KAPITEL 105

4 Uhr morgens

Anruf.
   Die Stimme Foucaults:
   »Ich hab deine Komikerin aufgestöbert. Rue des Trois-Fontanots in Nanterre.«
   Die Adresse einer wichtigen Außenstelle des Innenministeriums, in der mehrere zentrale Dienststellen untergebracht waren.
   »Fährst du hin?«
   »Ich komme zurück. Ist erledigt.«
   »Hast du das, worum ich dich gebeten hab?«
   »Die ganze Akte gescannt, mein Alterchen. Den Teil, der Manon betrifft.«
   »Wo bist du?«
   »Ich bin gleich bei meiner Wohnung. Ich würde gern ein paar Stunden pennen, wenn du nichts dagegen hast.«
   Foucault wohnte im 15. Arrondissement, hinter dem Viertel Beaugrenelle.
   »Ich bin an der Place de la République«, sagte ich und drehte den Zündschlüssel. »In zehn Minuten unten vor deiner Tür?«
   »Ich wart auf dich.«
   Ich brauste über die linke Seine-Uferstraße. Es regnete nicht mehr. Das Morgengrauen deutete sich ganz vage über dem nächtlichen Lichtermeer an. Kein Mensch auf den Straßen und auch nicht in meinem Bewusstsein. Ich mochte dieses Gefühl des auf sich gestellten, ungebundenen Einbrechers, der zeitlich und räumlich gegen den Strich lebt.
   Ich fuhr an Beaugrenelle vorbei und bog dann links in die Avenue Emile-Zola ein, bis ich die Rue du Théâtre kreuzte. Ich erblickte den Daewoo von Foucault, der die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte. Sobald er mich sah, sprang er aus dem Wagen heraus und rannte mir entgegen.
   Er hatte kaum auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als er mir auch schon einen USB-Stick überreichte.
   »Da ist alles drauf. Ich habe alle Vernehmungsprotokolle darauf kopiert.«
   »Ist das kompatibel mit einem Macintosh?«
   »Kein Problem. Ich hab dir ein Konvertierungsprogramm mit draufgeladen.«
   Ich betrachtete das silberfarbene Rechteck in meiner hohlen Hand:
   »Wie hast du dir Zutritt ins Büro von Magnan verschafft?«
   »Ich hab meinen Dienstausweis gezückt. Immer den einfachsten Weg gehen: Das hast du mir beigebracht. Der Wachposten hat halb geschlafen. Ich hab ihm gesagt, dass wir jemanden in Polizeigewahrsam hätten und eine Akte brauchten. Ich habe ihm sogar meinen Schlüsselbund gezeigt und ihm versichert, der Richter hätte mir die Schlüssel zu seinem Büro ausgehändigt.«
   Ich hätte ihn beglückwünschen sollen, aber das war in unserer stillschweigenden Übereinkunft nicht vorgesehen. Er fuhr fort:
   »Ich hab einen Blick auf die Vernehmungsprotokolle geworfen. Sie haben nichts gegen sie in der Hand.«
   »Danke.«
   Foucault öffnete die Tür. Ich hielt ihn zurück:
   »Ich möchte euch morgen Früh sehen, dich, Meyer, Malaspey, 9 Uhr.«
   »In der Firma?«
   »Im Apsara.«
   »Kriegsrat, wie?«, fragte er lächelnd.
   Ich antwortete ihm augenzwinkernd:
   »Sag es den anderen.«
   Er nickte und schlug die Tür zu. Ich fuhr auf die andere Seineseite und nahm die Schnellstraße in umgekehrter Richtung. Zehn Minuten später war ich in der Rue de Turenne. Erschöpft, verstört – aber ich brannte darauf, Magnans Unterlagen zu lesen.
   Ich stellte den Wagen auf dem Zebrastreifen an der Ecke meiner Straße ab. Ich gab den Code für die Haustür ein, als ich das Auto des Observierungsteams bemerkte. Ein sechster Sinn sagte mir, dass sie ein Nickerchen machten – die beschlagenen Scheiben, die lastende Schwere des Fahrzeugs, eine Art undefinierbare Trägheit. Ich klopfte an die Scheibe. Der Mann im Innern fuhr auf und stieß sich den Kopf an der Deckenleuchte.
   »So also überwachen Sie das Gebäude?«
   »Tut mir leid, ich …«
   Ich wartete seine Erklärungen nicht ab. Von einem plötzlichen Bangen ergriffen, eilte ich in großen Sprüngen die Treppe hinauf. Ich schloss die Tür auf und ging durchs Wohnzimmer geradewegs ins Schlafzimmer, den Atem anhaltend: Manon war da und schlief.
   Ich lehnte mich gegen den Fensterrahmen und entspannte mich. Ich betrachtete ihre Gestalt, die sich unter dem Federbett abzeichnete. Wieder dieser merkwürdige, verstörte Zustand, der mich seit Polen nicht mehr verließ. Halb Erregung, halb Benommenheit. Eine Nervosität in meinen Gliedern, die mich elektrisierte und zugleich betäubte.
   Ich ging zurück in die Diele, zog meinen Regenmantel aus und legte meine Waffe ab. Der Regen trommelte auf das Dach, gegen die Fenster und die Wände – der ganze Raum war von einem rhythmischen Prasseln erfüllt.
   Ich nahm hinter meinem Schreibtisch Platz und steckte den USB-Stick in meinen Mac. Das Icon der Datei erschien. Ich überspielte das Programm, das mir Foucault gegeben hatte, und öffnete dann die Unterlagen der Richterin.
   Foucault hatte die Wahrheit gesagt: Corine Magnan hatte nichts in der Hand.
   Weder gegen Manon noch gegen sonst jemanden.
   Ich las. Das Protokoll der Vernehmung Manons, die zwei Tage nach der Entdeckung der Leiche ihrer Mutter, am 29. Juni 2002, in Lausanne stattgefunden hatte. Weitere Zeugenaussagen, die die Untersuchungsrichterin in der Schweizer Stadt aufgenommen hatte. Der Rektor der Universität Lausanne. Die Nachbarn Manons, die Händler ihres Viertels … Zwar hatte Manon für einen bestimmten Zeitabschnitt kein Alibi, aber das Fehlen eines Alibis allein machte aus ihr noch keine Mörderin. Was ihre Studienfächer anlangte, so war dies nur ein weiteres Indiz.
   Beruhigt schaltete ich meinen Computer aus. Selbst wenn die Rothaarige Spaß daran hätte, Manon in Paris noch einmal zu vernehmen, würde sie nicht mehr herausbekommen als in Lausanne. Und die Aussage Lucs würde daran auch nichts ändern.

5.30 Uhr

Ich streckte mich, stand auf und stapfte Richtung Bad. In diesem Moment ertönte aus dem Schlafzimmer ein leises Wispern. Ich schlich mich heran und lächelte. Durch das Prasseln des Regens hindurch redete Manon im Schlaf. Ein Munkeln, das Flüstern einer schlafenden Prinzessin …
   Ich spitzte die Ohren. Dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
   Manon sprach nicht Französisch.
   Sie sprach Latein.
   Ich musste mich am Türrahmen festhalten, um nicht loszuschreien. Das Murmeln ging mir durch Mark und Bein:
   »Lex est quod facimus … lex est quod facimus … lex est quod facimus … lex est quod facimus …«
   Manon leierte den Hölleneid herunter.
   Wie Agostina.
   Wie Luc.
   Wie alle Lichtlosen!
   Mein schönes Gedankengebäude stürzte abermals ein. Meine Theorien, Hypothesen und Bemühungen, Manon zu entlasten – und um jeden Preis einen anderen Täter zu erfinden.
   Ich rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Den Kopf in die Arme gestützt, begann ich zu flennen wie ein kleiner Junge. Die Verzweiflung überwältigte mich. Manon hatte eine negative Nahtod-Erfahrung durchgemacht. Diese unheilvolle Erinnerung war tief in ihrem Unbewussten verankert, wie ein Infektionsherd. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sie ihre Mutter getötet hatte …
   Ich richtete mich auf. Nein. Das war zu einfach. Ich konnte meine Theorie aufrechterhalten. Wenn Manon vom »Höllengast« manipuliert worden war, könnten Bruchstücke dieses Erlebnisses im Schlaf hochkommen, aber das bewies keineswegs, dass sie die Täterin war. Der Demiurg, der verborgene Mörder hatte Sylvie Simonis geopfert und Manon ohne ihr Wissen indoktriniert!
   Ich stand auf und wischte mir die Tränen ab.
   Den »Höllengast« identifizieren, das war das einzige Mittel, um Manon zu retten, vor sich und vor den anderen.
Das Herz der Hoelle
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