Arles, Oktober 1949
Avignon, Nîmes, Arles – man hält sich an Monumente, schön, aber einmal setzt man sich, bestellt einen Wein, schaut auf die Straßen hinaus: Städte als Gesicht unseres Menschseins. In fremden Städten, ohne den Schutz einer Gewöhnung, spürt man es krasser; vor allem, wenn es nicht die eigene Sprache ist, die ringsum gesprochen wird … Wozu das alles?… Ich stecke mir eine Zigarette an, es könnte auch eine ganz andere Stadt sein, man sitzt immer vor dem Rätsel eines Ameisenhaufens. Frage nicht wozu! Sie gehen halt hin und her, weil sie leben. Sie leben einfach. Schön. Das heißt, viele leben auch nicht schön, beispielsweise in Gassen, die ewiglich nach Ausguß stinken, aber das riechen sie nicht, Gewöhnung ist alles, jedenfalls leben sie, sie gehen oder sitzen, sie plaudern zusammen, und einer kommt gerade von der Jagd aus der Camargue, stellt die Flinte an die Mauer, bestellt einen Kaffee und erzählt von den Mücken, die ihn behindert haben. Möchte ich dieser Jäger sein? Oder sonst ein Bürger von Arles, beispielsweise der zweifellos sehr angesehene Herr zur Linken? Ich pfeife auf sein Ansehen, auf das Ansehen in Arles. Komisch. Wieso soll ein Ansehen anderswo tröstlicher sein, wesentlicher … Der Kellner bringt unseren Wein, Vin du pays – Culture, beginnend bei Agriculture, und dann, nach einigen Jahrtausenden voll Historie, eine Stadt wie diese oder andere, Autobusse, Läden voll bunter Flaschen, ein Anblick, der mich vor Verzückung jedesmal zum Verweilen zwingt, Weine, Liköre, Flaschen aller erdenklichen Arten, die beseligende Fülle des Unnötigen. Länder des Weines und der Muße, der Kultur, Muße und Wohlleben als unerläßliche Voraussetzung aller Kultur. Ein Laden voll Gemüse und Gefisch, ein Laden voll spielerischer Spirituosen, ein Laden voll Bücher, voilà, das ist unser Weg: vom Bedürfnis zum Spiel, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Tierischen zum Menschlichen, vom Sein zum Bewußtsein … Aber wie schmal ist das Klima, wo dieses Lebewesen, dem wir angehören, hat entstehen können! Einige Küsten sind es, einige Flußläufe – dann, einmal entstanden, geht es natürlich weiter; es erobert sich Räume, wo es nie entstanden wäre, wo das Klima natürlicherweise keine Kultur gestattet, mindestens sie nicht begünstigt; aber unser Lebewesen richtet sie ein. Gegen das natürliche Klima. Es erschafft sich den Spielraum auch dort, wo die Natur ihn nicht schenkt. Durch Technik. Pont du Gard. Durch Errichtung einer außernatürlichen Welt, die ihm günstig ist: – Städte … Bei der Einfahrt in ihre Bahnhöfe, besonders wenn es Nacht ist und die Geleise glänzen im Regen, es flimmern die Lichter von hunderttausend Zimmern, oder bei der Ankunft in einem Hafen wie Genua oder Marseille oder Hamburg, in dieser Märchenwelt von menschlichen Errichtungen, von Schloten und Speichern und Kranen: wie unglaublich ist das Gebilde einer menschlichen Stadt, wie rätselhaft-außernatürlich, wie künstlich und müßig und kühn, wie bestürzend, wenn das Lebewesen gestorben ist und nur sein Gehäuse übrigbleibt, seine Verkrustung – etwas wie diese Arenen, die wir gestern und heute besucht haben … Ein deutscher Bildhauer, zornig über eine gewisse nordische Gegend, hat neulich gesagt: Was wollen Sie, mein Lieber, hier sind die Römer nie gewesen! Ich will ihm diese Karte schicken, die Arena von Nîmes. Hier sind sie gewesen, die Römer, und hat er nicht recht? Auch wenn sie keine großen Künstler waren, wir verdanken diesen Legionären so viel, als man den Technikern nur verdanken kann: sie roden den Urwald, sie überbrücken den Fluß, sie wässern das Land, sie errichten die Muße, sie pflanzen die Rebe, sie erweitern den Raum, wo der Mensch entstehen kann –
Die Muße!
Was ihre Arenen betrifft, verwundert mich am meisten, welche Riesenarbeit sich dieses Lebewesen macht, um sich zu unterhalten, um in seiner eroberten Muße nicht zu verzweifeln. Welche Bastion gegen die Langeweile! Und wie fleißig das gewölbt ist, wie unwitzig, wie massenhaft, wie römisch! Alles Römische: von Athen aus gesehen, hat etwas Russisches: von Paris aus gesehen … Eine Stunde lang haben wir auf der obersten Stufe gesessen. Nichts als Stein und Stille und Sonne; der Himmel der Provence, endlich hat er wieder einmal die Bläue seines Ruhmes! Ich habe mir die zwanzigtausend Legionäre vorgestellt, wie sie in dieser Arena sitzen, brüllend über einen Faustkampf, ein Lebewesen mit vierzigtausend Füßen, die zusammen viele tausend Meilen gegangen sind, ein Lebewesen mit vierzigtausend Händen, die hundert Brücken gewölbt haben, als Krönung aber haben sie diese Arena gewölbt, alles zusammen eine unsägliche Arbeit, bis unser Lebewesen wenigstens für einige Stunden auf seine Rechnung kommt: zu sehen, wie einer den andern in die Fresse haut … Manchmal stelle ich es mir schrecklich vor, diesem Lebewesen anzugehören; auch wenn ich zuweilen auf die andere Seite blicke, hinunter in die Gassen der Lebenden, auf die Balkone mit grauer Wäsche, die Höfe, die Fenster voll Finsternis, die Karren auf der Straße, die Kisten, die Gebärden der Handelnden, das Hin und Her, die Hunde, die Abfälle, die Kinder, die zerschlissenen Stores, die Katzen, das Gezänk eines Weibes, die Unzahl der Dinge –
»Schau es nur an«, sagt der Engel: »So ist das Leben der Menschen – hier und überall, heute und immer.«
Ich schaue.
»Möchtest du ein Mensch sein?«
Ich zögere.
»Wenn ich nicht geboren wäre«, sage ich höflich: »– nein.«
Mein Engel lächelt.
»Du bist aber geboren!«
»Ich weiß«, sage ich: »Und drum hange ich auch so am Leben –«
Ich hange am Leben, das ist wahr, auch wenn es mir manchmal verleidet ist. Manchmal mitten am Tag, so, daß ich Wein trinke; mitten auf einer Reise, um die ich mich beneiden sollte. Mit den malerischen Reizen, die unsere abendländische Verlotterung haben kann, tröste sich, wer kann! Manchmal ist es mir einfach verleidet, dieses Überall von Ruinen, von alten und neuen, das wanzenhafte Gewimmel der Menschen im stinkenden Abfall ihrer Jahrhunderte. Ob es dann eine römische Arena ist oder ein Palast von verwittertem Mittelalter oder eine gesprengte Eisenbahnbrücke, kaputt ist kaputt! Etwas Ganzes möchte ich sehen, nicht Reste oder Teile oder Ansätze eines Ganzen, sondern etwas Ganzes, soweit ich sehe, nicht Landschaft, sondern Menschenwerk, Menschenwelt ohne Schaden, ohne Zerfall, ohne Verlotterung und Verlumpung, ohne Verwesung, ohne die penetrante Fratze der Vergängnis … Nicht einmal um die Kinder, die da im Schutte spielen, ist Hoffnung, Gloriole der Zukunft; sie werden zur Schule gehen und erwachsen werden, gewiß, aber nicht anders als die Erwachsenen von jetzt; hin und wieder werden sie die Marseillaise singen, gewiß, die Inbrunst und Hoffnung ihrer Ahnen: Le jour de gloire est arrivé! – Wir haben den Zug verpaßt, sonst wären wir jetzt in Marseille; wir haben Zeit, Constanze und ich, Zeit wie die Männer, die drüben auf den Bänken hocken, die Arme auf der gußeisernen Lehne, das Kinn auf den Armen. Was sie machen? Sie schauen auf die Straße. Es ist Donnerstag. Einmal kommt ein Begräbnis, ein kleiner Menschenzug, voran ein weißer Priester und ein Meßknabe, ein schwarzer Wagen mit gemaltem Silber, dahinter eine Witwe und etwas Gefolge im geduldigen Schritt. Da stehen sie auf, die Männer gegenüber, und ziehen ihre Mützen. Und irgendwo über den Dächern bimmelt eine Glocke. Der Mistral wirbelt das Laub. Kurz darauf ein Lastwagen mit jungen Burschen, die etwas feiern, wir haben sie schon vorher getroffen, betrunken und grölend; ein Lastwagen mit sieben Trikoloren. Vorbei. Die Luft ist wie ein Gespinst aus Glas, spröde und herbstlich, heiter, man sieht die Nähe des Meeres. Die Totenglocke bimmelt noch immer. Einmal ein kleiner Esel, der langsam einen girrenden Karren zieht, einen Zweiräder, traumhaft langsam; auf einem Bündel von Heu sitzt eine krumme, uralte Greisin, anzusehen wie die Historie in Person, immerzu überholt von hupenden Autobussen. Und dann, kurz darauf, zwei schlendernde Soldaten: zwei Schwarze – Leben ohne Zerfall, Gegenwart ohne Schaden, zwei Kinder der Zukunft …