KAPITEL 2
Schon am Portal begannen die Warnhinweise:
Vorsicht, Taschendiebe! Aus Sicherheitsgründen
ist die Mitnahme von Gepäckstücken verboten! Bitte ruhig verhalten
… Ungeachtet der vielen Menschen hatte ich immer das gleiche
Gefühl, wenn ich das Innere von Notre-Dame betrat.
Ich gebrauchte die Ellbogen und
erreichte das marmorne Weihwasserbecken. Ich tauchte die
Fingerspitzen ins Wasser und bekreuzigte mich, während ich mich
gleichzeitig vor der Madonna verneigte. Ich spürte, wie der Kolben
meiner USP 9-mm-Para gegen meine Hüfte drückte. Lange Zeit hatte
ich ein Problem mit meiner Dienstwaffe gehabt. Durfte man eine
Pistole mit in die Kirche nehmen? Zunächst hatte ich sie unter dem
Sitz meines Wagens versteckt, dann wollte ich nicht länger jedes
Mal den Umweg über den Parkplatz des Hauptquartiers der
Mordkommission machen. Ich wollte unter den Flachreliefs der
Kathedrale nach einem Versteck suchen, aber das wäre zu gefährlich
gewesen. Schließlich stand ich zu dieser Freveltat. Hatten die
Kreuzritter vielleicht ihre Schwerter abgelegt, als sie in den
Jerusalemer Tempel eindrangen?
Im Lichtschein großer Kerzen
ging ich den rechten Gang entlang, vorbei an Beichtstühlen. Mit
jedem Schritt wurde ich ruhiger – das Halbdunkel im Innern der
Kirche tat mir wohl. Ein Ort der Gegensätze: Ein schwerer Frachter
aus Stein auf einem dunklen Meer, zugleich von betörend herber und
würziger Leichtigkeit: Weihrauch- und Wachsdüfte und die kühle
Frische von Marmor.
Der Warteschlange vor der
Schatzkammer wich ich aus und gelangte am Ende des Chors in »meine«
Kapelle – die Stätte der Andacht, in der ich jeden Abend
betete.
Unsere liebe Frau der Sieben
Schmerzen. Einige schwach erleuchtete Bänke, ein Altar, auf dem
unechte Kerzen und liturgische Gegenstände standen. Ich schlüpfte
in eine Bank auf der rechten Seite und ging bis ans Ende durch, wo
ich mich ungestört fühlte. Kaum hatte ich die Augen geschlossen,
ertönte auch schon eine Stimme in mir:
»Schau dir die Penner
an!«
Luc stand neben mir – Luc im
Alter von vierzehn Jahren, hager und rothaarig. Ich war nicht mehr
in Notre-Dame, sondern in der Kapelle der Realschule
Saint-Michel-de-Sèze, im Kreis der Schüler der 9. Klasse. Mit
seiner schneidenden Stimme fuhr Luc fort:
»Wenn ich Priester bin, stehen
all meine Schäfchen. Wie in einem Rockkonzert!«
Lucs Mut beeindruckte mich.
Mein Glaube erschien mir damals als ein unerhörter Makel, denn die
anderen Schüler hassten den Religionsunterricht. Und da kam dieser
Bengel und behauptete, Priester werden zu wollen – ein Priester mit
einer Schwäche für Rock ’n’ Roll!
»Ich heiße Luc«, sagte er, »Luc
Soubeyras. Ich hab gehört, dass du unter deinem Kopfkissen eine
Bibel versteckst. Wie kann man nur so blöd sein. Aber du bist nicht
allein, es gibt hier noch einen zweiten: mich.« Er faltete die
Hände. »Selig sind diejenigen, die verfolgt
werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.« Dann hielt er die
flache Hand Richtung Chordecke, damit ich einschlug.
Das Geräusch unserer
aufeinanderschlagenden Hände holte mich in die Wirklichkeit zurück.
Ich blinzelte und befand mich wieder in meinem Refugium in
Notre-Dame. Das kalte Gemäuer, die Weidenruten der Betstühle, die
hölzernen Rückenlehnen … Wieder tauchte ich in die Vergangenheit
ein.
An jenem Tag hatte ich den
eigenwilligsten Schüler von Saint-Michel-de-Sèze kennengelernt. Er
redete wie ein Wasserfall, war arrogant und sarkastisch, aber
zugleich von einer glühenden Gläubigkeit. Es waren die ersten
Monate des Schuljahrs 1981-1982. Luc, der in die 9b ging, war schon
seit zwei Jahren auf dieser Schule. Er war groß und dürr, wie ich,
aber auch nervös und hektisch. Abgesehen von unserer Statur und
unserem Glauben hatten wir noch eine weitere Gemeinsamkeit: Wir
trugen die Namen von Aposteln. Er den des Evangelisten, dem Dante
den Beinamen »der Schriftgelehrte« gegeben hatte, weil sein
Evangelium mit besonderer Kunstfertigkeit geschrieben ist. Ich den
des Matthäus, des Zöllners und Gesetzeshüters, der Christus folgte
und jedes seiner Worte aufzeichnete.
Doch das war es dann auch schon
mit unseren Gemeinsamkeiten. Ich war in Paris geboren, im vornehmen
16. Arrondissement. Luc Soubeyras stammte aus Aras, einem
Geisterdorf im Departement Hautes-Pyrénées. Mein Vater hatte in den
siebziger Jahren in der Werbebranche ein Vermögen gemacht. Luc war
der Sohn von Nicolas Soubeyras, einem Lehrer, Kommunisten und
Amateur-Höhlenforscher, der in der Region bekannt war, weil er sich
ohne Uhr oder sonstigen Zeitmesser tief in Gebirgshöhlen vorgewagte
hatte und vor drei Jahren in einer dieser Höhlen verschollen war.
Ich war als Einzelkind in einer Familie aufgewachsen, die Zynismus
und Großspurigkeit zu absoluten Werten erhoben hatte. Wenn Luc
nicht im Internat war, lebte er bei seiner Mutter, einer
beurlaubten Beamtin und alkoholkranken gläubigen Christin, die nach
dem Tod ihres Mannes durchgeknallt war.
So viel zu unserem sozialen
Hintergrund. Auch unser Status als Schüler war unterschiedlich. Ich
besuchte das Jesuitenkolleg Saint-Michel-de-Sèze, weil es eines der
renommiertesten und teuersten Privatinternate in Frankreich, aber
vor allem sehr weit weg von Paris war. Es bestand keine Gefahr,
dass ich mit meinen trübseligen Gedanken und meinen mystischen
Krisen am Wochenende bei meinen Eltern hereinschneite. Luc dagegen
besuchte das Kolleg, weil er als Waise ein Stipendium von den
Jesuiten erhalten hatte, die das Internat führten.
Schließlich begründete dies
eine letzte Gemeinsamkeit zwischen uns: Wir waren allein. Und so
vertrieben wir uns die Zeit an den endlosen Wochenenden, an denen
das Kolleg verwaist war, mit stundenlangen Gesprächen darüber, was
wir später einmal werden wollten.
Wir gefielen uns darin, unsere
jeweiligen Erweckungserlebnisse literarisch zu verklären, indem wir
uns mit Claudel verglichen, dem sich Gott in Notre-Dame offenbart
hatte, und mit Augustinus, der in einem Garten in Mailand das
göttliche Licht empfing. Mein Erweckungserlebnis hatte ich im Alter
von sechs Jahren zu Weihnachten. Als ich mein Spielzeug unter dem
Tannenbaum betrachtete, rutschte ich buchstäblich in eine kosmische
Spalte hinein. Ich hielt einen roten Spielzeugwagen in Händen, als
ich plötzlich begriff, dass sich hinter jedem Gegenstand eine
unsichtbare, unermessliche Wirklichkeit verbarg. Ich blickte kurz
hinter die Kulissen der Erscheinungswelt, die ein Geheimnis
verschleierten; von dort vernahm ich einen Ruf. Ich ahnte, dass
dieses Mysterium die Wahrheit in sich barg. Obgleich – oder
vielmehr: gerade weil – ich noch keine Antwort besaß. Ich stand am
Anfang des Weges – und meine Fragen stellten bereits eine Antwort
dar. Später las ich bei Augustinus: »Der Glaube
sucht, die Vernunft findet …«
Lucs Erweckungserlebnis war
anders als meines nicht diskret und intim, sondern explosiv und
spektakulär gewesen. Er behauptete, mit eigenen Augen die Macht
Gottes gesehen zu haben, als er seinen Vater auf einen
Erkundungsgang ins Gebirge begleitete, wo er nach einer Höhle
suchte. Das war 1978. Er war damals elf. Auf einer schimmernden
Felswand hatte er das Antlitz Gottes gesehen. Und in diesem Moment
hatte er begriffen, dass die Welt eine große Einheit bildete und
Gott, der Herr, in allen Dingen war – in jedem Stein, jedem
Grashalm, jedem Windstoß. Anders gesagt: Jeder Teil, selbst der
winzig kleinste, enthielt das Ganze. Luc hatte diese Überzeugung
nie mehr in Frage gestellt.
In Saint-Michel-de-Sèze hatte
sich unsere Inbrunst – bei ihm eher laut und extrovertiert, bei mir
eher leise – entfalten können. Nicht weil die Schule katholisch war
– im Gegenteil, wir verachteten unsere Lehrer, die jesuitische
Frömmler waren –, sondern weil die Gebäude des Internats um ein
Zisterzienserkloster auf einer Anhöhe lagen.
Dort trafen wir uns. Vom Fuß
des Kirchturms aus bot sich ein Rundblick auf das Tal. Der zweite,
unser Lieblingstreffpunkt, lag unter dem Gewölbe des Kreuzgangs,
der von Apostelstatuen gesäumt wurde. Im Schatten der verwitterten
Gesichter von Jakobus dem Älteren mit seinem Pilgerstab oder von
Matthäus mit seiner Axt ließen wir die Vergangenheit wieder
lebendig werden.
Mit dem Rücken an die Säulen
gelehnt, drückten wir unsere Zigarettenkippen aus und beschworen
unsere Helden herauf – die ersten Märtyrer, die in die Welt
hinauszogen, um das Wort Gottes zu verbreiten, und die in römischen
Arenen ihr Ende fanden –, aber auch Augustinus, Thomas von Aquin,
Johannes vom Kreuz und so weiter. Wir sahen uns in Gedanken selbst
als Glaubenskrieger, Theologen, Kreuzritter der Moderne, die das
Kirchenrecht von Grund auf erneuerten, die alten Kurienkardinäle
auf Trab brachten und neue Strategien ersannen, um das Christentum
weltweit zu verbreiten.
Während die anderen
Internatsschüler Ausflüge in die Schlafsäle der Schülerinnen
unternahmen, diskutierten wir endlos über das Mysterium des
Abendmahls, redeten uns die Köpfe über das Zweite Vatikanische
Konzil heiß, das uns nicht weit genug gegangen war. Ich roch wieder
den Duft von geschnittenem Gras im Innenhof des Klosters, spürte
das zerknüllte Papier von Gauloises-Päckchen in meiner Hand und
hörte unsere pubertären Stimmen, die sich schrill überschlugen und
schließlich in schallendem Gelächter endeten. Unser Getuschel
endete immer mit den letzten Worten aus dem Tagebuch eines Landpfarrers von Georges Bernanos:
»Was macht das schon? Allein die Gnade
zählt.« Damit war alles gesagt.
Die Orgeln von Notre-Dame
holten mich zurück in die Gegenwart. Es war 17.45 Uhr. Die
Montagsvesper begann. Ich stand auf. Da durchzuckte mich ein
heftiger Schmerz. Ich erinnerte mich daran, wie ernst die Lage war:
Luc zwischen Leben und Tod; ein Selbstmordversuch, eine Tat
tiefster Verzweiflung.
Ich setzte mich wieder in
Bewegung, halb hinkend, die Hand auf der linken Leiste. Ich hielt
mich an der Heckler & Koch fest, die an meinem Gürtel schon
lange die vorschriftsmäßige Manhurin ersetzt hatte. Ein Gespenst
von einem Polizisten, dessen Schatten sich vor ihm herschlängelte,
passend zu den langen weißen Stoffbahnen am Gerüst um den Chor, der
restauriert wurde.
Draußen traf mich ein weiterer
Schlag. Nicht wegen des Tageslichts, sondern aufgrund einer
Erinnerung, die mich wie ein Dolch durchbohrte. Das schneeweiße
Gesicht von Luc, der in lautes Gelächter ausbricht. Sein rötliches
Haar, seine gekrümmte Nase, seine fein geschwungenen Lippen und
seine großen grauen Augen.
In diesem Moment fiel es mir
wie Schuppen von den Augen.
Ich hatte das Wichtigste
übersehen. Luc Soubeyras würde sich niemals das Leben nehmen. So
einfach war das. Ein Katholik seines Schlags brachte sich nicht um.
Das Leben war für ihn ein Geschenk Gottes, über das der Mensch
nicht verfügen sollte.