KAPITEL 119

Der Boulevard Périphérique. Durchgetretenes Gaspedal.
   Ich konnte in sechs oder sieben Stunden in Pau sein.
   Ich würde gegen 3 Uhr morgens im Internat eintreffen. Autobahn A6, dann A10, Richtung Bordeaux.
   Ich schaltete meinen Autopiloten ein, der auf zweihundert Stundenkilometer eingestellt war.
   Die Straße war leer, ein schwarzer Abgrund, der nur von den Fahrbahnmarkierungen am Boden durchbrochen wurde, die ich mit meinem dahinschießenden Wagen gierig verschlang.
   Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und verdrängte so erfolgreich alle düsteren Gedanken. Ich war unterwegs zur letzten, entscheidenden Konfrontation. Dennoch tauchten am Rande meines Bewusstseins Visionen auf. Blutspuren an der Wand des Zimmers, die die Silhouetten der Opfer nachzeichneten. Der Körper Manons, zerschmettert zwischen den verbogenen Blechen meines eigenen Wagens. Der ausgeweidete Sarrazin in seiner Badewanne. Diese Phantome schwebten neben mir im Fahrgastraum – sie waren meine einzigen Gefährten.

23 Uhr

Müdigkeit überfiel mich. Ich schaltete das Radio an, um mich wachzuhalten. Nachrichten. Kein Wort mehr über den dreifachen Mord in der Rue Changarnier. Seltsames Gefühl, Schwindel. Ich war der einzige Mensch auf der Welt, der die Lösung des Rätsels kannte.

Mitternacht

Ich öffnete das Fahrerfenster, um mir den Fahrtwind ins Gesicht peitschen zu lassen. Nichts zu machen. Meine Augen fielen von selbst zu, meine Gliedmaßen wurden steif. Der Schlaf übermannte mich mit eiserner Schwere. Ich fuhr auf einen Parkplatz.
   Schaltete den Motor aus und nickte sofort ein.
   Als ich aufwachte, zeigte die Uhr im Armaturenbrett 2.45 Uhr. Ich hatte fast drei Stunden geschlafen. Ich fuhr los und fand eine Tankstelle. Volltanken. Ein Kaffee. Ich hatte in vier Stunden sechshundert Kilometer zurückgelegt. Ich war in der Nähe von Bordeaux. Nach der Arcins-Brücke blieben mir bis Pau noch zweihundert Kilometer. Im Morgengrauen würde ich in Saint-Michel-de-Sèze sein.
   Erwartete mich Luc tatsächlich dort? Ein Blitz, und ich sah uns wieder, am Fuß der Apostelstatuen. Die besten Freunde der Welt, vereint durch ihren Glauben und ihre Passion … Ich warf meinen Becher in den Abfalleimer – der Kaffee schmeckte nach Erbrochenem – und fuhr wieder los.
   Die letzten zweihundert Kilometer legte ich mit weit aufgerissenen Augen in gemächlicherem Tempo zurück. Gegen 6 Uhr zeichnete sich die Ausfahrt nach Pau auf der rechten Seite ab. Ich fuhr zunächst über die A64 und E80 Richtung Tarbes und dann über die D940 geradewegs nach Süden Richtung Lourdes.
   Plötzlich erkannte ich die Straße wieder.
   Noch fünfzehn Kilometer, und der vertraute Hügel tauchte auf. Nichts hatte sich geändert. Auf dem Gipfel die klare Silhouette des Klosters, der Glockenturm in Form eines Bleistifts. Die modernen Gebäude, die verstreut am Hang lagen. Falls er mich hier erwartete, ahnte ich schon, wo.
   Ich fuhr die Serpentinenstraße hinauf, am Klostergelände entlang und hielt auf dem Parkplatz der Abtei. Ich ging zu Fuß zum Tor in der Umfassungsmauer. Mehrere hundert Meter tiefer, am Fuß der Anhöhe, schlief das Internat noch. Eine unwirkliche Atmosphäre. Ich spürte die Kälte nicht. Ich war selbst so durchgefroren, dass mir der eisige Wind nichts anhaben konnte.
   Ich stieg über das Eisentor und stapfte über den Kiesweg zum Kloster. Ich ergriff keinerlei Vorsichtsmaßnahme. Wieder eine Mauer. Kein Problem, ich kannte den Weg. Ich marschierte nach rechts, bis ich die erste Schießscharte fand, die anderthalb Meter über dem Boden die Mauer durchbrach. Ich schlüpfte auf der Flanke hinein und landete auf der anderen Seite auf der mit Reif überzogenen Wiese.
   Diesmal blieb ich im Schatten der Mauer stehen. Über fünf Minuten lang beobachtete ich das Kloster. Nicht die geringste Regung. Ich ging los. Das gefrorene Gras knirschte unter meinen Schritten. Dunstfahnen entwichen meinem leicht geöffneten Mund. Mein Herz klopfte, und ich lauschte auf irgendein Lebenszeichen in diesem ausgestorben wirkenden Gebäudekomplex, der zwischen Himmel und Erde schwebte.
   War er ebenfalls da?
   Hielten wir beide den Atem an?
   An einer Ecke des Klosters blieb ich stehen. Ich zog meine Waffe. Kein Laut, keine Bewegung. Ich ging durch die Galerie und gelangte in den Innenhof. Ein in Stille gehülltes Rechteck aus blauem Gras. Zu beiden Seiten die im Dunkeln liegenden Laubengänge des Klosters. Und direkt vor mir die Statuen. Der heilige Matthäus mit seinem Beil; Jakobus der Ältere mit seinem Pilgerstab, Johannes mit seinem Kelch …
   Diese Heiligen waren unsere Vorbilder gewesen. Wir wollten Pilger, Apostel, Soldaten werden. Diese Gelübde hatten wir nicht verraten. Auf unsere Art wurden wir zu Kämpfern. Nicht zu Verbündeten, wie ich geglaubt hatte, sondern zu Gegnern.
   Durch die Kälte wurde ich allmählich ganz steif. Ich gab mir noch fünf Minuten, um herauszufinden, ob der Feind da war. Nach zwei Minuten spürte ich kaum noch etwas. Ich zitterte nicht mehr. Die Kälte hüllte mich ein und machte mich unempfindlich.
   Aber dann sagte ich mir, dass ich mich, wie auf dem Simplonpass, bewegen müsste, um keine Erfrierungen davonzutragen. Ich schlich mich unter das Gewölbe. Ich war nicht wirklich auf der Hut, denn ich wusste, dass Luc mit mir sprechen wollte, bevor er mich umbrachte. Diese Rede, diese Erklärung war ein notwendiger Epilog. Der folgerichtige Abschluss seiner großen Intrige. Der endgültige Sieg des Bösen über das Gute, wenn Satan seinem Opfer durch das Wort den Todesstoß versetzte.
   Vier Minuten.
   Ich hatte mich getäuscht. Luc war nicht da. Mein Arm sank nach unten, und ich legte meinen Zeigefinger auf den Sicherungsbügel meiner Waffe. Sackgasse. Luc war verschwunden, und ich hatte keine andere Spur. Ich hatte seine Botschaft falsch gedeutet.
   Da erkannte ich meinen Irrtum. DORT, WO ALLES BEGONNEN HAT.
   Die Geschichte nahm nicht hier, in diesem Kloster, ihren Anfang, sondern viel früher. Der wirkliche Ursprung der Legende Lucs war sein Unfall. Er hatte sich nicht in der Wiege unserer Freundschaft-Rivalität mit mir verabredet, er erwartete mich dort, wo er sein prägendes, schicksalhaftes Erlebnis hatte.
   In der Genderer-Höhle.
   Dort, wo sich ihm der Teufel offenbart hatte.
Das Herz der Hoelle
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