KAPITEL 44
Die Sonne hatte die Familien auf die Wiese
gelockt. Kühlboxen, kleine Flaschen und Pappteller. Die Kinder
tummelten sich auf den Spielplätzen. Die Eltern becherten vergnügt.
Im Hintergrund die Gebäude der Siedlung Les Corolles mit ihren
weißen Mauern und roten Fensterläden, die einer Lego-Landschaft
glichen.
Ich stellte den Wagen auf dem
erhöhten Parkplatz ab und stieg dann den Hang hinunter. Um den
Blicken der ausgelassenen Menschen zu entgehen, schlüpfte ich
hinter die Ligusterhecke, die das erste Gebäude umhegte, und ging
ins Treppenhaus von Nr. 15, der Adresse von Martine Scotto, der
Tagesmutter von Manon.
Enge Eingangshalle,
Dämmerlicht. Keine Sprechanlage. Nur ein Schild mit der Liste der
Mieter. Ich suchte den Namen: zweiter Stock.
Ich ging zu Fuß hinauf und
läutete. Keine Antwort. Martine Scotto war nicht da. Vielleicht vor
dem Haus, bei den anderen. Da ich nicht wusste, wie sie aussah,
könnte ich sie dort nicht identifizieren. Aber meine Enttäuschung
hatte einen anderen Grund. Meine Aufregung war vergangen. Ich
strampelte mich vergeblich ab – und ich hatte nur noch ein paar
Minuten Zeit.
Mein Handy läutete in meiner
Tasche.
Kalkulator. Mit ihm hätte ich
nicht gerechnet.
»Hast du etwas
herausgefunden?«
»Ja. Sylvie Simonis hat
regelmäßige Überweisungen getätigt. Es gibt eine, die zu dem passen
könnte, was du suchst. Eine vierteljährliche Überweisung auf ein
Schweizer Konto.«
»Seit wann?«
»Nicht erst seit gestern.
Oktober 1989. Damals waren es alle drei Monate 15000 Franc. Heute
sind das 5000 Euro. Nach wie vor alle drei Monate.«
Ich schlug mit der Faust gegen
die Mauer. Mein Versuchsballon war ein Volltreffer. Nachdem die
Ermittlungen im Sande verlaufen waren, nach den Fiaskos von Moraz,
Cazeviel und Longhini hatte Sylvie beschlossen zu handeln und einen
Privatdetektiv beauftragt. Einen Detektiv, der über zehn Jahre für
sie tätig gewesen war!
»Hast du den Namen des
Empfängers?«
»Nein. Das Geld wird auf ein
Nummernkonto überwiesen.«
»Kann man die Anonymität
aufheben?«
»Kein Problem. Du brauchst nur
ein internationales Rechtshilfeersuchen und konkrete Beweise dafür,
dass das fragliche Geld aus illegalen Geschäften stammt.«
»Mist.«
»Woher stammt dieses Geld?«,
fragte Kalkulator.
»Aus ihren laufenden Einnahmen,
vermute ich. Sylvie Simonis war Uhrmacherin.«
»Dann vergiss es,
Kumpel.«
»Gibt es keine andere
Möglichkeit?«
»Ich werde sehen. Ich vermute,
das Nummernkonto war nur eine Zwischenstation für die Knete. Der
Empfänger überweist das Geld auf ein weiteres Konto, das auf seinen
Namen lautet.«
»Kannst du die Überweisung
nachvollziehen?«
»Ich werde sehen. Wenn der Typ
den Zaster bar am Schalter abgehoben hat, sind wir
aufgeschmissen.«
Ich dankte ihm und legte auf.
Ich ging hinunter ins Erdgeschoss und verwarf in Gedanken alle
anderen Möglichkeiten – dass Sylvie das Geld auf die hohe Kante
legte, oder dass sie einen entfernten Verwandten unterstützte. Ich
spürte aus dem Bauch heraus, dass ich richtig lag. Sie bezahlte
einen Privatschnüffler. Jemanden, der Ermittlungsakten bis unter
die Decke haben musste. Einen Mann, der vielleicht die Identität
des Mörders kannte!
Ich blieb vor den Glastüren der
Eingangshalle stehen. Draußen auf dem kurz gemähten Rasen eine
idyllische Szene süßen Müßiggangs. Die Männer trugen Schnurrbärte
und Trainingsanzüge, die Frauen Leggings und knallbunte
Sweatshirts. Die Kinder tobten an den Klettergerüsten.
Ich wählte abermals die Nummer
von Foucault. Nach zweimaligem Läuten wurde abgehoben:
»Foucault? Durey.«
»Mat? Wir haben gerade von dir
gesprochen.«
»Wer wir?«
»Meine Frau und ich. Wir sind
mit dem Kleinen im Park André-Citroën.«
Ich war fassungslos: Ich
wartete seit dem Morgen auf Ergebnisse seiner Nachforschungen, und
dieser Blödmann war in aller Ruhe spazieren gegangen! Ich schluckte
meine Wut herunter und dachte an Luc, der seine eigenen Leute
erpresste, um sie willfähriger zu machen.
»Hast du keine Neuigkeiten für
mich?«
»Mat, sagt dir das Wort Sonntag
was?«
»Tut mir leid.«
Foucault lachte laut auf:
»Nein, das glaub ich dir nicht.
Du rufst wegen Longhini an? Der Typ ist unsichtbar.«
»Hast du seinen neuen Namen
herausgefunden?«
»Nein. Die Präfektur von
Besançon rückt nichts heraus. Die Sozialversicherung hat nichts.
Seine Polizeiakte wird unter Verschluss gehalten.«
»Was willst du mir da
weismachen?«
»Die Gendarmerie hat eine
geheime Akte. Sie haben ihm damals bei seiner Flucht
geholfen.«
Die Uniformierten hatten sich
also, gegen die Polizei, auf die Seite des Halbwüchsigen gestellt
und ihm sogar aktiv geholfen, eine neue Identität anzunehmen.
Unmöglich, ihn aufzuspüren. Ich wandte den Glastüren den Rücken zu
und ging durch den Flur auf die Rückseite des Gebäudes.
»Willst du meine Meinung
hören?«, fragte Foucault.
»Nur raus damit.«
Ich öffnete den Notausgang und
fand mich am Fuß eines grasbewachsenen Steilhangs wieder. Oben
schaukelten Tannen gemächlich im Wind, und hin und wieder blitzten
Sonnenstrahlen durch die Äste. Ich lehnte mich gegen die
Wand.
»In der Untersuchungshaft haben
die Bullen dem Jungen wohl schwer zugesetzt. Er war mit den Nerven
am Ende.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er hat einen Psychiater
aufgesucht.«
»Woher weißt du das?«
»Das geht aus seinen
Versicherungsunterlagen hervor. Damals hat die Versicherung die
Erstattungen für die Psychotherapie weiterhin an die alte Adresse
der Familie überwiesen. Die Gendarmerie hat das verfolgt. Die
Versicherung hat alle Arztrechnungen aufbewahrt, und darunter sind
auch die Abrechnungen des Psychiaters.«
»Willst du mir sagen, dass du
den Namen des Psychiaters kennst?«
»Ja, den Namen und die
Anschrift.«
»Und das sagst du mir
jetzt?«
»Ich habe ihn gestern
angerufen. Er hat die neue Adresse von Longhini nicht erfahren und
…«
»Rück schon raus mit seiner
Adresse und Telefonnummer.«
Ich hatte mein Adressbuch
bereits gezückt. Foucault zögerte:
»Also …«
»Was?«
»Also ich hab sie nicht bei
mir. Ich bin im Park.«
»Du hast zehn Minuten, um ins
Büro zu fahren. Beeil dich.«
Foucault wollte auflegen, als
ich fragte:
»Warte, und die andere
Recherche? Nach ähnlichen Mordfällen?«
»Nichts.«
»Auch nicht auf nationaler
Ebene?«
»Niemand hat auf meine interne
Nachricht reagiert. In der Datenbank ist kein Mord gespeichert, der
auch nur annähernd deinem gleicht. Es ist sein erster Mord,
Mat.«
»Du hast nur noch neun
Minuten.«
Ich legte auf und rief Svendsen
an. Der Gerichtsmediziner hob ab. Plötzlich kam mir eine
Idee.
»Meine Männer sind am Ball,
aber es gibt nichts Neues.«
»Ich ruf dich wegen was anderem
an.«
Der Arzt seufzte und tat so,
als wäre er völlig geschafft.
»Ich höre.«
»Foucault hat keinen Mord
gefunden, der Ähnlichkeit mit unserem aufweist.«
»Na und? Vielleicht ist es
seine erste Tat.«
»Bestimmt nicht. Wir müssen
weitere Kriterien in unsere Nachforschungen einbeziehen.«
»Was soll ich dazu
beisteuern?«
»Foucault ist von dem Mord
ausgegangen. Vielleicht muss man von der Leiche ausgehen.«
»Soll heißen?«
»Du hast es selbst gesagt: Die
Handschrift des Mörders bezieht sich auf den Verwesungsprozess. Er
spielt mit der Chronologie des Todes.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ein zerstreuter
Gerichtsmediziner hätte diese verschiedenen Verwesungsstadien an
einem von Maden zerfressenen Leichnam vielleicht nicht bemerkt
…«
»Zerstreut und
betrunken.«
»Nein. Im Ernst, ich möchte
eine Liste sämtlicher Leichen in fortgeschrittenem
Verwesungsstadium, die in Frankreich aufgefunden wurden.«
»In welchem Zeitraum?«
»1989 bis 2002.«
»Hast du ’ne Ahnung, wie viele
Leichen das sind?«
»Ist es möglich oder nicht?
Mithilfe der rechtsmedizinischen Institute?«
»Ich sehe mal im
Zentralregister nach. Und rufe die Kollegen an, deren Privatnummern
ich habe. Vor Montag kann ich nichts weiter tun. Es wird auf alle
Fälle dauern.«
»Danke.«
Ich legte auf und torkelte die
Wand entlang, wie gebannt von den schwarzen Tannen über mir. In
ihrem Schatten fröstelte es mich. Ich schlug den Kragen meines
Mantels hoch, während ich auf Foucaults Anruf wartete.
Vage Vermutungen schwirrten mir
durch den Kopf. Hier auf der Rückseite des Gebäudes fühlte ich mich
einfach in Sicherheit.
Zumindest würde Sarrazin mich
hier nicht schnappen …