KAPITEL 14

Manchmal ist ein Fiasko besser als ein Sieg.
   Ein Fehler ist nützlicher, aufschlussreicher als ein Erfolg. So ahne ich, als ich Brigitte Coralin, geborene Oppitz, in Vorbereitung meines ersten echten »Zugriffs« in flagranti vernehme, nicht, dass ich einige Stunden später ein Massengrab entdecken werde. So wenig wie ich ahne, dass mir diese missglückte Operation, abgesehen von ewiger Reue, meine Beförderung in die Mordkommission einbringen wird.

12. Dezember 2000

Unser Dezernat wird eingeschaltet, nachdem die Ehefrau des genannten Jean-Pierre Coralin Anzeige erstattet hat. Die Frau bezichtigt ihren Mann, sie in ihrer ehelichen Wohnung zur Prostitution gezwungen zu haben. Außerdem habe sie sich für sadistische Praktiken zur Verfügung stellen müssen. Das ärztliche Gutachten bestätigt dies: Sie hat Schnitte in der Vagina, Brandnarben von Zigaretten, Peitschenmale, eine Infektion im After.
   Nach ihren Aussagen sollen diese Misshandlungen lediglich ein »Zubrot« darstellen. In Wirklichkeit beliefere ihr Gatte eine andere Kundschaft, die sich ausschließlich zu Kindern hingezogen fühle. Innerhalb von vier Jahren soll er sechs kleine Mädchen aus dem Umfeld nicht sesshafter Gemeinschaften in Les Lilas entführt haben, die er, nachdem sie missbraucht wurden, habe verhungern lassen. Gegenwärtig würden in ihrem kleinen Haus in Les Lilas zwei Mädchen gefangen gehalten und jede Nacht von Pädophilen vergewaltigt.
   Ich nehme die Anzeige auf und beschließe, mit meinem Team allein loszuschlagen. Mit dreiunddreißig Jahren habe ich meinen ersten eigenverantwortlichen »Zugriff«. Ich entwerfe meinen Angriffsplan und organisiere den Einsatz.
   Um 2 Uhr morgens umstellen wir das Häuschen in der Rue du Tapis-Vert in Les Lilas. Aber ich treffe dort niemanden an, abgesehen von der zehnjährigen Tochter der Coralins, Ingrid, die im Wohnzimmer schläft. Die Eltern sind im Keller. Sie haben sich mit einer abgesägten Schrotflinte das Gehirn aus dem Schädel geblasen, nachdem sie ihre beiden Gefangenen erschossen haben. Innerhalb weniger Stunden hatte die Frau ihre Meinung geändert und ihren Mann gewarnt.
   Ich verlasse das Haus in einem Schockzustand. In der eisigen Luft zünde ich eine Kippe an. Die Blaulichter der Krankenwagen drehen sich, und die Einsatzfahrzeuge der Polizei parken schräg am Straßenrand. Die Häuser um uns herum sind zum Leben erwacht. Nachbarn, die im Morgenrock in der Eingangstür stehen. Ein Beamter in Uniform bringt die kleine Ingrid weg. Ein anderer kommt auf mich zu:
   »Lieutenant, die Mordkommission ist da.«
   »Wer hat sie benachrichtigt?«
   »Kein Ahnung. Der Gruppenleiter erwartet Sie. Der graue Peugeot am Ende der Straße.«
   Wie benommen gehe ich zu dem Wagen, bereit, mir den ersten Rüffel einer ganzen Serie abzuholen. Als ich auf der Höhe des Peugeots angekommen bin, geht die Scheibe auf der Fahrerseite herunter: Im Innern sitzt Luc Soubeyras, eingemummt in eine Parka.
   »Zufrieden?«
   Ich bringe keinen Ton heraus. Die Überraschung nimmt mir den Atem. Luc hat sich nicht im Geringsten verändert. Feine Brille, spindeldürr, Sommersprossen. Nur einige Falten um die Augen verraten das Alter:
   »Komm, steig ein.«
   Ich werfe die Zigarette weg, gehe um den Wagen herum und nehme auf dem Beifahrersitz Platz. Geruch nach Zigaretten, kaltem Kaffee, Schweiß und Urin. Ich mache die Tür zu und finde meine Stimme wieder:
   »Was machst du hier?«
   »Man hat uns angerufen.«
   »Wie das, niemand war eingeweiht?«
   Luc lächelt.
   »Ich behalte dich seit einiger Zeit im Auge. Ich wusste, dass du an einem großen Ding dran bist.«
   »Überwachst du mich?«
   Luc blickt weiterhin geradeaus auf die Straße. Rettungssanitäter schieben zusammenklappbare Tragbahren ins Haus. Polizisten in schwarzer Regenkleidung markieren mit Klebeband die Sicherheitszone um den Tatort und drängen die aufgeweckten Nachbarn zurück.
   »Wie sieht es da drin aus?«
   Ich zünde mir eine weitere Camel an. Der Fahrgastraum füllt sich im Rhythmus der Umdrehungen der Blaulichter mit blauem Dunst.
   »Grauenhaft«, sage ich nach dem ersten Zug. »Ein Blutbad.«
   »War das nicht absehbar?«
   »Doch, eben. Die gute Frau hat uns angeschmiert. Ich habe ihren …«
   »Du hast nicht durchschaut, worum es geht. Das ist alles.«
   »Was soll das heißen?«
   »Brigitte Coralin hat nicht mit dir gesprochen, weil sie Gewissensbisse hatte oder weil sie die Kleinen retten wollte. Sie hat aus Eifersucht gehandelt. Sie liebte diesen Drecksack. Sie liebte ihn, wenn er sie folterte, wenn er Kippen in ihrer Möse ausdrückte. Sie war eifersüchtig auf die Kleinen, auf ihre Qualen.«
   »Eifersüchtig …?«
   Luc nimmt eine Gitane.
   »Ja, mein Guter. Du hast den Kreis des Bösen falsch berechnet. Er ist immer breiter und größer, als man glaubt. Irgendwann hätte Brigitte Coralin selbst ihre eigene Tochter getötet, wenn Coralin auch ein Auge auf sie geworfen hätte.« Er atmet den eingezogenen Rauch langsam und genüsslich aus. »Du hättest sie in Gewahrsam nehmen müssen.«
   »Bist du gekommen, um mir eine Lektion zu erteilen?«
   Luc antwortet nicht. Ein eingefrorenes Lächeln auf seinen Lippen. Die Männer von der Spurensicherung im weißen Overall steigen aus ihrem Dienstwagen aus.
   »Ich habe dich nie aus den Augen gelassen, Mat. Wir haben den gleichen Weg genommen. Vukovar bei mir, Kigali bei dir. Die Kriminalpolizeidirektion bei mir, die Sitte bei dir.«
   »Welcher Bezirk?«
   »Louis-Blanc.«
   Die Kriminalpolizeidirektion Louis-Blanc war für die heißesten Pariser Stadtbezirke zuständig: das 18., 19. und 10. Arrondissement. Etwas für harte Jungs.
   »Der gleiche Weg, Mat, um ans gleiche Ziel zu kommen. Die Mordkommission.«
   »Wer sagt dir, dass ich zur Mordkommission will?«
   »Sie.«
   Luc deutet auf die toten Kinder, die die Sanitäter zum Krankenwagen tragen. Die silbernen Decken flattern im Wind und geben hier und da den Blick auf Körperteile frei. Luc murmelt:
   »Ich lebe, ohne in mir zu leben/Und mein Verlangen ist so stark/Dass ich daran sterbe, nicht sterben zu können … Erinnerst du dich?«
   Kloster Saint-Michel. Der Duft von frisch geschnittenem Gras in den Gärten. Die Zigarettenstummel. Johannes vom Kreuz. Die Quintessenz der mystischen Erfahrung. Der Dichter bedauert, nicht gestorben zu sein, um endlich die Herrlichkeit des Reiches Gottes zu schauen.
   Aber man kann diese Verse auch anders deuten. Ich habe häufig mit Luc darüber gesprochen. Der Tod, der für den wahren Christen notwendig ist! In sich denjenigen vernichten, der ohne Gott lebt. Sich selbst, den anderen und jeglichem materiellem Wert absterben, um in der Memoria Dei wiedergeboren zu werden … »Ich sterbe daran, nicht sterben zu können.« Augustinus hatte dieser Wahrheit schon vierhundert Jahre früher lautstark Ausdruck gegeben.
   »Es gibt noch einen anderen Tod«, fügt Luc hinzu, als könnte er Gedanken lesen. »Du und ich, wir haben dem Materialismus abgeschworen, um nach den Geboten Gottes zu leben. Aber dieses spirituelle Leben ist eine andere Form der Behaglichkeit. Jetzt ist es Zeit, diesen beruhigenden Glauben aufzugeben. Wir müssen noch einmal sterben, Mat. Den Christen in uns töten, um Polizisten zu werden. Uns die Hände schmutzig machen. Den Teufel verfolgen. Ihn bekämpfen. Ihn verstehen. Auf die Gefahr hin, Gott zu vergessen.«
   »Und dieser Kampf führt über die Mordkommission?«
   »Tötungsdelikte: Das ist der einzige Weg. Bist du dabei oder nicht? Willst du dich wirklich von dir selbst befreien?«
   Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Nach der Sexualität und ihren Verirrungen ist der Kreis der Tötungsdelikte die Etappe, die ich immer ins Auge gefasst hatte. Aber ich möchte nicht von einer anderen Person geführt werden. Luc streckt die Hand nach den blauen Strahlenbündeln aus, die wie Stroboskope blinken:
   »Heute Nacht bist du ein Risiko eingegangen. Und du solltest das nicht bedauern. Man muss Risiken eingehen. Die wahren Kreuzritter haben Blut an den Händen.«
   Dieser hochtrabende Sermon entlockt mir ein Lächeln.
   »Ich lasse mich versetzen.«
   Luc zieht ein Bündel Papiere aus seiner Tasche.
   »Da ist deine Versetzung. Unterzeichnet vom Präfekten. Willkommen in meinem Team.«
   Ich lache nervös.
   »Und wann fange ich an?«
   »Montag. Dreiunddreißig Jahre: das richtige Alter, um wiedergeboren zu werden!«
   Das Silvesteressen im Jahr 2000 besiegelte unsere Verbindung.
   Es folgten zwölf Monate, in denen wir erfolgreich zusammenarbeiteten.
   Unser Team, das aus acht Polizeibeamten bestand, war vor allem ein Tandem. Unsere Methoden unterschieden – und ergänzten – sich. Ich legte strengste Maßstäbe an und beantragte nur dann die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, wenn ich über hieb- und stichfeste Beweise verfügte, und ich nahm nur dann Durchsuchungen vor, wenn ich schon wusste, wonach ich suchte. Luc dagegen ging Risiken ein und wandte alle erdenklichen Methoden an, um Verdächtige zu überführen. Einschüchterungen, Gewalt – und Schauspielerei. Seine bevorzugten Techniken: eine Geburtstagsfeier in den Räumlichkeiten der Mordkommission vortäuschen, um einen Typen in Polizeigewahrsam für sich einzunehmen; einen Tobsuchtsanfall fingieren, um einem vorläufig Festgenommenen eine Heidenangst einzujagen; über die Beweise, die er in Händen hielt, bluffen und dabei auch nicht davor zurückschrecken, den Verdächtigen zum Schein ins Gefängnis Santé zu überstellen und ihn unterwegs ein Geständnis ablegen zu lassen.
   Ich war ein Chamäleon, diskret, präzise, unauffällig. Luc war ein Schauspieler, ein Aufschneider und Wichtigtuer. Er log, manipulierte, wurde handgreiflich – und fand die Wahrheit heraus. Er genoss diese Situation, die ihn in seinem Zynismus bestärkte. Um erfolgreich zu sein, war er bereit, seine eigenen Überzeugungen zu verraten, die Waffen des Feindes zu benutzen, das Böse mit dem Bösen zu bekämpfen! Er liebte diese Rolle des Märtyrers, der sich korrumpieren muss, um seinem Gott zu dienen. Seine Absolution war die Aufklärungsquote unserer Gruppe, die die höchste der ganzen Einheit war.
   Ich selbst machte mir keine Illusionen mehr. Mein katholisches Schamgefühl war schon lange verschwunden. Wer im Schmutz wühlt, macht sich die Hände schmutzig. Es ist unmöglich, ein Geständnis zu bekommen, ohne Gewalt anzuwenden oder zu lügen. Aber ich fühlte mich dabei nicht wohl – diese Entgleisungen waren nicht meine bevorzugten Methoden, und wenn ich sie anwenden musste, dann immer mit schlechtem Gewissen.
   Zwischen diesen beiden Positionen hatten wir ein Gleichgewicht gefunden. Und dank unserer Freundschaft regulierten wir dieses Gleichgewicht aufs Milligramm genau. Wir trafen uns als Erwachsene so wieder, wie wir uns als Jugendliche kennengelernt hatten. Derselbe Humor, dieselbe Leidenschaft für die Arbeit, dieselbe religiöse Inbrunst.
   Die Kollegen lernten es schließlich zu schätzen. Man musste die absonderlichen Verhaltensweisen Lucs ertragen können – seine Adrenalinschübe, seine dunklen Seiten, seine seltsame Ausdrucksweise. Er sprach lieber über den Einfluss des Teufels oder über die Herrschaft Satans statt über die Kriminalitätsraten oder Deliktkurven. Hin und wieder betete er auch laut, mitten in einem Einsatz, sodass einen das Gefühl beschleichen konnte, einen Exorzisten neben sich zu haben.
   Auf meine Art war ich auch nicht schlecht, mit meiner Abneigung gegen metallische Geräusche, meiner Allergie gegen Radios, die so weit ging, dass ich immer nur murrend das Autoradio anschaltete. Außerdem ernährte ich mich ausschließlich von Reis und trank den ganzen Tag grünen Tee, in einem Milieu, in dem viel Fleisch gegessen und viel Alkohol getrunken wird.
   Unsere Erfolgsbilanz konnte sich sehen lassen.
   In einem Jahr über dreißig Festnahmen. Ein Witz kursierte auf den Fluren der Kripozentrale: »Die Kriminalität steigt? Nein, das kann nicht sein, denn die Pfaffen haben die Ärmel hochgekrempelt!« Wir mochten unser besonderes, altmodisches Image. Vor allem arbeiteten wir gern als Team zusammen. Selbst wenn wir wussten, dass der Preis des Erfolgs auf lange Sicht die Trennung sein würde.

Anfang 2002

Luc Soubeyras und Mathieu Durey werden offiziell zu Commandants befördert. Luc beim Drogendezernat, ich bei der Mordkommission. Auf dem Papier mehr Befugnisse und ein höheres Gehalt. In der Praxis ein eigenes Ermittlungsteam für jeden von uns.
   Wir konnten uns nicht einmal richtig voneinander verabschieden, so viele dringende Fälle warteten auf uns. Doch wir gaben uns das Versprechen, weiterhin gemeinsam zu Mittag zu essen und am Wochenende ein paar schöne Stunden in Vernay zu verbringen.
   Drei Monate später gingen wir im Innenhof der Kripozentrale aneinander vorbei, ohne uns wahrzunehmen.
Das Herz der Hoelle
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