KAPITEL 56

Selbst unter der heißen Dusche wurde mir nicht richtig warm. Es war wie mit den Tiefkühlgerichten, die ich manchmal zuzubereiten versuchte: außen heiß, aber innen nach wie vor gefroren.
   In den Thermen der Caravaggio Lounge rasierte ich mich und zog einen neuen Anzug an. Ich war endlich klar genug im Kopf, um mich meiner neuesten Hypothese zuzuwenden: Die Ermordung von Sylvie Simonis öffnete die Tür zu einer anderen Wirklichkeit, die über den Ritualmord hinausführte. Ein verbotenes Wissen, eine höhere Logik, deren Bewahrung sogar Töten zuließ. Aus diesem Grund hatte man versucht, mich auszuschalten. Luc hatte gesagt: »Ich habe den Schlund gefunden.« Ich war unterwegs zu diesem Schlund. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber die Männer, die mich letzte Nacht verfolgt hatten, wussten es.
   Im Flugzeug blätterte ich die Akte von Callacciura durch. Im Prinzip hatte er mir schon alles erzählt. Die Leiche Salvatores war auf einer verlassenen Baustelle nördlich von Catania gefunden worden. Agostina Gedda war einige Stunden danach in ihrer Wohnung festgenommen worden. Sie hatte keinen Widerstand geleistet und noch am selben Tag alles gestanden. Sie behauptete, die Säuren im Krankenhaus entwendet und ihren Mann am späteren Fundort der Leiche zu Tode gefoltert zu haben. Die Ermittler hatten Fläschchen, Gurte und organische Rückstände gefunden.
   Agostina hatte sich zu den Bissspuren, den Flechten und der abgeschnittenen Zunge nicht geäußert, aber sie kannte diese Elemente. Sie hatte sich das Ganze unmöglich ausdenken können. Aber warum hatte sie ihren Mann ermordet? Wozu all diese Gräuel? Wozu dieses Raffinement? Die Krankenschwester hatte nichts dazu gesagt.
   Die Aktenmappe enthielt auch Fotos der Protagonisten. Salvatore Gedda war ein junger Mann mit freundlichem Gesicht und hellen Augen mit langen Wimpern. Agostina hatte ein feines, ebenmäßiges Gesicht und kurz geschnittene schwarze Haare. Leuchtende tintenschwarze Augen, eine Stupsnase, kirschrote Lippen. Ihr Porträt war eine anthropometrische Aufnahme. Doch über dem Schild, das ihren Namen trug, strahlte sie eine Klarheit und Unschuld aus, die in krassem Gegensatz zu dem Anlass der Aufnahme stand.
   Das Flugzeug ging in den Landeanflug über. Fast 18 Uhr. Die Dunkelheit brach über Sizilien herein. Mehrere Passagiere der gegenüberliegenden Fensterreihe sahen aus dem Fenster. Einige von ihnen filmten, andere fotografierten. Ihre Begeisterung erstaunte mich. In der Finsternis durfte Catania keinen spektakulären Anblick bieten, umso weniger, als die Altstadt aus schwarzem Lavastein erbaut war.
   Nach der Landung ging ich durch den Zoll und hielt Ausschau nach den Niederlassungen der Autovermietungen. Die Geschäftigkeit im Flughafen verwunderte mich. Fernsehteams räumten ihr Material zusammen. Patrouillierende Soldaten durchquerten die Ankunftshalle im Eilschritt. Hatte ich etwas verpasst?
   Ich steuerte den einzigen Stand an, der nicht von Reportern umlagert war. Ich entschied mich für ein unauffälliges Modell – einen Fiat Punto, Kategorie C – und unterschrieb die Blätter, die der Angestellte mir hinhielt. Ich fragte:
   »Kennen Sie ein gutes Hotel in Catania?«
   »Kein Problem.«
   Der Mann fuhr mit der Hand unter die Theke und zog einen Plan heraus.
   »Journalist?«
   »Wieso Journalist?«
   »Kommen Sie nicht wegen des Ausbruchs?«
   »Was für ein Ausbruch?«
   Der Mann lachte.
   »Gestern ist der Ätna erwacht. Sie haben Glück gehabt, dass Sie überhaupt landen konnten. Morgen wird die Landebahn von Asche bedeckt sein. Es ist zweifellos der letzte Flug für längere Zeit.«
   »Sie scheinen nicht besorgt zu sein.«
   »Besorgt? Überhaupt nicht. Wir sind das gewöhnt!«
   Trotzdem war der Notstand ausgerufen worden.
   Auf der Straße hatten die Carabinieri Sperren errichtet, damit die Fahrzeuge nicht Richtung Vulkan fuhren. Ich schaltete das Radio ein und stieß auf eine Nachrichtensendung. Der Ausbruch an diesem 28. Oktober war außergewöhnlich. Seit Jahrzehnten hatte es keine Eruption dieser Stärke mehr gegeben. An zwei Hängen hatten sich gleichzeitig Spalten aufgetan. Ein erster Ausbruch auf der Nordflanke, gegen 2 Uhr morgens, hatte die Bergstation von Piano Provenzana in 2500 Metern Höhe verwüstet. Dann hatte sich eine zweite Spalte an der Südflanke geöffnet. Sie wurde immer länger und näherte sich einer anderen Schutzhütte oberhalb der Ortschaft Sapienza. Mittlerweile war die Rede von gigantischen Rissen, die sich auf einer Länge von zwei Kilometern auftaten.
   Ich schaltete das Radio aus. Ich glaubte ein dumpfes Grollen zu hören, das von Verpuffungsgeräuschen untermalt wurde. Ich hielt auf dem Seitenstreifen und spitzte die Ohren. Ja: kurze, kompakte Donnerschläge. Die Detonationen des Ätna in der Finsternis. Unter der Bodenmatte spürte ich die seismischen Wellen.
   Ich fuhr wieder los, mehr fasziniert als erschrocken. Laut meiner Landkarte befand ich mich südlich des Vulkans. Ich sah bereits eine der rot leuchtenden Spalten sowie Fontänen und Ströme glutflüssiger Lava, die Schweife in den Nachthimmel zeichneten.
   Als der Ätna in ganzer Größe in Sicht kam, hielt ich abermals an. Auf der Straße brausten in dichter Folge Fahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht und heulenden Martinshörnern dahin. Es herrschte eine regelrechte Weltuntergangsstimmung.
   Die Spitze des verschneiten Vulkans war von einem leuchtend orangefarbenen Lichthof umgeben, der an den Dotter eines gigantischen weichgekochten Eies erinnerte. Ringsherum durchzuckten Lichtprojektionen, Feuerteilchen, glühende Lavaspritzer, wie von einem Katapult abgeschossen, den Himmel. Die Lava ergoss sich über die Hänge, langsam, mächtig, unaufhaltsam.
   Ich war wie hypnotisiert. Diese Eruption war wie ein Vorzeichen. Der Odem des Teufels empfing mich. Ich dachte an folgende Stelle aus der Offenbarung des Johannes:
   Der zweite Engel blies seine Posaune.
   Da wurde etwas, das einem großen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen.
   In den schwarzen Rauchschwaden, die dem Krater entwichen, zeichnete sich ein Gesicht ab. Das entstellte Gesicht Pazuzus mit gefletschten Zähnen, blutunterlaufenen Augen. In den wallenden Dämpfen schnitt der Schwarze Engel eine Grimasse und streckte mir die Zunge heraus. Eine pechschwarze, rissige Zunge, die die Flammen des Vulkans aufleckte und mich lockte, näher zu kommen, bis ich in den Schlund des Kraters stürzte.
Das Herz der Hoelle
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