KAPITEL 54
Das Tageslicht weckte mich. Ich richtete mich
auf, die Augen halb geschlossen. Ein atemberaubender Anblick.
Zwischen den Bergen zeichnete sich die Sonnenscheibe ab wie eine
blutende Wunde. Darüber steile Grate zwischen Wolken. Um mich herum
war der Schnee verschwunden. Verdrängt von grasbewachsenen Hängen,
die von welken Blättern übersät waren.
7.30 Uhr. Ich hatte vier
Stunden geschlafen. Callacciura hatte mich nicht angerufen. Ich
wählte seine Nummer noch einmal. Mein Telefon hatte sich
mittlerweile in ein italienisches Funknetz eingewählt.
»Pronto?«
»Mathieu. Ich hab dir in der
Nacht eine Nachricht hinterlassen.«
»Ich bin gerade aufgewacht.
Bist du schon in Mailand?«
Ich erzählte ihm mein Abenteuer
und schilderte ihm meine Lage: Mein von Kugeln durchsiebter Wagen,
das Aussehen eines Penners, die Unmöglichkeit, in diesem Zustand
über die Grenze zu kommen.
»Wo genau bist du?«
»Am Ausgang der Ortschaft
Gondo. Auf der rechten Seite ist ein Waldweg. Ich stehe am
Ende.«
»Ich ruf dich in ein paar
Minuten an. Capito?«
In meiner Hosentasche fand ich
meine Schachtel Camel. Genüsslich zündete ich mir eine an.
Allmählich konnte ich wieder klar denken, und damit kehrten die
Fragen zurück. Wer waren die Leute, die mich verfolgt hatten?
Weshalb hatten sie es auf mich abgesehen? Nur in einem Punkt war
ich mir sicher: Meine Verfolger hatten nichts mit dem Mörder von
Sylvie Simonis zu tun. Einerseits zwei Profi-Killer, andererseits
ein Serienmörder, der ein Gefangener seiner Wahnideen war.
Mein Handy vibrierte.
»Folge ganz genau meinen
Anweisungen. Du fährst zurück auf die Hauptstraße, die E62. Nach
einem Kilometer siehst du eine Zisterne, auf der ›Contozzo‹ steht.
Du parkst dahinter und wartest. Zwei Polizisten in Zivil holen dich
dort in einer Stunde ab.«
»Warum Polizisten?«
»Sie werden dich bis Mailand
begleiten. Es bleibt bei unserem Treffen um 11 Uhr.«
»Und mein Wagen?«
»Wir kümmern uns darum. Du
nimmst deine Sachen und überlässt alles andere uns.«
»Danke, Giovanni.«
»Gern geschehen. Ich habe
gestern Nacht weitere Informationen über den Fall erhalten, der
dich interessiert. Ich muss mit dir sprechen.«
Ich legte auf. Eine neue
Zigarette. Trotz der Böen, die in den Fahrgastraum drangen, lief
der Motor noch immer – und mit ihm die Heizung. Ich stieg aus dem
Wagen aus, um zu pinkeln. Mein Körper war ganz steif, aber das
Leben forderte seinen Tribut. Ich strauchelte in einen Pfad hinein
und spürte, wie sich Blut und Muskeln erwärmten. Mir wurde
schwindlig. Ich hatte Hunger. Unterhalb erblickte ich einen Fluss.
Ich trank das eisige Wasser und genoss das reinste Frühstück der
Welt.
Ich ließ das Auto wieder an und
fuhr in Richtung Treffpunkt. Ich stellte den Wagen am Fuß der
Zisterne ab und ließ den Motor erneut weiterlaufen. Fast eine
Stunde verging, in der ich drei Zigaretten rauchte. Keine Zöllner
in Sicht und auch keine neugierigen Bauern. Aber ein Strom von
Gedanken, die auf mich einstürzten.
Mir schwirrte der Kopf. Sylvie
Simonis, die ihr eigenes Kind getötet hatte. Die doppelte Identität
von Sarrazin-Longhini. Die Ermordung Sylvies. Ein identisches
Verbrechen in Italien und eine Täterin, die gestanden hatte. Und
jetzt diese Killer … Das reine Chaos, in dem jede Antwort eine neue
Frage aufwarf.
An einem Detail blieb ich
hängen. Aus einem spontanen Impuls heraus wählte ich die Nummer von
Marilyne Rosarias, der Leiterin der Bienfaisance-Stiftung. 7.45
Uhr. Die Philippinin durfte ihr Morgengebet beendet haben.
»Wer spricht da?«
Eine Stimme voller Misstrauen
und Feindseligkeit.
»Mathieu Durey«, sagte ich,
mich räuspernd. »Der Polizist. Der Spezialist.«
»Ihre Stimme hört sich seltsam
an. Halten Sie sich noch immer in der Gegend auf?«
»Ich musste wegfahren. Sie
haben mir das letzte Mal nicht alles gesagt.«
»Wollen Sie damit sagen, ich
hätte Sie angelogen?«
»Sie haben mir etwas
verschwiegen, Sie haben mir nicht gesagt, dass Sylvie Simonis nach
dem Tod ihrer Tochter im Jahr 1988 in Bienfaisance Trost
suchte.«
»Wir sind zu Vertraulichkeit
verpflichtet.«
»Wie lange ist sie in der
Stiftung geblieben?«
»Drei Monate. Sie kam abends.
Morgens fuhr sie dann zur Arbeit.«
»In die Schweiz?«
»Was wollen Sie denn noch
wissen?«
Plötzlich war ich mir sicher,
dass Marilyne über den Kindsmord Bescheid wusste. Entweder Sylvie
hatte sich ihr anvertraut, oder sie hatte die Wahrheit erraten. Ich
legte einen Köder aus:
»Vielleicht versuchte sie, ihre
Vergehen zu vergessen.«
Schweigen. Dann sprach Marilyne
mit tieferer Stimme weiter:
»Ihr wurde vergeben.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Was immer sie getan haben mag,
sie hat Gott um Vergebung angefleht, und ihre Bitte wurde
erhört.«
»Sind Sie die Pressesprecherin
des Fegefeuers?«
»Machen Sie keine Witze. Sylvie
wurde vergeben. Ich habe den Beweis dafür, verstehen Sie?«
Ich sah etwa fünfhundert Meter
entfernt eine graue Limousine Marke Fiat auftauchen, die kaum in
einem besseren Zustand war als mein ramponierter Wagen. Meine
Eskorte.
»Ich werde Sie noch einmal
aufsuchen«, kündigte ich ihr an.
»Ich habe Ihnen nichts zu
sagen. Aber ich werde für Ihr Seelenheil beten. Sie haben zu viel
Wut im Bauch, um diese Geschichte zu verstehen. Sie müssen
vollkommen rein sein, wenn Sie es mit dem Feind aufnehmen wollen,
der Sie erwartet.«
»Was für ein Feind?«
»Sie wissen es genau.«
Sie legte wieder auf. Der Fiat
war da. Der Kontakt mit den italienischen Polizisten beschränkte
sich auf ein Minimum. Die beiden Männer waren mit Sicherheit
instruiert worden. Kein Wort über den Zustand meines Wagens. Und
auch nicht darüber, dass ich mich ein paar Kilometer vor der Grenze
verirrt hatte. Ich nahm meine Reisetasche und verabschiedete mich
von meinem Wagen, wobei ich kurz mitfühlend an meine Versicherung
dachte. Ich würde ihn gestohlen melden, ohne mich mit den Details
aufzuhalten.
Wir passierten problemlos den
italienischen Grenzposten. Ich hatte es mir auf dem Rücksitz bequem
gemacht und betrachtete die Landschaft. Sie sah genauso aus wie auf
der Schweizer Seite, aber ich hatte das Gefühl, das italienische
Spiegelbild der Berge, die ich bei Tagesanbruch bewundert hatte, zu
sehen. Sturzbäche grüßten mich, und an die Stelle der Tunnels
traten Brücken, die in immer kürzerem Abstand aufeinanderfolgten.
Hohe Hängebrücken, Betonkolosse, die aus Wasser emporragten, spitz
zulaufende Bögen aus Faserbündeln … Mein Kopf war leer. Ich spürte
nur noch das dumpfe Pulsieren meines geschundenen Leibs. Wenig
später schlief ich ein.
Als ich wieder aufwachte,
hatten wir gerade Varese hinter uns gelassen. Keine Sturzbäche und
keine Tannen mehr. Wir rasten über die Autobahn A8. Die lang
gestreckte lombardische Ebene auf dem Weg nach Mailand.
Um 10.30 Uhr gelangten wir zu
den Vororten. Dichter Verkehr. Meine Begleiter verzichteten auf
Blaulicht. Ruhig, schweigsam, undurchdringlich – sie erinnerten
mich an die Leibwächter, denen ich bei meiner ersten Reise nach
Mailand begegnet war und die die Richter der Operation Mani pulite
beschützten.
Mailand blieb meinen
Erinnerungen treu.
Eine flache, regelmäßige Stadt,
dunkel und hell zugleich. Eine leichte Nostalgie schwebte über den
Avenuen, die nicht der Liebe oder einem romantischen Zeitalter
galt, sondern einer vergangenen industriellen Epoche. Man sehnte
sich hier nicht nach der stillen Beschaulichkeit eines Sees, nach
stürmischen Leidenschaften, sondern nach dem Aufschwung der
sechziger Jahre, dem Lärm von Maschinen, der Hochzeit der Fiat- und
Pirelli-Imperien. In diesem Tal, in dem sich kein Lüftchen regte,
träumte man noch immer den guten alten Traum des Großindustriellen,
der zurückgezogen in seiner modernen Villa lebt und mit dem Projekt
liebäugelt, eine neue Welt voller Maschinen, Rauchschwaden und Lire
aufzubauen.
Corso Porta Vittoria.
Der Justizpalast war ein
massiver Block mit hohen viereckigen Säulen. Die ganze Umgebung
schien sich seiner strengen Geometrie zu fügen. Die Telefonzellen,
die rechtwinklig in die Pflastersteine eingelassen waren, die
Gleise der orangefarbenen Straßenbahnen, die im rechten Winkel zu
den Umrisslinien des Gebäudes verliefen.
Punkt 11 Uhr. Ich stieg aus dem
Wagen und ging durch die Tür des New Boston, gegenüber dem Palast,
an der Ecke der Via Carlo Freguglia.
Jeder meiner Schritte klang wie
ein Wunder.