KAPITEL 50
»Steigen Sie ein.«
Ich ging um den Peugeot herum
und stieg auf der Beifahrerseite ein. Im Fahrergastraum schwebte
ein Geruch von schneidender Sauberkeit. Eine makellose,
ausgrenzende Reinlichkeit, die einem Angst machte, man könnte etwas
beschmutzen.
»Trinken Sie im Dienst,
Commandant?«
Meine Fahne.
»Ich bin nicht im Dienst. Ich
mache Urlaub.«
»Sehen Sie jetzt klarer?«
Ich antwortete nicht. Der
Gendarm lächelte in der Dunkelheit. Er legte meine
Automatik-Pistole auf meine Knie und fuhr dann in freundlicherem
Ton fort:
»Sie kommen aus der Kirche und
wirken ziemlich mitgenommen. Sie haben bestimmt Mariotte
ausgefragt.«
»Wie wär’s, wenn Sie mir von
Ihren Ermittlungen erzählen würden? Das würde uns Zeit
sparen.«
»Ich habe Ihnen einen Tag
gegeben. Sagen Sie mir, was Sie wissen. Ich werde sehen, ob es sich
lohnt, Ihnen zu helfen.«
Ich fragte mich, wo dieser
plötzliche Stimmungsumschwung herrührte. Aber ich hatte nichts mehr
zu verlieren. Ich fasste die Ergebnisse meiner Nachforschungen
zusammen. Manon, vom Teufel besessen. Ihre Mutter, die sie
umbrachte, um den Dämon in ihr zu töten. Das falsche Alibi. Die
Rache für den Mord vierzehn Jahre später.
Der Gendarm schwieg. Er
lächelte nicht mehr.
»Wer hat Ihrer Meinung nach
Manon gerächt?«, fragte er schließlich.
»Derjenige, der sie wie eine
Schwester liebte. Thomas Longhini.«
»Haben Sie ihn ausfindig
gemacht?«
»Nein. Aber das ist jetzt meine
Priorität.«
»Weshalb sollte er vierzehn
Jahre verstreichen lassen?«
»Eben weil der Junge damals
erst vierzehn war. Sein Plan ist gereift, seine Entschlossenheit
ist gewachsen. Er hatte versprochen zurückzukehren, und er kam
zurück.«
»Er ist also auch ein
rachsüchtiger Irrer?«
Ich antwortete nicht. Ich
wollte unwillkürlich nach meiner Schachtel Camel greifen. Aber hier
eine Kippe anzuzünden, das wäre ein Frevel gewesen. Wieder trat
Schweigen ein.
»Jetzt sind Sie dran. Wie weit
sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«
»In etwa am gleichen Punkt wie
Sie.«
»Stimmen Sie meinen
Schlussfolgerungen zu?«
»Was die Täterschaft der Mutter
anlangt, folge ich Ihnen. Aber ich habe auch nicht mehr Beweise als
Sie. Und ich habe die Ermittlungsakte nicht einsehen können. Ein
Mord, der so lange zurückliegt, ist verjährt. Ich glaube, Richter
de Witt hat die Akte vernichtet.«
»Weshalb?«
»Es ist zu spät, um ihn danach
zu fragen. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Stimmen Sie zu, was den Mörder
Sylvies anlangt?«
»Nein. Nicht Thomas Longhini.
Unmöglich.«
Aus dem Klang seiner Stimme
sprach unerschütterliche Gewissheit.
»Was wissen Sie darüber? Haben
Sie ihn aufgespürt?«
»Ich habe ihn nie aus dem Blick
verloren.«
»Wo ist er?«, schrie ich.
»Er sitzt vor Ihnen.«
Ich hatte das Gefühl, als
klebte mir die Zunge im Mund fest.
»Ich bin Thomas Longhini. Ich
hatte versprochen zurückzukommen, und ich bin zurückgekommen. Ich
hatte versprochen, die Ermittlungen abzuschließen, und ich bin
Gendarm geworden. Capitaine in Besançon. Nach dem Mord an Sylvie
ist es mir gelungen, den Fall an mich zu ziehen.«
»Wissen die Leute hier, wer Sie
sind?«
»Niemand weiß es.«
»Ich glaube Ihnen nicht. Ihre
Geschichte ist unglaublich.«
»Der Tod Manons ist
unglaublich. Ich habe mich nie damit abfinden können.«
»Waren Sie von Anfang an
überzeugt, dass Sylvie ihre Tochter umgebracht hat?«
»Als Jugendlicher war ich mir
sicher. Manon hatte Angst vor ihrer Mutter. Später hatte ich
Zweifel. Jetzt bin ich wieder sicher.«
»Wer, glauben Sie, hat Sylvie
ermordet?«
Er antwortete, ohne zu
zögern:
»Der Teufel.«
Ich lächelte. Ich hatte keine
Lust, mir noch so eine abergläubische Geschichte reinzuziehen. Aber
Longhini-Sarrazin beugte sich zu mir rüber:
»Es gibt etwas, was Sie nicht
wissen. Ein wesentliches Element zum Verständnis der Ereignisse.
Manon war wirklich besessen. Der Teufel
hatte sie auserwählt.«
Es war eine Verschwörung. Eine
Verschwörung von Verrückten! Ich steckte meine Pistole ins Halfter
und drückte den Türgriff:
»Ich habe genug gehört.«
Sarrazin verschloss meine
Tür.
»Das ist der Kern der
Geschichte. Sie sollten den Mumm haben, die Sache
durchzuziehen!«
Mein Mund war ausgetrocknet.
Die Zunge war geschwollen, und ich hatte ein pelziges Gefühl im
Rachen.
»Ich war bei ihr, als sich all
dies ereignet hat«, fuhr er fort. »Wir waren immer zusammen. Sie
wurde zu einem anderen Wesen, einem Dämon.«
»Und jetzt ist der Teufel
zurückgekommen, um sich zu rächen, wie?«
»Ich spreche nicht von einem
Faun mit Widderkopf. Ich spreche von einer finsteren Macht, die
sich eines menschlichen Werkzeugs bediente.«
»Und wer ist das?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber
ich werde ihn finden.«
»Welche Beweise haben
Sie?«
»Es ist einfach. Der Teufel
rächt sich immer auf die gleiche Weise. Es gab andere Morde, bei
denen Insekten, Flechten, all dies eine Rolle spielte.«
»Nein. Ich habe das überprüfen
lassen, und zwar für ganz Frankreich. Keine andere Person hat das
gleiche Martyrium wie Sylvie Simonis durchgemacht. Kein anderer
Mörder hat sein Opfer bei lebendigem Leibe mithilfe von Säuren und
Insekten zersetzt.«
»In Frankreich nicht. Wohl aber
in einem anderen Land.«
»Wo?«
»In Italien. Der Teufel hat in
Italien zugeschlagen. In Catania auf Sizilien. Der Teufel kennt
keine Grenzen.«
Sarrazin sprach so
selbstsicher, dass mich erneut Zweifel überkamen. Ich sah kurz die
Maske Pazuzus aufscheinen, doch dann kam ich wieder zur Vernunft.
Es war möglich, dass sich ein Mörder für den Teufel hielt und in
ganz Europa sein Unwesen trieb. Sarrazin fügte hinzu:
»Jedenfalls war Ihr Kumpel der
gleichen Meinung wie ich.«
»Wer?«
»Luc Soubeyras.«
»Haben Sie ihn getroffen?
Kennen Sie ihn?«
»Wir haben zusammengearbeitet.
Aber er war nicht wie Sie. Er glaubte an den Teufel. Sie musste man
zuerst einmal auf die Probe stellen. Aus diesem Grund habe ich
Ihnen nicht geholfen.«
»Wie weit war Luc mit seinen
Ermittlungen gediehen?«
»So weit wie ich. So weit wie
Sie. Danach ist er nach Italien gefahren. Und ich habe kein
Lebenszeichen mehr von ihm erhalten.«
Ein Blitz, Eis und Feuer in
einem. Eine Information von Foucault: Luc war am 17. August letzten
Jahres nach Catania, Sizilien, geflogen.
»Ich mache Ihnen einen
Vorschlag«, sagte Sarrazin. »Sie fahren nach Italien, während ich
hier weiterbohre. Sie haben ja angeboten, dass wir
zusammenarbeiten.«
Es konnte nichts schaden, hier
einen Verbündeten zu haben. Und falls tatsächlich eine Spur nach
Sizilien führte, müsste ich ihr nachgehen. Ich langte nach dem
Türgriff:
»Ich werde zunächst Ihre
italienische Spur überprüfen. Wenn sie stichhaltig ist, bin ich
dabei.«
Ich öffnete die Tür. Sarrazin
packte mich am Arm.
»Bevor Sie wegfahren, kehren
Sie nach Bienfaisance zurück, an den Fundort der Leiche.«
»Warum?«
»Der Teufel hat sein Verbrechen
signiert.«
Für einen kurzen Moment dachte
ich an das Kruzifix, aber der Gendarm sprach von etwas
anderem.
»Wo muss ich suchen?«
»Sie müssen es selbst finden.
All dies ist eine Initiation, verstehen Sie?«
»Ich verstehe. Haben Sie
Batterien?«