die Landschaft schien einer Werbesendung für Milka-Schokolade entsprungen zu sein. Sattgrüne Hügel, Dörfer mit zwiebelförmigen Kirchtürmen, Scheunen mit abgeschrägtem Giebel, deren lange polygonale Dächer an Faltarbeiten aus Karton erinnerten. Ein perfektes Bild. Die Kühe trugen sogar Bronzeglocken.
   Ein Schild: Saint-Gorgon-Main. Ich fuhr von der Nationalstraße ab und bog in die D41. Die Gipfel des Jura näherten sich. Die geradlinige Straße, von Tannen und roter Erde gesäumt, weckte in mir die Erinnerung an die endlose Heidelandschaft im Südwesten Frankreichs. Nach einiger Zeit bog ich dann Richtung Mont d’Uziers ab. Laut meiner Landkarte wohnte der Entomologe Mathias Plinkh irgendwo in dieser Gegend.
   Bald wurden die Kurven enger und gaben hin und wieder den Blick auf Ebenen tief im Tal frei. Schließlich tauchte das Kreuz auf. Dann kam ein Holzschild mit der Aufschrift: »Landgut Plinkh, Museum für Insektenkunde, Experte für Thanatologie, Insektenzucht«.
   Die neue Straße schlängelte sich zwischen den Hügeln hindurch. Plötzlich sah ich ein modernes einstöckiges Gebäude in Form eines L wie an den Hang geschmiegt. In dem Wechsel aus Holz und Stein erinnerte es an manche flachen Häuser auf den Bahamas mit ihren großen, breiten Glasfenstern, die von Holzterrassen umgeben sind. Die beiden Teile des L waren in zwei verschiedenen Stilen erbaut: auf der einen Seite zahlreiche Fenster, auf der anderen eine blinde Fassade mit nur wenigen kleinen runden Fenstern. Der Wohntrakt und das ökologische Museum.
   »Polizeiliche Ermittlungen sind so leicht wie das Drücken einer Klingel«, hatte einer meiner Ausbilder am Anfang meiner Karriere immer gesagt. Das würde sich noch zeigen. Ich parkte und drückte den Knopf an der Sprechanlage. Nach einer Minute ertönte eine dunkle Stimme mit nordischem Akzent. Ich stellte mich ohne Umschweife vor. »Gehen Sie in den ersten Raum. Ich komme sofort. Und sehen Sie sich die Bilder an!«
   Als ich die viereckige weiße Halle betrat, begriff ich, dass Plinkh von einer Reihe handgezeichneter wissenschaftlicher Skizzen sprach, die an den Wänden hingen. Fliegen, Käfer, Schmetterlinge: Die Präzision der Strichführung erinnerte an chinesische und japanische Aquarelle.
   »Die ersten Bilder aasfressender Insekten von Pierre Mégnin. 1888. Der Begründer der Forensischen Entomologie.«
   Ich drehte mich zu der Stimme um und erblickte einen Hünen, der eine schwarze Jacke mit Mao-Kragen trug. Graues Haar, grüne Augen, verschränkte Arme: ein New-Age-Guru. Ich reichte ihm die Hand. Er faltete die Hände nach Art der Buddhisten. Dann schloss er salbungsvoll die Augen. Sein Verhalten wirkte aufgesetzt und berechnend. Er schlug die Augen wieder auf und deutete mit der Hand nach rechts:
   »Hier entlang …«
   Ein zweiter Raum, genauso weiß. An den Wänden hingen Schaukästen mit aufgespießten Insekten. Heerscharen von Exemplaren aus der gleichen Familie in allen Größen und Farben ihrer jeweiligen Stammbäume.
   »Ich habe hier die Hauptgruppen zusammengetragen. Die berühmten ›Todesschwadronen‹. Dieser Saal ist ein echter Renner. Die Kinder lieben so was! Erzählen Sie ihnen von Insekten und Ökosystemen, und sie schauen zum Fenster raus. Erklären Sie ihnen, dass es um Leichen geht, schon lauschen sie andächtig!«
   Er ging auf einen Kasten zu, der Reihen blau schimmernder Fliegen enthielt.
   »Die berühmten Sarcophagidae – Fleischfliegen. Sie tauchen nach etwa drei Monaten auf. Sie wittern einen Kadaver auf dreißig Kilometer Entfernung. Als ich als Experte im Kosovo war, fanden wir die Massengräber dadurch, dass wir nach ihren Schwärmen Ausschau hielten …«
   »Monsieur Plinkh …«
   Er blieb vor einer Reihe tieferer Rahmen stehen, die mit Zeitungspapier ausgelegt waren.
   »Ich habe hier einige Fallbeispiele zusammengestellt. Verbrechen, hei denen der Täter mithilfe von Insekten überführt wurde. Beachten Sie die raffinierte Gestaltung: Jeder Kasten ist mit den Zeitungsausschnitten geschmückt, die sich mit dem Fall befassen.«
   »Monsieur Plinkh …«
   Er ging noch einen Schritt weiter.
   »Das sind außergewöhnliche Exemplare aus vorgeschichtlicher Zeit, die wir in den gefrorenen Mammut-Kadavern gefunden haben. Wussten Sie, dass sich der Chitinpanzer einer Fliege nicht zersetzt?«
   Ich sprach lauter:
   »Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Sylvie Simonis zu reden.«
   Er blieb unvermittelt stehen und schloss langsam die Augen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen:
   »Ein Meisterwerk.« Er faltete abermals die Hände. »Ein absolutes Meisterwerk.«
   »Diese Frau hat ein entsetzliches Martyrium durchgemacht. Irgendein Psychopath hat sie eine Woche lang gefoltert.«
   Wie eine Eule riss er seine strahlenden Augen auf. Er schien wirklich überrascht.
   »Das meine ich nicht. Ich spreche von der Verteilung der Spezies auf der Leiche. Keine einzige Art fehlte! Die Schmeißfliegen, die sich unmittelbar nach dem Tod einfinden, die Fleischfliegen, die sich anschließend, in der Phase der Buttersäuregärung, auf dem Kadaver niederlassen, die Käsefliegen und die Rotbeinigen Schinkenkäfer, die sich nach acht Monaten, wenn die jauchigen Flüssigkeiten verdunsten, an dem Kadaver zu schaffen machen … Das gesamte Spektrum in der richtigen Reihenfolge. Ein Meisterwerk.«
   »Ich versuche mir seine Vorgehensweise vorzustellen.«
   Er wandte seinen grauhaarigen Kopf.
   »Seine Methode?«, wiederholt er. »Kommen Sie mit.«
   Ich folgte dem Guru in einen mit Pinienbrettern getäfelten Gang. Wir traten durch eine mit Watte abgedichtete Brandschutztür in einen großen Raum, der im Halbdunkel lag und an dessen beiden Seitenwänden mit Gaze verkleidete Käfige standen, die an Terrarien erinnerten. Die Hitze war erstickend. Es roch nach rohem Fleisch und Chemikalien.
   In der Mitte des Raumes stand auf einem weißen Labortisch ein rechteckiger Kasten, der mit einem Leintuch behängt war. Ich befürchtete das Schlimmste.
   Plinkh näherte sich dem Tisch.
   »Der Mörder ist wie ich. Er füttert seine Insekten und berücksichtigt dabei das von ihnen bevorzugte Verwesungsstadium …«
   Er zog das Tuch weg. Ein Terrarium kam zum Vorschein. Ich erkannte zunächst nur eine von Mücken umschwärmte Masse. Dann glaubte ich einen Menschenkopf zu sehen, der von Maden wimmelte. Ich täuschte mich, es war nur ein großes, stark zerfressenes Nagetier.
   »Es gibt nicht beliebig viele Lösungen. Man muss jeder Spezies das Milieu bieten, das auf sie zugeschnitten ist, das heißt den passenden Grad der Fäulnis.«
   »Wo besorgen Sie sich die Kadaver?«
   »Bei Landwirten und Jägern … Ich kaufe meistens Kaninchen. Sobald eine Aasfresserart satt ist, füttert man die nächste mit dem Kadaver und so weiter …«
   »Darf ich rauchen?«, fragte ich.
   »Nein, lieber nicht.«
   Ich ließ die Schachtel in meiner Tasche und fuhr fort:
   »Ich frage mich, wie der Mörder Sylvie Simonis transportiert hat. Wie ist er Ihrer Meinung nach vorgegangen? Der Transport muss ihm doch seine schöne Inszenierung verdorben haben.«
   »Nein. Er hat die Leiche wohl in eine Plastikplane eingewickelt und sie dann oberhalb der Felswand ausgepackt und abgelegt.«
   »Und die Insekten? Sie müssen doch entwichen oder eingegangen sein?«
   Plinkh lachte laut auf:
   »Der Kadaver ist doch mit Vorräten gespickt! Tausende von Eiern, aus denen nach einer gewissen Zeit Insekten schlüpfen. Larven, die eine bestimmte Lebensdauer haben. Die Fliegen schwirren natürlich umher, entfernen sich aber nie allzu weit von dieser reichen Nahrungsquelle. Im Übrigen liegen Sie nicht völlig falsch: Die Leiche hatte an diesem Morgen noch nicht lange dort gelegen. Das ist sicher.«
   »Wieso?«
   »Diese Aasfresser kommen nicht gut miteinander aus. Sie halten sich niemals gleichzeitig auf einem Kadaver auf, weil sie von unterschiedlichen Verwesungsstadien angelockt werden. Wenn sie aufeinandertreffen, fressen sie sich gegenseitig. Da die Leiche von sämtlichen Aasfressern gleichzeitig besiedelt war, kann der Leichnam erst wenige Stunden vor seiner Entdeckung abgelegt worden sein.«
   »Das könnte bedeuten, dass der Täter aus der Gegend stammt.«
   »Er lebt mit Sicherheit in der Gegend.«
   »Woher wollen Sie das wissen?«
   »Es gibt ein Indiz.«
   »Was für ein Indiz?«
   Plinkh lächelte. Er schien das alles wahnsinnig komisch zu finden. Dieser Typ war nicht ganz dicht, und ich wollte so schnell wie möglich zum Ende kommen.
   »Bei der Untersuchung der Leiche habe ich zahlreiche Proben genommen. Ich fand ein Insekt, das nicht in dieser Region heimisch ist, das heißt nicht aus einem Land mit gemäßigtem Klima stammt.«
   »Woher stammt es?«
   »Aus Afrika. Es ist ein Skarabäus aus der Familie Lipkanus silvus, ein Verwandter unseres Mehlkäfers. Eine Käferart, die in der Phase der Skelettierung auftaucht, sozusagen für den Schlussputz.«
   Ein aufschlussreiches Indiz in der Tat. Aber ich verstand nicht, wieso es bewies, dass der Mörder aus der Region kam. Plinkh fuhr fort:
   »Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen. Ich baue gegenwärtig ein ökologisches Museum für die Region auf, in dem die zahlreichen heimischen Arten ausgestellt werden sollen. In diesem Rahmen beschäftige ich Jugendliche, die für mich auf Insektenjagd gehen und Maikäfer, Schmetterlinge, Milben und so weiter sammeln. Vor Kurzem hat mir einer von ihnen ein ganz besonderes Exemplar gebracht. Einen Käfer, der hier nicht heimisch ist.«
   »Einen Skarabäus?«
   »Einen Lipkanus silvus, genau. Der Junge fand den Käfer in der Nähe von Morteau. Dieses Exemplar muss aus einer Privatsammlung entwischt sein. Ich habe Nachforschungen angestellt, ob es in der Gegend eine ähnliche Insektenzucht wie meine gibt, aber ich bin nicht fündig geworden. Das Gleiche auf Schweizer Seite. Als ich das zweite Exemplar auf der Leiche von Sylvie Simonis gefunden habe, war mir sofort klar, dass das erste aus derselben Quelle stammt: der Zucht des Mörders.«
   »Wann war das?«
   »Im Sommer 2001.«
   »Haben Sie das der Polizei gesagt?«
   »Ich habe Capitaine Sarrazin davon erzählt, aber auch er hat nichts herausgefunden, sonst hätte er sich wieder mit mir in Verbindung gesetzt.«
   »Also züchtet der Mörder eine tropische Käferart?«
   »Entweder er hat von einer Reise unabsichtlich ein Exemplar mitgebracht, das sich in seine Zucht eingeschlichen hat. Oder er züchtet diese Art gezielt und hat diese Tiere aus einem unbekannten Grund auf seinem Opfer ausgesetzt. Ich neige zu der zweiten Variante. Dieser Skarabäus ist eine Unterschrift. Ein Symbol, dessen Sinn wir nicht verstehen.«
   »Könnte ich den Käfer sehen? Haben Sie ihn aufgehoben?«
   »Natürlich. Ich kann Ihnen dieses Exemplar sogar überlassen. Ich schreibe Ihnen den Namen auf.«
   Dass er von einer Unterschrift sprach, rief mir ein weiteres Element in Erinnerung:
   »Hat man Ihnen auch gesagt, dass im Brustkorb Flechten gefunden wurden?«
   »Ich war bei der Obduktion dabei.«
   »Was halten Sie davon?«
   »Noch ein Symbol. Oder etwas mit einem ganz bestimmten Zweck …«
   »Könnte diese Flechtenart ebenfalls aus Afrika stammen?«
   Er sah mich verärgert an:
   »Ich bin Entomologe, kein Botaniker.«
   Ich versuchte mir den Ort vorzustellen, an dem diese Wahnideen verwirklicht worden waren. Eine Insektenzucht, ein Labor, ein Gewächshaus. Und was machte die Gendarmerie? In Anbetracht des Aufwands, der mit einer solchen Zucht verbunden war, hätte es doch ein Leichtes sein müssen, eine solche Farm in den Tälern der Gegend aufzuspüren.
   »Er ist hier«, fügte Plinkh hinzu, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ganz in unserer Nähe. Ich spüre seine Gegenwart, seine Schwadronen, irgendwo in unseren Tälern … Seine Armee ist bereit für einen neuen Angriff. Das sind seine Heerscharen, verstehen Sie?«
   Ich blickte nach rechts, zu den Gazekästen. Alles erschien mir wie unter einer Lupe vergrößert. Milben, die auf einer Haarsträhne krabbelten; eine Fliege, vollgepumpt mit Blut, die an einer triefenden Wunde leckte; Hunderte von Eiern, gräulicher Kaviar in einer fauligen Fleischtasche …
   Ich fragte mit tonloser Stimme:
   »Könnten wir in Ihr Büro zurückgehen?«
Das Herz der Hoelle
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