KAPITEL 76

Um Mitternacht war ich in Lyon. Um 2 Uhr in Besançon. Um 3 Uhr war ich wieder in Sartuis, der Stadt, in der die Uhren stillstanden. Seitdem ich mich den Tälern des Jura näherte, prasselte der Regen auf den Asphalt. Jetzt rann er über die Dächer, ließ die Dachrinnen anschwellen und bildete längs der Gehsteige kleine Sturzbäche. Die Hauptverkehrsstraße schien sich zu neigen und einem Bottich gleich in den Abgrund der Nacht zu stürzen.
   Ich fand den Hauptplatz – und damit das Rathaus. Ein gesichtsloses modernes Gebäude, das in den Schlammmassen des Unwetters zu versinken schien. Ich ging um das Gebäude herum. Welke Blätter und Wassertropfen, die von meinen Schuhsohlen abfielen. Ich entdeckte das Wärterhäuschen.
   Ich klopfte an das vergitterte Fenster. Ein Hund bellte. Ich klopfte wieder. Nach zwei langen Minuten ging die Tür einen Spaltbreit auf. Ein Mann sah mich fassungslos an. Ich schrie gegen den tosenden Regen an:
   »Sind Sie der Pförtner des Rathauses?«
   Der Mann antwortete nicht.
   »Sind Sie der Wärter, ja oder nein?«
   Der Hund bellte noch immer. Ich war froh, dass der Kerl seine Tür nicht ganz weit geöffnet hatte.
   »Wissen Sie, wie viel Uhr ist es?«, brummte er schließlich. »Worum geht es?«
   »Haben Sie die Schlüssel zum Rathaus, verdammt?«
   »Sprechen Sie nicht in diesem Ton, oder ich lass den Hund los! Ich bin städtischer Angestellter. Ich drehe zwei Mal nachts meine Runde, das ist alles.«
   »Nehmen Sie Ihre Schlüssel. Ich muss hinein.«
   »Wozu?«
   Ich hielt ihm meinen Dienstausweis unter die Nase:
   »Auch ich bin städtischer Angestellter.«
   Fünf Minuten später war der Mann in einer großen Parka mit Kapuze an meiner Seite. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand.
   »Ich habe den Hund drinnen im Warmen gelassen. Brauchen Sie ihn?«
   »Nein. Ich muss nur etwas in den Karteikästen nachsehen. In einer Stunde sind Sie wieder im Bett.«
   Ein paar Sekunden später befanden wir uns im Innern des Gebäudes.
   Die Gänge kamen mir vor wie die Laderäume eines Frachters. Die Windstöße und der prasselnde Regen ließen das Trommelfell vibrieren.
   »Was genau suchen Sie eigentlich?«
   »Das Standesamt. Die Sterbeurkunden.«
   »Im ersten Stock.«
   Eine Treppe, ein weiterer Gang, dann richtete der Mann den Lichtkegel auf eine Tür. Ein weiterer Schlüssel, und wir gelangten in einen großen Raum, der stroboskoplichtartig von den Blitzen des Unwetters erhellt wurde.
   Er betätigte den Schalter. Der Saal glich einer Bibliothek. Konstruktionen aus Metall bildeten mehrere Galerien, in denen sich gelbe Buchdeckel aneinanderreihten. Links thronte ein einsamer Schreibtisch. Darauf stand ein nagelneuer Computer.
   »Können Sie den bedienen?«, fragte ich.
   »Nein. Ich hab einen Hund. Ich mache meine Runden. Das ist alles.«
   Ich wandte mich den Regalen zu:
   »Ist das das Archiv?«
   »Was glauben Sie denn? Die Cafeteria?«
   »Wird hier noch eine Kopie auf Papier von jeder Bescheinigung aufbewahrt?«
   »Ich habe keine Ahnung. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass sie sich immer in ihren Papierkram vergraben, diese Dummköpfe, und …«
   Ich streifte durch die Gänge und musterte eingehend die Aktenordner. Geburten, Eheschließungen, Todesfälle: Alles war da. Eine Wand war den Vermissten vorbehalten – von der Nachkriegszeit bis heute. Ich fand sehr schnell die achtziger Jahre.
   Ich zog die Aktenmappe »1988« heraus und blätterte die Scheine bis November durch. Keine Bescheinigung auf den Namen Manon Simonis. Meine Hände zitterten. Regenwasser tropfte aus meinen durchnässten Sachen auf den Boden. Monat Dezember. Nichts. Ich stellte alles zurück.
   Ein tonloses Geräusch hallte in mir wider.
   Eine letzte Sache, die ich überprüfen wollte.
   Nachts wirkte Le Locle noch wilder als Sartuis. Die Hauptstraße einer Stadt im Wilden Westen, bunkerartige Gebäude, vom Regen gepeitscht. Und die in mir widerhallende Stimme von Pfarrer Mariotte, der meinte, Manon sei auf der anderen Seite der Grenze beigesetzt worden:
   »Ihre Mutter wollte das Medienspektakel, das Aufsehen vermeiden …«
   Der Friedhof befand sich am Ende der Stadt. Ich stellte den Wagen ab, nahm meine Taschenlampe und ging die Tannenallee hinauf. Ich kletterte über das Eisentor und landete auf der anderen Seite in einer Pfütze.
   Der Tod macht alle Menschen gleich. Das gilt auch für die Friedhöfe. Die Stelen, die Kreuze: Steinerne Schlösser, die alles besiegelten – Lebenswege, Schicksale, Namen. Ich ging weiter und verschaffte mir einen Überblick über die Arbeit, die mich erwartete: sechs Alleen, an denen beidseitig jeweils mehrere Dutzend Gräber lagen. Niedrig geschätzt, musste ich drei- bis vierhundert Ruhestätten durchgehen.
   Mit der Taschenlampe vor mich leuchtend, nahm ich den ersten Pfad in Angriff. Der Regen fiel so dicht, dass er fast einen geschlossenen Vorhang bildete. Die Windstöße kamen von vorn, von hinten und von den Seiten, und sie schlugen mit der Wucht eines Boxers zu, der einen Außenseiter, der schon in den Seilen hängt, brutal fertigmacht.
   Erster Weg: Keine Manon Simonis.
   Zweiter Weg: Keine Manon Simonis.
   Dritter, vierter, fünfter Weg: Noch immer keine Manon.
   Der Lichtkegel meiner Taschenlampe glitt über Kreuze und Namen hinweg, und es war wie ein Countdown, der mir eine unglaubliche Wahrheit enthüllte. Wie lange wusste ich es schon? Seit wie vielen Sekunden hatte sich meine Hypothese in absolute Gewissheit verwandelt?
   Am Ende des sechsten Wegs fiel ich im Kies auf die Knie.
   Das Kind war 1988 nicht gestorben.
   Das war eine gute und eine schlechte Nachricht.
   Gut: Manon hatte ihre Ermordung überlebt.
   Schlecht: Dank dem Teufel.
   Sie war eine Lichtlose, und sie hatte ihre Mutter umgebracht.
Das Herz der Hoelle
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