Der Harlekin, Entwurf zu einem Film
Sonntagabend, Kirmes in einer kleineren Stadt, zu sehen ist der dickste Mann der Welt, widerlich, aber jedesmal, wenn der Ausrufer an seiner schrillen Glocke zieht, strömen die Leute hinein. Und dann sitzt er also auf einer ebenso winzigen wie schäbigen Bühne, verkleidet als chinesischer Mandarin, ein zuckerkranker Mann aus lauter Fett und Falten, die Augen verschwinden fast unter den Wulsten, aber er bewegt sich wirklich, er lächelt, er lebt. Das Publikum tuschelt. Damen mit zartem Gemüt halten ihre Hand vors Gesicht. Der Ausrufer, mit einem schlanken Stäblein auf den Bauch zeigend, der wie ein Ballon aussieht, gibt einen kurzen Lebenslauf:
»Meine Damen und Herren«, sagt er: »das ist der Mann, der sich glücklich preisen würde, wenn er arbeiten könnte, aber dazu ist er nicht imstande –.«
Draußen dröhnt es von Karussells, es bimmelt, wirbelt, dreht sich mit bunten Glühbirnen und fliegenden Röcken, es leiert von allen Seiten, einer schlägt den Herkules, und immer wieder hört man das silberne Glöcklein, wenn er es geschafft hat, dazu eine Arie aus dem Rigoletto, Schreie auf der Achterbahn, Schüsse in einer Schießbude … Gottlieb Knoll, der Held unsrer Geschichte, bleibt stehen und steckt sich eine Zigarette an.
»Meine Herrschaften«, ruft es von der andern Seite: »wer wagt es? Die Gespensterbahn! Nur für starke Nerven! Dreißig Groschen, wir zahlen den Preis sofort zurück, wenn Ihnen die Haare nicht zu Berge stehen – Die Gespensterbahn, das Erlebnis der Woche!«
Ein Pärchen wagt es.
»Immer hereinspaziert!« ruft es abermals von dieser Seite: »Hier sehen Sie das Wunder aller Wunder, hier sehen Sie die pure Wahrheit: Tschau Hing, der chinesische Mandarin, der dickste Mann der Welt, der Mensch, der nicht arbeitet – Tschau Hing!«
Das hat Gottlieb schon gesehen, er schlendert weiter, viel Geld hat er nicht mehr, aber etwas will er sich noch leisten, bevor es Montag ist, bevor er wieder an seinem Pult hockt. Die Dame ohne Unterleib? Einen Augenblick bleibt er stehen, kann aber nicht einsehen, welchen Reiz das haben soll, und geht weiter – vorbei an den heißen Würstchen, an den glitzernden Buden, die mehr versprechen, als das Leben halten kann … Gottlieb zieht es vor, an eine jener geheimnislos offenen Buden zu treten, wo man Bälle werfen kann; ganz allein. Ein Mädchen gibt ihm die Bälle aus Stoff, gefüllt mit Sägemehl. Gottlieb nimmt sie in die Hand, dann wirft er auf die Puppen, die er teilweise trifft; aber es genügt nicht für eine Brosche. Also weitergeworfen! Eine zweite, eine dritte, eine vierte Serie; Gottlieb schmettert, daß die Bude zittert, und indem er mit dem Arme ausholt, entdeckt er erst die Menge der Gaffer, die sich bereits versammelt haben, ein Umstand, der ihm jede Kapitulation unmöglich macht. Nach der elften Serie, es steht nur noch eine einzige Puppe, ist es bereits eine Volksfreude, Gottlieb schwitzt wie ein Held, wortlos, das Mädchen gibt ihm die Bälle nur mit Zögern, erinnert ihn an die Kosten. Aber für Gottlieb, das kann sie nicht verstehen, geht es jetzt ums Ganze; die letzte Puppe, der Teufel soll es holen, erinnert ihn immer mehr an seinen Direktor. Eine Puppe mit Monokel und Zylinder. Schon dreimal hat er sie getroffen, aber sie hat sich immer wieder aufgerichtet. Nach der siebzehnten Serie, als sie noch immer steht, zieht Gottlieb nur die Jacke aus; Kapitulation kommt nicht in Frage, und wenn er seine Uhr versetzen müßte – der Kerl muß herunter!…
Zur gleichen Zeit, kaum dreißig Schritte entfernt, ereignet sich übrigens ein ähnlicher, aber wirklicher Streit – hinter einer jener Buden, deren Vorderseite so glitzernd ist … Es handelt sich um einen Ringer, der streikt, um einen riesenhaften Kerl in gestreiftem Trikot, der imstande wäre, beide zusammen in die Luft zu halten, links den Gendarm und rechts den Budenbesitzer. Er tut es nicht; er sitzt auf einer Kiste und streikt. Das ist alles.
»Vertrag ist Vertrag.«
Der Ringer spuckt auf den Boden.
»Wenn Sie nicht sofort hineinkommen und weiterarbeiten«, sagt der etwas schmächtige und etwas zitternde Budenbesitzer, »lasse ich Sie auf der Stelle verhaften. Auf der Stelle. Wie stehe ich da? Die Bude voll Zuschauer, das Geld in der Kasse –«
Der Ringer läßt sich nicht rühren.
»Luft schnappen!« wiederholt der unglückliche Budenbesitzer: »Sie reden ja wie ein Kind. Und das an einem Sonntagabend, wo das große Geschäft ist! Wenn das jetzt der Dank ist – oder habe ich Sie nicht immer wie einen Menschen behandelt? Wie oft habe ich gesagt: Meier, erkälten Sie sich nicht! Und wie oft, wenn Sie einmal Pech hatten, wie oft habe ich Sie mit Verbandstoff beschenkt? Bin ich ein Unmensch? Bin ich ein Ausbeuter? Vertrag ist Vertrag, das müssen Sie schon einsehen, ich habe Ihre beispiellose Kraft erkannt, als Sie noch ein armer Schlucker waren, ein Arbeitsloser. Wer hat die große Reklame gemacht für Sie? Und was habe ich alles getan für Ihre beispiellose Kraft? Wer gibt Ihnen eine solche Hühnersuppe? Sagen Sie selber, mein Freund, wer hat Sie besser behandelt als ich? Wenn Sie mich nicht hätten – ich lasse Sie ringen in meiner Bude, Abend für Abend, und das ist der Dank: einfach davonlaufen und streiken, Luft schnappen …«
»Was soll ich anderes tun!«
»Meier –«
»Herrgott nochmal«, sagt der Ringer nicht ohne einen Unterton von seelenvoller Zartheit, »ich kann mich nicht anders wehren gegen Ihresgleichen. Ich bin ein Ringer; wenn ich mich anders wehre, sind Sie tot –.«
Gottlieb, der Ballwerfer, hat dann doch kapituliert. Einfach wegen des Geldes; was er noch hat, reicht höchstens für ein Bier. Das Mädchen hat ihm einen Blick herzlicher Teilnahme geschenkt, die Gaffer haben sich zerstreut, das Tingeltangel geht weiter, es bimmelt, es wirbelt, die Ausrufer rufen ihre großen Versprechen, es leiert von allen Seiten, einer schlägt den Herkules, und immer wieder hört man das silberne Glöcklein, wenn er es geschafft hat, dazu die immer gleiche Arie aus dem Rigoletto, Frauen schreien auf der Achterbahn, Schüsse in der Schießbude … Gottlieb setzt sich und bestellt das letzte Bier. Morgen ist Montag. Dagegen ist nichts zu machen. Übrigens setzt er sich abseits, nicht zu den Bekannten, die er wohl bemerkt; er hat jetzt gar keine Lust, mit einem vernünftigen Menschen zu reden, und lieber setzt er sich an einen leeren Tisch oder aber, da es einen solchen nicht gibt, zu dem fremden Ringer.
»Wenn es gestattet ist«, sagt Gottlieb.
Und schon kommt Knicks, der Kellner:
»Was darf ich bringen?«
»Bier.«
»Warum so finster, Herr Knoll?«
Keine Antwort. Und auch als das Bier kommt, kein Ton. Da sagt der Harlekin, der plötzlich an ihrem Tischlein sitzt, der Teufel weiß woher, ein Harlekin, wie er im Buche steht; er sagt:
»Prost!«
»Danke«, sagt Gottlieb.
»Sie haben Durst«, lächelt der Harlekin: »Sie haben sich wacker angestrengt –.«
Gottlieb leckt sich den Bierschaum von der Oberlippe, er schämt sich ein wenig, der Harlekin hat offenbar auch zugeschaut und gesehen, wie Gottlieb sich gegen eine Puppe ereifert hat.
»Ich kann das verstehen«, sagt der Harlekin: »Die ganze Woche lang hockt man an seinem Pult, blickt auf den Kalender, jeden Morgen rupft man einen Zettel ab, damit es wieder Sonntag wird, und dann ist er da, der Sonntag …«
Gottlieb will nicht davon reden.
»Sie sind wohl ein Künstler?« fragt er, um abzulenken: »Ich bin in allen Buden gewesen, aber Sie habe ich nirgends gesehen.«
»Ich bin Zauberer.«
Gottlieb leert das Glas.
»Zauberer?« sagt er mit einem gewissen Unbehagen, das halb aus Hochachtung, halb aus Mißtrauen besteht: »Was zaubern Sie denn, wenn man fragen darf?«
»Was die Herrschaften wünschen!«
Gottlieb lacht:
»Zaubern Sie auch Bier?«
»Bier?«
»Oder Wein?«
»Roten oder weißen?« fragt der Harlekin, und natürlich hat Gottlieb es nur als Scherz gemeint, aber der Harlekin fragt ihn allen Ernstes: »Roten oder weißen?«
Gottlieb verlegen:
»Wenn Ihre Kunst mit sich reden läßt, offen gestanden, ein roter ist mir lieber, ein französischer zum Beispiel –«
»Und Sie?« fragt der Harlekin, indem er sich höflich an den Ringer wendet, der nach und nach zugehört hat.
»Ich?«
»Roten oder weißen?«
»Hören Sie mal«, sagt der Ringer: »das ist aber nicht Ihr Ernst.«
»Warum nicht?«
»Warum nicht!« wiederholt Gottlieb, der wirklich Durst und kein Geld mehr hat: »Wenn der Herr ein wirklicher Zauberer ist –.«
Man einigt sich auf einen roten, einen Dôle, und schon hat der Harlekin auch den Kellner gerufen, genauer gesagt, er hat mit den Fingern geschnalzt, worauf Knicks sich verbeugt, um so höflicher, je schlechter man ihn behandelt.
»Bringen Sie einen Dôle«, sagte der Harlekin: »Und drei Gläser.«
Knicks hat sich nicht getäuscht, Flaschenweine werden in dieser Pinte selten bestellt, er hat sich nicht umsonst verbeugt. Knicks weiß sofort, was er dem seltenen Ereignis schuldet: er nimmt die Serviette und wischt den Tisch. Gottlieb und der Ringer schauen ihn nur so an. Wie er das macht, wie er die Serviette schwingt und davonschwebt!
»Hören Sie mal«, sagt Gottlieb sehr ernsthaft: »so war das nicht gemeint –«
»Was?«
»Das ist doch keine Zauberei, mein Herr, das ist doch kein Kunststück. Einfach bestellen! Das kann doch jeder, wenn er Geld hat.«
»Wenn er Geld hat«, sagt der Harlekin mit bedeutsam gezogenen Augenbrauen, ohne sich weiter auszusprechen; auf ein zweites Schnalzen seiner Finger ist bereits der Zigarrenjunge erschienen, um einen ganzen Turm von Schachteln auf den Tisch zu bauen.
»Was darf es sein?«
»Offen gestanden«, sagt Gottlieb: »ich kenne mich da wirklich nicht aus –.«
Der Harlekin rät ihm zu einer schönen Brasil, Dannemann zum Beispiel. Und also geschieht es. Das duftet schon anders als Stumpen! Auch der Ringer entschließt sich zu einer Brasil, Marke Dannemann. Der Junge zeigt ihnen, wie man das Knöpfchen abdreht, dann gibt er Feuer, und der Harlekin bezahlt …
»Besten Dank«, sagt Gottlieb nach den ersten Zügen, das dunkle Ding betrachtend: »Schmeckt großartig – Geld, ja, das müßte man zaubern können!«
»Nichts leichter als das.«
»Ich meine richtiges Geld –«
Leider kommt Knicks, der Kellner, der das Gespräch unterbricht. Und vor Dritten spricht man nicht von Geld. Schweigend schauen sie zu, wie er den Dôle entkorkt, rauchen an ihrer Brasil, wartend, schweigend, bis die Gläser gefüllt sind und der Kellner sich wieder entfernt.
»Prost!« sagt der Harlekin.
Sie trinken.
»Ich verstehe die Menschen nicht«, sagt der Harlekin: »Morgen ist Montag, und da hocken sie wieder alle an ihren Pulten. Tagein, tagaus. Woche um Woche. Jahr um Jahr. Ein ganzes Leben lang. Nichts als arbeiten! Ich weiß nicht, wie die Leute das aushalten.«
»Ich auch nicht«, sagt Gottlieb.
»Und dennoch machen sie es.«
»Ja«, sagt Gottlieb.
»Auch Sie?«
»Ja –«, sagt Gottlieb, nimmt einen Schluck, dann starrt er nachdenklich vor sich nieder: »Was bleibt uns anderes übrig! Wir sind keine Zauberer …«
Der Harlekin lächelt.
»Ja«, sagt auch der Ringer in seiner langsamen Art: »Was bleibt uns anderes übrig?«
Der Harlekin füllt ihre Gläser.
»In einer Viertelstunde werde ich verhaftet«, sagt der Ringer, »wenn ich nicht an die Arbeit gehe. Vertrag ist Vertrag, sagen sie –«
»Verhaftet? Wieso?«
Der Ringer erzählt seinen Fall.
»Verhaftet!« sagt Gottlieb: »Das ist ja die Höhe, das ist ja die Höhe –«
Kurzum, das Gespräch ist das übliche, die Klage des kleinen Mannes, der kein Zauberer ist, das heißt, er kann sich das Geld nicht anders beschaffen als durch Arbeit, durch eigene Arbeit. Der Harlekin hört zu, füllt ihre Gläser und lächelt … Einmal kommt ein altes Weib, eine Bettlerin, und der Harlekin gibt nicht eine Münze, sondern eine Note; erschrocken küßt sie seine Hand. Einmal kommt ein Blumenkind; auch ihm gibt er eine Note, ohne eine Blume anzunehmen; eine Note; einen vollen runden Monatslohn – Gottlieb und der Ringer, verstummend mit offenen Mündern, blicken einander nur an, ihre Zigarre zwischen den Fingern … Und ringsum immer das Tingeltangel, es bimmelt, es wirbeln die Karusselle mit ihren bunten Glühbirnen, es leiert von allen Seiten, einer schlägt den Herkules, und immer wieder hört man das silberne Glöcklein, wenn er es geschafft hat, Frauen kreischen auf der Achterbahn, Schüsse in der Schießbude, dazu das stete Bewußtsein: morgen ist Montag … Der Dôle schmeckt vortrefflich, er kostet auch vortrefflich; aber der Harlekin, scheint es, hat ja Noten zum Verstreuen –
»Im Ernst«, fragt Gottlieb mit jener Scherzhaftigkeit, die nichts als Vorsicht ist, Tarnung, damit die andern nicht unseren Ernst auslachen können: »Sie können wirklich zaubern? Ich meine, im Ernst – Geld – wirkliches Geld –«
»Nichts leichter als das.«
Gottlieb mag die Aufschneiderei nicht.
»Nichts leichter als das!« wiederholt der Harlekin und streift die Asche von seiner Zigarre, lächelnd, wie wenn ein Professor etwa nach dem Einmaleins gefragt würde, nicht unwillig, eher gerührt über die Ahnungslosigkeit unsres Gottlieb: »Eine einzige Unterschrift, mein lieber, und Sie sind der reichste Mann auf dem Platz –.«
»Ich?«
»Bitte.«
Noch ist Gottlieb nicht betrunken, noch sagt er sich selbst: Quatsch! Glaube ich nicht! Indessen hat der Harlekin, zum Beweis seiner Kunst herausgefordert, in seine Brusttasche gegriffen, die Zigarre im Mund, blinzelnd, da ihm der Rauch in die Augen kommt.
»Bitte«, sagt der Kerl, der geschminkte: »unterschreiben Sie dieses Papier – nichts weiter – und Sie haben Geld, mehr als Sie brauchen können.«
Auch der Ringer lacht über den Scherz.
»Sie wollen mich zum Narren machen!« sagt Gottlieb, indem er das Papier immerhin zur Hand nimmt, ein wenig erschrocken, denn etwas Teuflisches hat er schon, dieser Harlekin, aber das macht die Schminke, doch schließlich ist Kirmes, denkt Gottlieb, einen Jux muß man sich schon gefallen lassen. Was soll es anderes sein? Ein Papier, eine Unterschrift –
»Warum zögern Sie?« fragt der Harlekin.
Gottlieb sucht seine Füllfeder.
»Ich nehme Sie beim Wort!« lacht er: »Aber Sie müssen nicht meinen, daß ich daran glaube.«
»Sie werden ja sehen.«
»Was?«
»Kaum haben Sie unterschrieben«, sagt der Harlekin nicht ohne lächelnde Betonung: »schon ist es geschehen, im gleichen Augenblick ist er gestorben –«
»Gestorben?«
»Im gleichen Augenblick.«
»Wer?«
»Der reichste Mann der Welt, Tschau Hing, der chinesische Mandarin –.«
»Gestorben?«
»Und Sie sind sein Erbe.«
Gottlieb erblaßt … Er weiß wirklich nicht, was er denken soll. Der Harlekin füllt abermals ihre Gläser, obschon die Flasche, müßte man meinen, schon lange geleert ist.
»Mein Herr«, sagt Gottlieb: »das können Sie einem anderen angeben, aber nicht mir –«
Hier wird das Gespräch ohnehin unterbrochen, denn die Viertelstunde, die sie dem streikenden Ringer gesetzt haben, ist vorbei, der Augenblick der Verhaftung ist gekommen und also der Krach, denn der Ringer hat gar keine Lust, sich abführen zu lassen von den beiden Gendarmen, jetzt schon gar nicht, wo er eine Zigarre hat, die erst zur Hälfte geraucht ist, und ein Glas voll Dôle. Kommt nicht in Frage, und wenn sie den Knüppel ziehen! Die Ausrufer rufen umsonst und ziehen ihre schrillen Glocken, kein Bein geht in ihre Buden, alles strömt zu unserem Ringer, der, die Zigarre im Mund, einen Gendarmen schlechterdings in die Luft hält, den Leuten zur Freude, den Gesetzen zum Trotz. Er meint es nicht böse, unser Ringer, aber der Gendarm blutet, die Leute pfeifen und johlen, spielen Fußball mit seinem weißen Helm, und auch Gottlieb ist außer sich.
»Das ist ja die Höhe«, sagt er immerfort: »das ist ja die Höhe!«
In fünf Minuten werden sie wiederkommen, das ist klar, ein ganzer Lastwagen voll, ein Dutzend oder mehr, um den armen Ringer abzuführen; die Empörung ist allgemein, alle auf seiten des Ringers, der als einziger schweigt und seinen Wein trinkt – der Harlekin füllt abermals sein Glas! … Die alte Bettlerin, der Kellner, das Blumenkind, alle stehen um das Tischlein herum, auch Doktor Knacks, der etwas versoffene Rechtsanwalt, und Schopf, der alte Bäckermeister, Gottliebs väterlicher Freund, keiner weiß einen Rat. Nur Gottlieb könnte helfen. Mit einer einzigen Unterschrift! Geld ist Macht.
»Gib sie!« sagen sie: »Gib sie!«
Etwas muß geschehen, denkt Gottlieb, auch er spürt den Wein, und ob es stimmt oder ein Jux ist, was der Geschminkte schwatzt, Geld ist Macht, das stimmt – … Tschau Hing, der reichste Mann der Welt, der noch nie in seinem Leben hat arbeiten müssen, und Gottlieb sein Erbe, Gottlieb Knoll, wie er sich dann erheben und sagen würde: Hände weg, lassen Sie den armen Ringer bloß in Ruhe oder Sie haben es mit mir zu tun, mit Gottlieb Knoll! Und kaum würden sie den Namen hören, wären ihre Gesichter wie verwandelt, etwas verlegen, denn Gesetz ist Gesetz, und vor dem Gesetz sind alle gleich. Und Gottlieb würde sagen: Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, die Behörde kennt mich, ich bin der beste Steuerzahler, man wird sich hüten, mich vor den Kopf zu stoßen wegen einer Lappalie. Und da die Gendarmen immer noch nicht verschwinden, sondern sich verlegen an ihrem eignen Gürtel halten, würde Gottlieb fortfahren und sagen: Vor dem Gesetz sind alle gleich, versteht sich, aber machen Sie sich wirklich keine Sorge, die Kaution wird morgen bezahlt, oder wenn Sie wollen, gerade jetzt! sagt Gottlieb, greift in die Tasche, wo er die Noten hat – und so … Wunderbar wäre es schon, mächtig zu sein, seinen Freunden helfen zu können und selber nicht aufstehen zu müssen, wenn es Montag ist, wenn der Wecker rasselt, sondern liegenzubleiben, im Bett zu frühstücken und in der Zeitung zu lesen: Gottlieb Knoll stiftet ein Heim für arbeitslose Ringer und für alle andern, denen es verleidet ist. Wunderbar wäre es schon, nicht auszudenken –
»Wenn es bloß ohne töten ginge!«
Der Harlekin lacht über ihn:
»Was heißt töten?«
»Was es halt heißt«, sagt Gottlieb.
»Eines Tages stirbt er sowieso, der Mandarin. Und warum soll man mit diesen Wichten zimperlich sein? Wenn Sie ihn sehen würden –«
»Dann könnt ich's schon gar nicht.«
»Sie müssen ihn auch nicht sehen«, verbessert sich der Harlekin: »Das verstehe ich. Drum ist es ja ein Mandarin in China. Je ferner, um so leichter. Das ist der Segen unserer Technik, beiläufig bemerkt; so von Angesicht zu Angesicht, das gebe ich zu, da sind wir alle etwas zimperlich. Wer ist schon imstande, mit dem Küchenmesser auf seine Schwiegermutter loszugehen? Ganz wenige. Oder siebenhundert Menschen eigenhändig zu ersäufen, Menschen wie an dieser Kirmes, Frauen, Männer, Kinder, wem dürfte man das ohne weiteres zutrauen? Eigenhändig, verstehen Sie: wenn man jeden einzelnen nehmen müßte, unser Blumenkind zum Beispiel, und man müßte ihm den Kopf in die Badewanne halten, bis es keine Bläschen mehr gibt, und das siebenhundert Mal. Wer schafft das? Ein Torpedo, das ist doch etwas ganz anderes. Ein einziges Torpedo, ein Blick auf den Winkelmesser, ein Blick auf die Uhr, ein Druck auf den Knopf; das kann jeder, und wären seine Augen noch so blau. Was ist dabei! Sehen Sie sich einmal die Jungens an, die die Bomben lösen; kein Makel im Gesicht. Was heißt töten? Natürlich an Ort und Stelle – aber dazu haben wir ja die Technik, mein Freund, oder wie ich zu sagen pflege: man muß grundsätzlich denken, und das gelingt den allermeisten nur dann, wenn sie ihre Tat nicht mit Augen sehen. An Ort und Stelle erscheint es immer wie ein Mord, mag sein, aber wozu haben wir das Ferndenken? – Sie müssen ihn nicht sehen, das ist ja der Witz, drum ist es nicht Ihr Direktor, sondern ein Mandarin in China.«
»Das schon«, sagt Gottlieb.
»Ich will Sie nicht überreden!« lacht der Geschminkte: »Er selber ist nicht so zimperlich wie Sie, sonst wäre er nicht so reich. Hunderttausend Kulis schuften für ihn, treten die Wassermühlen, damit das Reisfeld seine Zinsen trägt, Tag für Tag, Woche um Woche, ihr ganzes Leben lang, Montag um Montag. Meinen Sie, der geht hin und sieht es sich mit eigenen Augen an? Er sitzt auf seiner Yacht, Tschau Hing, der selber nie geschuftet hat, da sitzt er und rülpst und nährt sich von der Arbeit der andern –.«
Der Ringer nickt:
»Jaja, so ist das!«
Gottlieb schweigt etwas verlegen. Auch die andern nicken, nicht nur die alte Bettlerin und der Kellner und das Blumenkind, sogar der Rechtsanwalt, Doktor Knacks, der in einer Welt, wo es mit rechten Dingen zuginge, nie so verlottert wäre und so versoffen.
»So ist das«, sagt Knacks mit dem ganzen Gewicht, das die Aussage eines Akademikers hat: »Und warum ist es so?«
»Warum?« fragt Gottlieb.
»Die Juden –«
Gottlieb hört nicht weiter zu, sondern betrachtet das leere Papier, übrigens ein ganz gewöhnliches Papier. Eine Unterschrift, denkt er, und ich bin der mächtigste Mann auf dem Platz! Alle reden ihm zu. Nur Schopf, der Bäckermeister, macht ein verächtliches Gesicht; auch wenn es ein Jux ist, er kann den geschminkten Schwätzer und Gaukler nicht ausstehen, er rümpft die Nase wie beim Jassen, wenn er, die Karten betrachtend, dem kommenden Spiel mißtraut. Gottlieb ist sein Freund, er mag nicht, wenn sie ihn zum Narren machen. Gottlieb ist imstande und glaubt daran!
»Was grübeln Sie denn?« lacht der Harlekin: »Wagen Sie es oder wagen Sie es nicht?«
»Natürlich –«
»Aber?«
»Wenn ich's mir so vorstelle –«
»Vorstellen!« lacht der Harlekin sehr unwillig, ein Lachen, das Gottlieb vor den anderen lächerlich macht: »Wenn Sie sich jedesmal vorstellen, was Ihre Unterschrift bedeutet, bleiben Sie Ihr Leben lang ein Kommis! – Oder habe ich nicht recht?« fragte er die andern: »Wenn einer einen Scheck unterzeichnet, hups, und ein andrer verreckt, weil der nichts zu unterzeichnen hat – was ist das anders? Unterschrift ist Unterschrift. Was ist der Unterschied? Oder wenn Sie einen Stimmzettel unterschreiben und Sie wählen Dschingiskhan, glauben Sie, daß Sie damit keinen Menschen töten? Ich bitte Sie –«
Man lacht.
»Oder habe ich nicht recht? Wie?«
Gottlieb mit der Füllfeder:
»Soll ich?« fragt er – wobei er es offenläßt, ob er es für Jux oder Ernst nimmt, er will sich ja nicht lächerlich machen, auch die andern zeigen nicht, wieviel sie daran glauben, ganz geheuer ist es ja nicht, es hat schon wirkliche Zauberer gegeben, Teufelskerle – Gottlieb ist entschlossen, sich wenigstens den Anschein zu geben, daß er es für einen Jux hält; er fragt sie noch einmal: »Soll ich?«
»Klar«, sagt der Rechtsanwalt.
Nur Schopf unterläßt jedes Nicken.
»Und wenn das Geld wirklich kommt?« fragt der erblaßte Gottlieb: »Werdet ihr mich nicht im Stich lassen, wenn ich euch einlade, euch alle – zu einem Fraß, meine Lieben, zu einem Fraß, wie sich unsereiner gar nicht vorstellen kann – werdet ihr mich nicht im Stich lassen?«
»Knicks«, sagt der großartige Gottlieb: »was wollen wir auftischen? Kosten spielen keine Rolle –«
»Pfannkuchen!« sagt das Blumenkind.
»Quatsch!«
»Blutwurst –«
»Unsinn!« sagt der Ringer: »Wenn die Kosten keine Rolle spielen, dann schon lieber einen rechten Schinken –«
»Oder Leberknödel!«
»Das esse ich nicht.«
»Leberknödel, richtig gemacht –«
Nur der Rechtsanwalt hat Niveau:
»Das beste wäre eine Gans«, sagt er gelassen: »eine Gans mit Kastanien –.«
»Und dazu Preiselbeer«, sagt der Kellner.
»Und vorher Fisch –.«
»Und Champagner!«
»Das paßt nicht«, sagt der Rechtsanwalt: »Ich mach Ihnen den folgenden Vorschlag –«
»Knicks, schreiben Sie auf!«
»Erstens: Bouillon mit Mark. Zweitens: Forelle blau, dazu einen schönen Wein, einen weißen, Johannisberg oder so. Drittens: Gans, gefüllt mit Gänseleber und Kastanien, dazu Spätzli, Preiselbeer, Salat nach Jahreszeit. Zum Schluß: Fruchtsalat mit Kirsch oder Maraschino, Kaffee, Zigarren und so weiter – vergessen habe ich den zweiten Wein, einen schönen roten: Pommard …«
Knicks hat alles notiert.
»Na ja«, sagt der Ringer: »Sie müssen es ja wissen, Herr Doktor, aber genug muß es geben –.«
Darüber wird noch viel gesprochen, der Champagner soll doch nicht fehlen. Wenn schon, denn schon: man beerbt nur einmal den reichsten Mandarin der Welt! Allen läuft das Wasser im Munde zusammen, nur bei Gottlieb bleibt es trocken – bevor er die Unterschrift gibt, und da sie nun alle drauf warten, wird er um diese verrückte Unterschrift nicht herumkommen, aber vorher möchte er immerhin noch wissen, was das bedeutet; auf dem Papier steht:
Erste Unterschrift –
Zweite Unterschrift –
Dritte Unterschrift –
»Ach so«, sagt der Harlekin: »das habe ich ja noch gar nicht erklärt. Verzeihung. Das ist ganz einfach. Erste Unterschrift: Tod eines chinesischen Mandarins, also eines Menschen, den Sie nie gesehen haben, den Sie gar nicht kennen.«
»Weiter!«
»Zweite Unterschrift: Tod eines Menschen, den Sie kennen, eines Freundes, der Ihnen im Wege steht –«
»Eines Freundes?«
»Keine Angst«, lächelt der Harlekin: »diese Unterschrift müssen Sie ja nicht geben. Niemand kann Sie dazu zwingen.«
»Und die dritte?«
»Dritte Unterschrift: daran stirbt der Mensch, den Sie am meisten lieben – aber wie gesagt, auch diese Unterschrift müssen Sie natürlich nicht geben, wenn Sie nicht wollen.«
»Hm.«
Pause.
»Nein«, sagt Gottlieb: »das mache ich nicht.«
»Wie Sie wollen.«
»Das ist ein Teufelspakt –«
»Wie Sie wollen.«
Für die Enttäuschung, daß der tolle Schmaus nicht zustande kommen wird, bleibt übrigens gar keine Zeit – schon hört man die verhaßte Sirene der Gendarmerie, der Lastwagen ist da, der erwartete, und bevor sie es ganz begreifen, sind sie umringt von zwanzig weißen Helmen, ganz zu schweigen von den zwanzig Knüppeln. Es ist kein Spaß. Ein Gendarm hat aus der Nase geblutet; das kann der Staat nicht hinnehmen, jedermann wird das begreifen, Ordnung muß sein, auch der Ringer würde es begreifen, wenn er nicht den schweren Dôle getrunken hätte. Drei Gendarmen, die sich unserem Ringer nicht unhöflich genaht haben, sind bereits in die Stühle geflogen, so daß es scheppert von Gläsern und Helmen; die siebzehn andern, von der Menge mit Pfiffen geschmäht, halten sich an das Reglement, das die Reihenfolge der erlaubten Mittel genau bestimmt: Höflichkeit, Knüppel, Tränengas, Revolver. Jetzt sind sie beim Knüppel, ebenfalls erfolglos, zwei weitere Gendarmen werden von fliegenden Aschenbechern getroffen und fallen vorläufig aus; der Ringer, der sich von seinem erloschenen Zigarrenstummel nicht trennen kann, steht in der Mitte eines leeren Kreises, größer als alle andren, ein Stuhlbein in jeder Hand, und da er nach wie vor sein gestreiftes Trikot trägt, sieht es wirklich wie eine Darbietung aus, Publikum strömt herbei, endlich eine Darbietung ohne Eintritt, die Gendarmen wirken wie eine Sperrkette. Was weiter? Mit Knüppeln ist nichts zu machen, das Publikum klettert bereits auf Tische und Bäume. Was weiter? Der Ringer wischt sich die Augen mit beiden Handrücken, ohne die Stuhlbeine loszulassen, wischt sich die Augen wie ein flennendes Kind – Tränengas …
»Pfui Teufel!« rufen die Leute.
Der einzige am Platz, der helfen könnte, ist Gottlieb. Mit einer einzigen Unterschrift. Er verspürt die gleiche Wut wie vorher in der Ballbude. Plötzlich sagt er:
»Her damit, ich unterschreibe!«
Unterdessen haben sie den weinenden Ringer bereits gefesselt, so daß er sich nicht einmal mehr die Augen wischen kann; die Empörung ist allgemein, aber ohnmächtig – Und dann der große Augenblick: der Harlekin, dankend für die Unterschrift, faltet das Papier, wirft es in die Luft, wo es einen Knall gibt, einen schwefelgrünen Blitz wie von einer Rakete und weiter nichts … der Ringer wird auf den Wagen verladen, Gottlieb steht da, der Wagen fährt los, als wäre nichts geschehen, man hört seine verhaßte Sirene, das Publikum murrt und zerstreut sich, das Tingeltangel geht weiter, auch der Harlekin ist verschwunden, ein wenig stinkt es von dem schwefelgrünen Blitz, das ist alles –
»Ein bengalischer Furz.«
Der Rechtsanwalt findet immer das rechte Wort. Gottlieb ist totenblaß. Der Kellner sammelt die Aschenbecher, die Bettlerin zieht weiter, ebenso das Blumenkind, der Rechtsanwalt grinst:
»Der hat wirklich dran geglaubt!«
Nur Schopf, der Bäckermeister, läßt unseren Gottlieb nicht im Stich, greift ihn am Ellbogen und sagt:
»Sei froh. Es ist besser so. Sei froh, daß es ein Schwindel gewesen ist.«
Ein paar Schritte gehen sie zusammen.
»Du hast es ja gut gemeint«, sagt Schopf: »aber so geht das nicht. Und ob es ein Unrecht ist! Aber mit Zauberei, weißt du, das ist nichts. Und mit Töten schon gar nicht –. Sei froh, daß es ein Schwindel gewesen ist …«
Dann ist Gottlieb allein.
Geld hat er keines mehr, nach Hause mag er nicht gehen, so steht er herum vor den wirbelnden Karussells, die Hände in den Hosentaschen, umgeben von Geleier und Gebimmel, einer schlägt den Herkules, Frauen kreischen auf der Achterbahn, ein Ringer sitzt im Gefängnis, aber das Leben geht weiter … So ist die Welt! denkt Gottlieb nicht ohne Tiefsinn, der sich mit Dôle und Tingeltangel mischt: So ist die Welt, lieblos bis ans Herz hinan – denkt er und spürt im gleichen Augenblick, wie ein Arm sich in den seinen schiebt. Es ist das Mädchen, das ihn auf den Hund gebracht hat, das Mädchen mit den Bällen; außerdem ein sehr nettes Geschöpf, jung, nicht unerfahren.
»Ich heiße Jenny«, sagt sie.
Ein Stücklein gehen sie Arm in Arm, wortlos, Gottlieb findet es schön, nicht einsam zu sein in dieser Welt, aber über die Lippen bringt er kein Wort; erst nach einer Weile fällt ihm etwas ein, er bleibt stehen und sagt:
»Ich habe kein Geld.«
»Weiß ich –.«
»Und überhaupt«, sagt Gottlieb: »was wollen Sie eigentlich von mir?«
Jenny lächelt:
»Sie haben mir so leid getan.«
»Das mit den Bällen«, sagt Jenny: »Sie haben sich ereifert, Sie haben Ihr ganzes Geld verschleudert.«
»Allerdings.«
»Warum das?«
»Ja«, lacht Gottlieb: »das war sehr blöd von mir, aber der Kerl mit dem Monokel hat mich so an meinen Direktor erinnert –.«
Ein Stücklein gehen sie wieder Arm in Arm, Jenny hat Feierabend, vermutlich auch Hunger, jedenfalls blickt sie nach jedem Stand, wo Würstchen verkauft werden, und wie hübsch wäre es jetzt, wenn Gottlieb sie einladen könnte: Gans mit Spätzli, Preiselbeer, Salat nach Jahreszeit. Von neuem steigt ihm die Wut; er kann sie nicht verwürgen.
»Wenn Sie unseren Direktor kennen würden«, sagt Gottlieb: »dann könnten Sie mich schon verstehen. Gestern habe ich ihm ganz freundlich gesagt, ich brauche mehr Lohn. Gelacht hat er! So einer ist das –.«
Einmal stehen sie vor dem Restaurant; durch die Scheibe sieht man Hummer, Kellner, Mayonnaise, Flaschen, Pelze.
»Kommen Sie«, sagt Jenny: »Zu Hause habe ich noch eine Wurst –.«
Sie ist ein liebes Ding, kein Zweifel, sie schiebt ihre Finger zwischen die seinen, so leid tut er ihr, und auch seine Gefühle sind ehrlich, man muß zusammenhalten, Jenny hat gewußt, daß er kein Geld mehr hat, und dennoch mag sie ihn, das kommt nicht jeden Sonntag vor. Jenny wohnt am Fischmarkt, eine düstere Gegend, aber Gottlieb ist froh, nicht allein zu sein. Vor der Haustüre, als Jenny nach ihrem Schlüssel kramt, sagt er:
»Ich heiße Knoll, Gottlieb Knoll.«
Jenny schließt auf.
»Komm«, sagt sie.
Das war der Sonntag.
Im Gefängnis, das sei nicht verschwiegen, haben sie den Ringer wieder ganz höflich behandelt. Sie haben sogar seine Fesseln gelöst, zumal sie für seine beispiellose Gestalt viel zu klein sind, allerdings gegen sein Ehrenwort, daß er sich auch seinerseits wieder an die Regeln der Höflichkeit hält und das Eisengitter nicht herausreißt. Es wäre ihm nicht ein Leichtes, aber ein Mögliches. Indessen ist er vernünftig genug, sein Ehrenwort zu halten und die Nacht auf der Pritsche zu verbringen, obzwar sie zu kurz ist; immerhin genügt sie, um den Dôle auszuschlafen. Wenn er die Eisengitter ausreißt, sagen sie, dann gibt es eine Buße, und wenn er diese Buße nicht bezahlen kann, kommt er abermals ins Gefängnis; das Ausbrechen hat also gar keine Zukunft, das sieht er ein. Überhaupt sind die Leute viel höflicher, wenn man sich nicht wehrt …
Die Nacht mit Jenny – nur so viel sei gesagt: Gottlieb träumt von einem toten Mandarin, und als er erwacht, ist er sehr glücklich, daß es nur ein Traum gewesen ist, er ist noch nie mit einem Mädchen so glücklich gewesen … Natürlich verspätet er sich, und bevor Gottlieb seine Ausrede starten kann, weiß er, daß er auf der Stelle entlassen ist, wenn das noch einmal vorkommt.
Kleinlaut geht er an sein Pult.
»Nun?« grinsen die andern: »Wie geht es mit der chinesischen Erbschaft?«
Das muß er noch manchmal anhören …
Genau sieben Wochen lang: – bis zu dem denkwürdigen Montag, wo die liebe Jenny schier verzweifelt, weil sie es kommen sieht, daß Gottlieb seinen letzten Bus versäumt. Er wird zu spät kommen und auf der Stelle entlassen sein. Es ist genau sieben Uhr und vierunddreißig Minuten; Jenny streicht ihm ein Brot, Gottlieb gurgelt noch immer hinter der spanischen Wand, und in elf Minuten geht der Bus, Jenny tut alles für ihn, gießt Kaffee ein und dazu kalte Milch, damit er sofort trinken kann.
»Gottlieb«, sagt sie: »Du kommst zu spät!«
Seine Antwort: gurgeln.
»Gottlieb, es ist sieben Uhr siebenunddreißig. Du machst, bis sie dich entlassen. Das hast du selber gesagt: wenn du noch einmal zu spät ins Geschäft kommst –«
Jenny ist sprachlos, sie traut ihren ungewaschenen Augen nicht: Gottlieb kommt hinter der spanischen Wand hervor, trägt einen Morgenrock, wie man sie sonst nur im Schaufenster sieht, und dazu eine Ruhe, eine Ruhe …
»Gottlieb!«
»Gib mir einen Kuß«, sagt er.
»Was soll das heißen?«
Jenny gibt den Kuß, damit keine Zeit verlorengeht, und woher er diesen stinknoblen Morgenrock hat, wird sie ein andermal fragen.
»Trink«, sagt sie: »Die Milch ist kalt.«
Gottlieb ist sehr gelassen:
»Jennylein, ich muß dir etwas sagen –«
»Was denn?«
»Aber du darfst nicht erschrecken!«
»Gekündigt?«
»Wenn es nur das wäre –.«
»Gottlieb, was ist denn los?«
Er faßt sie an beiden Armen, sein Lächeln ist sonderbar, er zieht sie auf sein Knie.
»Jennylein«, sagt er: »ich muß dich etwas fragen, etwas sehr Ernstes sozusagen –«
»In sechs Minuten geht dein Bus.«
»Antworte mir ganz aufrichtig!«
»Klar, natürlich.«
Und dann schluckt er ein wenig:
»Jennylein, habe ich mich verändert?«
»Wieso verändert –.«
»Ja oder nein?«
»Bist du mir untreu?« fragt sie.
»Wenn es nur das wäre –.«
»Du machst mir wirklich Angst«, sagt Jenny: »Wieso sollst du dich denn verändert haben?«
Er schaut sie an.
»Unser Samstag, unser Sonntag, sag aufrichtig, ob es schön war oder nicht.«
»Dummkopf!«
»Ich meine, war ich anders als sonst?«
»Übermütig bist du gewesen, ja –«
»Aber nicht anders? Wie soll ichs sagen: nicht herrschsüchtig oder so, nicht eigensinnig, nicht unerträglich?«
Jenny lacht ihn nur aus, gibt ihm nochmals einen Kuß, einen zärtlichen, aber einen kurzen, denn es ist nun wirklich allerhöchste Zeit; er müsse sich wie ein Affe beeilen, meint sie. Aber das tut er gar nicht.
»Siehst du«, sagt er lächelnd, doch blaß vor Ernst: »dann bin ich zufrieden – dann bin ich beruhigt – dann kann ich es dir ja sagen … Nämlich die Erbschaft ist wirklich gekommen.«
Jenny kreischt.
»Die von dem Mandarin.«
Jenny ist anzusehen wie eine tragische Maske aus dem antiken Theater, alles offen, Augen und Mund, offen und stumm; während Gottlieb sich eine Zigarette nimmt.
»Tja«, sagt er, »so ist das.«
Der Bus fährt ohne ihn … Schon am Samstag ist es gekommen, ein Brieflein, eingeschrieben, ein Scheck, daß einem jeden, wenn man ihm die Summe nennen würde, Hören und Sehen verginge. Gottlieb wollte nichts davon sagen, damit sie noch einmal ein schönes Wochenende haben, hier in dieser Bude am Fischmarkt. Es war eine kleine Bude, gewiß, aber es war eine nette Zeit, denkt Gottlieb, trotz Gestank aus dem Hinterhof … Das erste, was Jenny dazu sagt:
»Drum –!«
»Was?«
»Drum hast du diesen Morgenrock gekauft?«
»Ja«, lächelt er etwas verlegen: »ich wollte nur wissen, ob es stimmt, weißt du, mit diesem Papier. Ob das wirkliches Geld ist. Ich geh in die Bank. Was wollen Sie? Ich zeige den Scheck. Bitte sehr, und plötzlich ist der windelweich, führt mich durch die Halle, verbeugt sich immerzu, bis ich in einem großen Zimmer sitze, ganz allein, weißt du, nichts als Leder und Nußbaum. Bitte sehr! Mir läuft der Schweiß. Du, die geben mir wirkliches Geld. Das kann nicht stimmen! denke ich. Und ich geh in den nächsten Laden. Bitte, und die geben mir, was ich will, ohne Wimperzucken. Und an der Tür verbeugen sie sich, als wäre ich selber ein chinesischer Mandarin –.«
Pause.
»Ich bin so froh, Jennylein, daß du sagst, ich habe mich nicht verändert.«
Und indem er in die Tasche greift:
»Weißt du, wo Calcutta liegt?«
»Calcutta –?«
»Dort befindet sich zur Zeit unsere Yacht«, sagt Gottlieb und liest den Zettel vor: »Item eine chinesische Yacht, zur Zeit in den Gewässern von Calcutta, inbegriffen die hundertzwanzig Ruderknechte; item sämtliche Ländereien, inbegriffen die Menschen darauf; item die Fabriken –«
»Fabriken?«
»Schwarz auf weiß.«
»Was wollen wir denn damit?«
»Jennylein!«
»Verstehst du dich auf Fabriken?«
»Mach dir keine Sorge«, lacht Gottlieb: »das mußt du richtig begreifen. Item sämtliche Fabriken; was verstehe ich davon, wie man Porzellan macht oder Glühbirnen oder Seide, und doch werden die Fabriken laufen, unsere Fabriken! Weil die Arbeiter, die es wissen, ebenfalls leben müssen, und wenn sie nicht sterben wollen, müssen sie in die Fabrik, gleichviel wem sie gehört. Müssen! ohne daß ich sie mit der Geißel zwinge – du wirst schon sehen!«
Jenny umarmt ihn:
»Du!«
»Komm, laß mich weiter lesen –.«
»Du«, schwärmt sie: »am tollsten finde ich die Yacht – aber wie kommen wir nach Calcutta?«
»Die Yacht kommt hierher.«
»Hierher?«
»Habe ich bereits gedrahtet.«
»Wie ist das möglich?«
»Bitte«, sagt Gottlieb mit einer Gelassenheit, die er bisher nur an seinem Direktor gekannt hat: »inbegriffen hundertzwanzig Ruderknechte –«
Hier klopfte es.
»Herein?«
Es klopft ein zweites Mal.
»Herein!«
Es klopft ein drittes Mal.
»Teufel nochmal! Herein!«
Und dann, wie schon der alte Brauch mit dem dreifachen Klopfen hat vermuten lassen, erscheint der Harlekin, fröhlich und beflissen, etwas dienerisch auch er, aber sicher im Auftreten, geradezu weltmännisch; er sagt:
»Die Leutchen sind da!«
»Wer?«
»Knicks, der Oberkellner, bittet um die Wünsche betreffend das Diner.«
»Das haben wir doch schon damals auf der Kirmes besprochen!« sagt Gottlieb etwas ungnädig, dann zu Jenny: »Das habe ich dir ja noch gar nicht gesagt – Versprechen ist Versprechen, ich habe sie eingeladen, alle meine Freunde!«
»Hierher –?«
»Mach dir keine Sorge, wir werden sowieso umbauen –«, sagt Gottlieb und wendet sich wieder zum Harlekin: »Sie kommen wirklich?«
»Garantiert.«
»Großartig«, sagt Gottlieb und wendet sich wieder zu Jenny: »Sieben Wochen lang haben sie mich gefoppt, du weißt es, gehänselt haben sie mich. Nun was macht die chinesische Erbschaft? und so. Aber davon kein Wort! Ich bitte dich. Wir wollen uns nicht rächen, weißt du, nicht einmal zum Spaß. Schon so werden sie lange Gesichter machen. Aber unsrerseits, verstehst du: Noblesse … Es liegt mir dran, daß sie meine Freunde bleiben. Sie sollen es wie Fürsten haben.«
Jenny, von den weltmännischen Blicken dieses Harlekins etwas verwirrt, zieht ihr blaues Nachthemd über die Brust.
»Smith, Tailor, London.«
»Was will der?«
»Das Maß nehmen, damit der Anzug noch fertig wird bis zum Diner –.«
»Sogleich.«
»Ferner fragt das Orchester, was es spielen soll.«
»Musik – etwas Rassiges – was sie halt können … Wo bleibt das Kleid für die Dame?«
Der Harlekin schnalzt mit den Fingern, es kommen Hutschachteln und Kleider, ein ganzes Schaufenster voll, Schuhe, Strümpfe, Pelze, Jenny kann es nicht fassen, sie weint:
»Gottlieb, Gottlieb!«
Gottlieb fragt den Harlekin:
»Was weiter?«
»Die Arbeiter sind da.«
»Also los!« sagt Gottlieb: »Umbauen –!«
Der Harlekin schnalzt mit den Fingern … Es ist nicht zu glauben, aber man sieht es mit eignen Augen: die Wände des kleinen Zimmers entfernen sich, vernobeln sich zugleich, aus der alten zerschlissenen Tapete wird ein lichter Stoff, modern, die Zimmerdecke entschwebt und wird sauber wie Schnee, und von oben kommen die neuen Lüster, schick, sehr schick, die Fenster werden breiter, vor allem höher, während auch schon die Vorhänge aus den Wänden fließen, Kaskaden von köstlichem Stoff, schlicht, aber köstlich über alle Kataloge hinaus, nicht zu vergessen der alte Ofen aus Gußeisen und das Ofenrohr, das verdampft in nichts, die Heizung ist in der Decke, Strahlungsheizung, versteht sich, und der Linol, der ehemals geblumte, dann verwetzte, an der Schwelle und unter dem Tisch schon lange verlöcherte, er rollt sich zusammen wie ein brennendes Papier, das in Asche zerfällt, ein Staubsauger nimmt die Asche, lautlos, und schon kommen die Arbeiter, verkleidet als Heinzelmänner, was ihnen selber sehr mißfällt, aber zum Murren ist keine Zeit, man muß froh sein um Arbeit, Gott segne die Herrschaften, die Geld haben, im Nu kleben sie das Parkett, ein Würfelparkett, Esche mit Nußbaum – leider ein Irrtum, der Harlekin sagt kein Wort, schüttelt nur den Kopf und zieht den linken Mundwinkel, sofort reißen sie das Parkett wieder heraus, das kommt ins Musikzimmer, nicht hierher, schon kommen sie mit den geschliffenen Platten, die sogleich einen ganz anderen Eindruck geben, kühler, vornehmer, darüber ein purpurner Teppich, der sich von selber entrollt – leider, der Teufel kann sich irren, ist auch das wieder ein kleiner Irrtum, das gehört in die Halle, versteht sich, der Harlekin sagt kein Wort, er blickt nur den Vorarbeiter an, der die Schuld sogleich auf seine Schultern nimmt, mit einem Preßluftbohrer werden die erlesenen Platten entfernt, für den Fachmann ist es zum Heulen, aber Kosten spielen keine Rolle, die Platten müssen natürlich ersetzt werden, jetzt kann man keine Zeit verlieren, die neuen Möbel warten bereits, bis der Spannteppich aufgezogen ist, ein Spannteppich, daß man vor Wonne immerzu gehen möchte, nichts als gehen … Das ist es natürlich, was sich ziemt, und die Weite der Räume, mein Gott, diese Weite – nur, versteht sich, die kleine alte Bettkammer hat man noch stehen lassen, solang Jenny sich umkleidet, die kleine alte Bettkammer …
Der Harlekin:
Allein in dem gediegenen Raum, nachdem er die letzten Arbeiter durch ein kurzes Schnalzen der Finger entfernt hat, betrachtet er das Ganze mit einem prüfenden Blick, etwa wie ein Inspizient, da und dort verstellt er ein Möbel, verteilt die Aschenbecher, versucht, ob sich die Vorhänge auch wirklich ziehen lassen, findet eine Vase ohne eine einzige Blume, spuckt hinein, und noch während eine Garbe von frischen Chrysanthemen aus der besagten Vase emporwächst, hat er sich gewendet, reibt sich das Kinn, nochmals das Gesamte betrachtend, winkt einem Lüster, daß er weiter herunter komme, und dann, nach einem nur aus alter Erinnerung lüsternen Blick in die kleine alte Bettkammer, wo Jenny sich umkleidet, tritt er zum neuen marmornen Kamin, öffnet die Klappe, die sich mit einem kunstreichen Griff aus Messing bedient, und entschwindet durch den Rauchfang …
Stille.
Der erste der Gäste, der hier das Staunen lernt, ist Schopf, der Bäckermeister. Er tupft sich den Schweiß von der Stirn, so hat er sich beeilt, denn man hat ihm nur sagen lassen, Gottlieb sei in der Klemme, es sei etwas passiert. Da hat er seine weiße Schürze losgebunden, er war gerade in der Backstube; nun steht er da in seinen hellen Bäckerhosen, sockenlos, die Schuhe voll Mehl, Hemd ohne Krawatte, die Ärmel gekrempelt, Teig unter dem Ehering – aber von Gottlieb ist nichts zu sehen, und pfeifen, das spürt er sogleich, schickt sich hier nicht; doch ein Mädchen ist auch nicht da, niemand, die Türen öffnen sich von selbst, amerikanisches Modell. Hat nichts mit Wunder zu tun, Technik, das ist alles. So etwas mit Elektrofoto … Schopf, wie gesagt, tupft sich den Schweiß von der Stirne; der Teufel solls holen, so hat er noch in keiner Backstube geschwitzt – und schon öffnet sich die Türe vor dem nächsten Gast: die Bettlerin.
»Sie hier –?«
»Was soll das bedeuten –?«
»Das frage ich mich auch –.«
Natürlich wiederholt sich das bei jedem, der kommt. Der nächste ist Knacks, der Rechtsanwalt, der weniger aus Freundschaft kommt, sondern aus Neugier, übrigens der einzige, der auf einem Spannteppich gehen kann, ohne die Füße besonders zu heben, und sich nicht verdutzen läßt.
»Ich rieche Schwarzhandel –« sagt er.
»Glauben Sie?«
»Kennen wir«, sagt er, indem er die Einrichtung etwas befühlt: »Mit seiner Hände Arbeit hat das noch keiner verdient –.«
Dann das Blumenkind.
»So was«, sagt sie: »So was –.«
Sie strahlt. Übrigens wird alles nur geflüstert, und je zahlreicher die Gäste werden, um so leiser; Getuschel wie vor einem Begräbnis, Achselzucken, Nicken auf Entfernung. Es sind ferner gekommen: Zapf, ein Schulkamerad von Gottlieb, Inhaber einer Tankstelle, und die alte Frau Holle, die Zimmerwirtin von Gottlieb, die auf alles gefaßt war, seit er nicht mehr zu Hause geschlafen hat, auf alles, flüstert sie, aber nicht gerade so … Einen lauten Ton gibt es erst, als die Türe sich zum letzten Male öffnet, und es erscheint der Ringer im gestreiften Trikot; da rufen sie alle:
»Mensch Meier! –«
Er kommt geradezu aus dem Gefängnis, jawohl, der Gendarm kann es bezeugen. Der Gendarm nämlich, das ist sein neuer Freund; übrigens der gleiche, der damals aus der Nase geblutet hat. Stramm heißt er, ein Herzenskerl, wenn man ihn außerdienstlich kennt; jetzt kommt er außerdienstlich, versteht sich. Und natürlich muß der Ringer erzählen, wie es gewesen ist. Und wieso man ihn hat laufen lassen?
»Kaution«, sagt er.
»Was ist das?« fragt das Blumenkind.
»Freiheit«, sagt der Rechtsanwalt und streichelt dem ahnungslosen Kind das junge Haar: »– Geld.«
Die Freude, daß Meier sich auf freiem Fuße befindet, ist laut und allgemein, einen Augenblick vergessen sie darüber, wo sie stehen; so laut, daß Gottlieb, der Spender solcher Freiheit, zuerst gar nicht bemerkt wird, als er unter der großen Flügeltüre steht: Gottlieb im Frack –
»Freunde«, sagt er in seiner schlichten Art: »da seid ihr ja!«
»Ah!« machen alle.
»Schopf!« sagt er: »Mein Lieber –«
Und so, überströmend von Herzlichkeit, geht Gottlieb auf sie zu, auf seine alten guten Freunde, die ihn mustern. Und Katty, das Blumenkind, tut sogar einen Knicks; Gottlieb lacht sie aus; kein Wort bringt sie über die Lippen.
»Was ist denn los?« sagt Gottlieb: »Was glotzt ihr denn so? Alle stehen; wieso hockt ihr nicht?… Macht keine Flausen, ich bitte euch!… Ich finde es wirklich schön, Kerls, daß ihr gekommen seid! Und das an einem heiligen Montag, mitten aus der Arbeit raus – Zapf!« lacht er erleichtert: »Auch du?«
Und so, wie gesagt, geht er zu jedem, schüttelt ihm die Rechte, wozu er seinerseits, seine Freundschaft deutlicher zu zeigen, beide Hände verwendet. Schon das ist faul, denkt Schopf, der Bäckermeister; sehr faul, wenn es mit einer Hand nicht genügt. Auch Zapf, der Schulkamerad, ist darüber etwas verlegen; das ist der Händedruck der Gaukler und Pfaffen.
»Setzt euch doch«, sagt Gottlieb: »Jenny wird gleich kommen … Ihr nehmt doch einen Apéritif?« fragt er, dieweil sie sich gehorsam setzen, und damit ja keine Stille entsteht, schwätzt er gleich weiter: »Wie geht es denn immer?«
»Danke.«
»Ja, meine Lieben, wer hätte das gedacht! Damals vor sieben Wochen. Mir kommts wie eine Ewigkeit vor! Dieser Harlekin mit dem bengalischen Furz – und nun ist er doch kein Schwindler gewesen …«
Sie blicken sich verstohlen an.
»Ein Mann, ein Wort!« lacht Gottlieb: »Bouillon mit Mark, Forelle blau. Ihr werdet sehen! Gans, gefüllt mit Kastanien, Spätzli, Preiselbeer, Salat nach Jahreszeit. Fruchtsalat mit Kirsch oder Torte für die Damen, Kaffee, Zigarren. Und Wein, hoffentlich habe ich mich richtig erinnert, Johannisberg und Pommard –.«
Der Ringer haut sich auf den Schenkel.
»Gottlieb«, sagt der bedächtige Bäckermeister: »das alles ist doch nicht dein Ernst?«
»Ein Mann, ein Wort.«
»Was soll das bedeuten –?« fragen sie.
Jetzt kommt Knicks, zum Oberkellner befördert, gefolgt von neun Unterkellnern, jeder mit einem silbernen Tablett. (Kann als Ballett aufgezogen werden). Die Kapelle spielt. Und dann, wie jeder Gast ein köstliches Gläslein hält, die alte Bettlerin und das Blumenkind nicht ausgenommen, sagt Gottlieb mit ehrlichem Bemühen, nicht ganz so feierlich zu werden, wie ihm wirklich ums Herz ist:
»Auf unsere Freundschaft – kipp!«
Also geschieht es.
»Klasse«, sagt der Ringer.
Die Kellner füllen sofort nach … Auch Stramm, der Gendarm, läßt es sich gefallen. Er ist schon bei manchem Schwarzhändler gewesen. Und Knacks, der Doktor, will sogar die Etikette sehen; das Blumenkind mustert die Garbe von Chrysanthemen; die alte Bettlerin betastet die Vorhänge; Zapf, der Mann von der Tankstelle, schiebt seine verölte Schirmmütze aus der Stirne, wie er es in der Wirtschaft immer macht, und Schopf, noch immer den Lüster musternd mit geistfernem Staunen, kratzt sich unwillkürlich das Brusthaar – kurzum, sie werden freier … Und auch Gottlieb, seinen Frack vergessend, nimmt, kaum hat er das Gläschen hingestellt, seinen linken Fuß in die rechte Hand, ihn übers Knie ziehend: ein Gottlieb, wie jeder ihn kennt, ganz der alte, wenn er bloß nicht so viel von Freundschaft schwätzte.
»Im Ernst«, sagt er: »eure Freundschaft ist mir wertvoller als alle Schätze dieser Welt. Ich habe euch allen das gleiche berichtet: Lieber Schopf, liebe Katty, lieber Zapf, mir ist was zugestoßen, ich brauche dich sehr – und keiner hat mich im Stich gelassen. Ihr seht es selbst! Ihr habt mich gefoppt, nun ja, aber das habe ich schon gewußt, daß ihr zu mir steht, wenns ernst wird – und das ist es halt nun geworden … Ja, deswegen müßt ihr nicht die Augen niederschlagen. Ich bleibe der Alte. Das ist doch klar. Ich habe mich nicht verändert, Jennylein kanns bezeugen, nicht so viel. Das müßt ihr mir schon glauben. Ich bin heute nicht ins Geschäft gegangen, das gebe ich zu. Keiner an meiner Stelle wäre heute ins Geschäft gegangen – aber unter uns, meine ich, da hat sich nichts verändert, das ist doch selbstverständlich, darüber wollen wir doch keine Worte verlieren, denke ich – Wir bleiben die Alten!« sagt er und nimmt das Gläslein: »Trinken wir auf unsere Freundschaft!«
Sie nehmen ihre Gläslein.
»Wieso bist du nicht ins Geschäft gegangen?« fragt der nüchterne Schopf: »Du willst doch nicht sagen –«
»Stoßen wir an!«
»Das mit der Unterschrift –«
»Stoßen wir an!« sagt Gottlieb.
»Und das mit dem Mandarin –«
»Stoßen wir an!«
»Der Mandarin«, fragt das Blumenkind: »der ist wirklich dran gestorben?«
»Der Teufel soll ihn holen«, sagt Gottlieb: »davon wollen wir jetzt nicht reden – trinken wir auf unsre Freundschaft! sage ich, und damit Prost!«
»Prost.«
Endlich ist es soweit, daß Jenny aus der alten kleinen Bettkammer kommt, großartig anzusehen, unwahrscheinlich, aber etwas verzagt; am Rücken bringt sie einen Knopf nicht zu, Gottlieb soll helfen.
»Ihr müßt doch nicht alle aufstehen«, sagt er: »Herrgott nochmal!«
Ein Abendkleid nicht zu beschreiben; Jenny ist eine Dame, nicht wiederzuerkennen als die Jenny vom Fischmarkt, und keiner der Männer, die je durch diese Bettkammer gegangen sind, Kaufleute aller Stufen, Studenten, Familienväter, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, keiner würde auch nur wagen, sie unterzuhaken.
»So was!« sagt das Blumenkind.
Und alle bleiben stehen; aufrecht.
»Ich komme gleich«, sagt Jenny. Sie will nur noch die Lippen malen – ein Schrei, so, als wäre sie verbrüht worden, und Jenny, die Dame, liegt auf dem Boden. Gottlieb eilt hinzu, den Anblick ahnend, der die arme Jenny in solche Ohnmacht geworfen hat; sogleich, ohne selber einen Blick hineinzuwerfen, reißt er den Vorhang vor, damit niemand in die Bettkammer sieht, wendet sich, starrt seine Gäste an, blaß wie aus Wachs:
»Was starrt ihr denn so?«
Unterdessen wird das Diner aufgetragen …
»Warum setzt ihr euch nicht?«
Man setzt sich, alle außer Zapf.
»Jenny wird sich gleich erholen –.«
Gottlieb ist seltsam, duldet nicht, daß man sich um die arme Jenny kümmert; wie ein Tollwütiger springt er empor, als Zapf sich nur dem Vorhang nähert, reißt ihn zurück, daß er taumelt, und steht vor der Bettkammer, die weiße Serviette in der Faust.
»Was soll das heißen?« sagt er mit einer nie gehörten Stimme: »Ich habe euch zum Essen eingeladen, nicht um mein Haus zu durchsuchen. Bin ich ein Verbrecher? – Sagen Sie, was Sie denken, Doktor, sagen Sie es rundheraus!«
»Ich? Was?«
»Daß ich ein – Mörder bin …«
»Wer sagt das?«
»Keiner! Keiner! Aber jeder denkt es. Sehe ich doch euren Augen an –«
»Unseren Augen?«
»Heuchler!«
Sagt es und wirft die Serviette hin.
»Gottlieb, Sie tun uns Unrecht. –«
»Heuchler«, wiederholte er: »Hosenscheißer – warum eßt ihr denn nicht? Ihr alle. Auch du, Schopf! Warum rührt ihr euer Mark im Teller herum, und keiner nimmt einen Bissen? Ist es euch zu heiß, was? Oder ist es euch nicht gut genug, was? Oder – glaubt ihr vielleicht, hinter dem Vorhang sitzt eine Leiche –.«
Totenstille.
»Herrgott im Himmel«, sagt er mit grimmigem Vorwurf: »wenn das eure ganze Freundschaft ist!«
»Gottlieb –«
»Was gafft ihr denn alle nach dem Vorhang?«
Schopf nimmt den Löffel.
»Gottlieb hat recht«, sagt er zu den andern, die wie versteinert sind: »wir wollen nicht den Kopf verlieren.«
Der Bäckermeister, besonnen wie immer, will das gute Beispiel geben, indem er den Löffel in die Suppe taucht und mit dem Mahl beginnt; doch er hat den Löffel noch nicht im Mund, als Gottlieb ihn an der Joppe packt:
»Wie meinst du das? Wir wollen nicht den Kopf verlieren. Wie meinst du das? Hm? Heißt das, daß ich es auf euren Kopf abgesehen habe – oder was?«
Gottlieb ist verwirrt, sie verstehen noch gar nicht, was er meint, blicken auf das Mark im Teller und wissen wirklich keine Antwort, nicht einmal ein Verhalten – bis Zapf, der unterdessen an den Vorhang geschlichen ist, einen leisen Schrei tut:
»Verflucht.«
»Es stimmt«, sagt er tonlos.
»Was?«
»Ich hab sie gesehen.«
»Was?« fragen sie alle.
»Eine Leiche.«
Hiemit, scheint es, ist das festliche Essen schon zu Ende, jedenfalls haben sich alle erhoben; umsonst bettelt Gottlieb:
»Ihr wollt mich verlassen?«
Es ist schließlich Montag, Werktag, jeder ist gekommen, wie man bei einem Hilferuf kommt, aber so viel Zeit haben sie natürlich nicht, das muß Gottlieb schon verstehen; der Bäckermeister hat noch die Wähen im Ofen, und auf die Lehrlinge ist ja kein Verlaß. Auch Knacks, der Rechtsanwalt, hat noch eine Verabredung im Kaffeehaus. Und eine Tankstelle, wo niemand bedient, wie soll man das verantworten? Umsonst spricht Gottlieb mit jedem einzelnen, um ihn zu überzeugen, daß ihnen die Leiche nichts antut; unterdessen hauen alle andern ab – man hört seine Stimme draußen in der Halle:
»Damals auf der Kirmes, ihr Hunde, ihr verdammten, wer hat gesagt, ich soll unterschreiben? Kein langes Geflunker, der Mandarin soll sterben – damals auf der Kirmes – Für wen habe ich es denn getan? – Ihr Hunde, ihr verdammten, ihr elenden …«
Ganz allein, wie er sich im ersten Augenblick vorkommt, ist unser Gottlieb nicht, als er in den verlassenen Raum zurückwankt. Der Harlekin ist auch noch da! Der hockt halb auf dem gedeckten Tisch, einen Fuß auf dem nächsten Stuhl, einen sehr absonderlichen Fuß, wenn man ihn so genauer sieht, und frißt Toast mit Mark; indem er Salz darauf streut, lächelt er:
»So ist das immer mit den kleinen Leuten! Kaum wissen sie, daß eine Leiche hinter dem Vorhang sitzt, schon mundet ihnen das beste Essen nicht mehr – und nachher klagen sie darüber, daß sie ihr Leben lang Kartoffeln fressen …«
Schwupp, hinein mit dem Mark.
»Na ja«, fügt er hinzu: »nun laufen sie natürlich davon und schwatzen es in alle Winde –.«
»Glaubst du?«
»Klar.«
»Wie kann man das verhindern?«
»Nichts leichter als das.«
»Wie?«
Das Lächeln von Leuten, denen man ausgeliefert ist, Gottlieb kennt es, nichts widerlicher als ihre gelassene Art, diese höfliche Art, wie der Harlekin, kaum hat Gottlieb sich eine Zigarette genommen, sein Feuerzeug schnappen läßt, dem Anschein nach ein beflissener Diener, in Wahrheit ein rechnender Folterer.
»Nichts leichter als das –.«
»Aber wie?« fragt Gottlieb: »Wie?«
Der lacht nur:
»Galeere!«
Aber davon will Gottlieb nichts wissen, versteht sich, so einer ist er nicht, Gottlieb Knoll, der nur das Gute will, und schließlich sind es doch seine Freunde. Warum soll er seine Freunde auf die Galeere schicken?
»Freunde«, lacht der Harlekin.
»Es sind meine Freunde!«
»Gewesen.«
Gottlieb kniet:
»Jennylein? Jennylein?«
Noch ist sie nicht bei Bewußtsein.
»Unsinn«, sagt Gottlieb: »wieso sollen sie nicht mehr meine Freunde sein?«
»Weil sie dich fürchten.«
»Fürchten!« sagt Gottlieb: »Was habe ich ihnen denn getan? Wo ich doch nur das Beste will, wo ich sie alle an meine Tafel lade – Wieso fürchten sie mich denn plötzlich? Das ist doch Quatsch. Wieso fürchten?«
»Weil du die Macht hast.«
»Ich will gar keine Macht –«
»Aber du hast sie«, lacht der Harlekin: »Das haben sie gesehen. Und drum fürchten sie dich, drum ist ihnen der Appetit vergangen. Keinen Löffel voll haben sie genommen. Nicht einmal die Bettlerin …«
Gottlieb hat sich erhoben, nachdem er die arme Jenny umsonst gestreichelt hat. Er mag jetzt die Tafel nicht ansehen! Am Fenster steht er, die Hände in den Hosentaschen, Blick auf den Fischmarkt, der menschenleer ist; nur Gendarmen gehen auf und ab, jedes Palais will bewacht sein. Gottlieb schüttelt den Kopf, so lächerlich dünkt ihn der ganze Spuk.
»Macht«, sagt er: »Was heißt Macht?«
»Eine tödliche Unterschrift.«
Pause.
»Hol sie!« sagt Gottlieb, indem er sich entschlossen wendet: »Ich will, daß sie zum Essen kommen. Entweder sind sie meine Freunde und kommen, oder ich schicke sie wirklich auf die Galeere. Sag ihnen das. Ich will, daß sie zum Essen kommen.«
»Schön.«
»Und zwar sofort!«
Bereits hat der Harlekin, beflissen wie er ist, seine Zigarette ausgedrückt, hat auch schon die Klappe im marmornen Kamin geöffnet, als Gottlieb ihn an der Schulter faßt:
»Du wirst sehen, sie kommen!«
»Sicher.«
»Ohne Zögern.«
»Weil sie dich fürchten.«
»Ich werde sie fragen, du, ganz offen werde ich sie fragen, ob sie meine Freunde sind oder nicht.«
»Und sie werden sagen: Ja.«
»Mehr will ich nicht …«
»Ja«, nickt der Harlekin: »aber es ist gelogen. Darüber bist du dir klar? Sie werden lügen, was du willst, sogar schwören, nur damit sie nicht auf die Galeere kommen –«
»Lügen?«
»Das ist die Macht«, lächelt der Harlekin mit einem Zucken der Schulter, mit der Gebärde eines Händlers, der nicht mit sich markten läßt: »Sie wissen, deine Unterschrift ist tödlich, sie fürchten dich, sie hassen dich, aber sie gehorchen dir – das ist die Macht.«
Gottlieb stampft auf den Boden:
»Ich tu ihnen doch nichts!« schreit er voll Vorwurf. Der Harlekin grinst. Und Gottlieb ist dem Weinen nahe: »Sag ihnen, sie sollen mir glauben. Sag ihnen, ich wolle wirklich nur das Gute, Frieden und Freundschaft! Sie sollen mir vertrauen.«
»Leicht gesagt.«
»Ehrenwort! Ehrenwort!«
»Leicht gesagt. Sie wissen, du kannst dich daran halten oder nicht; sie wissen, du hast noch zwei solche Unterschriften –«
»Ich werde sie nie gebrauchen!«
»Leicht gesagt. –«
»Nie! Nie.«
»Und wenn sie dich dazu zwingen?«
Gottlieb hält sich an der Wand.
»Harlekin, was soll ich denn tun –«
»Schick sie auf die Galeere!«
»Meine eigenen Freunde?«
»Du hast keine Freunde mehr.«
»Keine?«
»Außer mir.«
Sagt es und entschwindet durch den Rauchfang …
Als Jenny wieder zu sich kommt, langsam die Augen öffnet, erinnernd, daß es Montag ist, und als sie Gottlieb erkennt, der noch immer nicht auf den Bus gelaufen ist, sondern vor ihr kniet, ist die erste Leistung ihres Bewußtseins, daß sie nach der genauen Zeit fragt.
»Jennylein«, flüstert er: »mach dir keine Sorgen – vor allem keine Gedanken.«
»Du bist so lieb.«
»Nur jetzt keine Gedanken …«
Sie auf das Bett legen, was natürlich das vernünftigste wäre, das kann er leider nicht; auf dem Bett befindet sich ja die Leiche des chinesischen Mandarin. Wenigstens ist der Vorhang gezogen. Jenny liegt auch in seinem Arm nicht übel; ihr Gottlieb ist ein Könner im Zärtlichen, sonst wäre sie nicht sieben Wochen bei Gottlieb verblieben, der mit seinem Lohn gerade die Forderung des Tages erfüllen kann, Miete, Pension, Altersversicherung, Zigaretten, Zahnarzt, Straßenbahn, Kino, aber nicht viel mehr. Jennylein liebt ihn aus purer Liebe, kein Zweifel, und das ist etwas Schönes. Ein Könner im Zärtlichen: auch jetzt küßt er immerzu ihre Augen, damit sie nicht sieht, wo sie sich befinden. Unterdessen erzählt Jenny, was sie Gräßliches geträumt habe: – Montag, Gottlieb in einem Frack, Gesellschaft, eine Leiche im Bett, anzusehen wie Tschau Hing, der dickste Mann der Welt – und so …
»Wie bin ich froh«, sagt Jenny: »daß alles nur ein Traum gewesen ist.«
Aber gelegentlich, obzwar Gottlieb alle verfüglichen Kosungen einsetzt, bemerkt sie natürlich doch, daß er wirklich einen Frack trägt, ein weißes steifes Hemd, Perlenknöpfe, und daß auch sie, die Jenny vom Fischmarkt, in eine Robe gehüllt ist, in ein Vermögen aus Seide, eine Robe, die ihr bisher nur in Filmen vorgekommen ist. Es ist kein Traum. Jennylein sieht es im Spiegel: eine Dame. Einen Augenblick lang, gewiß, findet sie es toll, dreht sich vor dem großen Spiegel, um mit wachsendem Entsetzen zu begreifen, daß sie das selber ist. Sie rührt sich nicht mehr.
»Eine Dame –.«
»Jennylein«, tröstet Gottlieb.
»Eine Dame –.«
Dann, und ihr Schrecken hat wiederum ein durchaus antikes Format, starrt sie auf den befrackten Gottlieb:
»Was hast du aus mir gemacht –?«
Der Harlekin ist wieder da, meldet, daß die Leutchen, wie er sie nennt, sogleich zum Essen erscheinen werden. Ferner bringt er ein Pergament, das er mit ironisch-feierlicher Pose entrollt, ein echtes Pergament voll baumelnder Siegel; die Universität, obzwar noch in keiner Weise bedroht, hat das Bedürfnis, Gottlieb Knoll zum Ehrendoktor zu machen.
»Wie komme ich dazu?« sagt Gottlieb.
»Das ist hier nicht die Frage.«
»Sondern?«
»Wie kommt die Universität dazu –.«
Gottlieb hält das Pergament, hilflos.
»Was soll ich tun?« fragt er.
»Stifte etwas.«
»Was?«
»Die Leiche«, meint der Harlekin: »Für das völkerkundliche Museum, das könnte für unsere Studenten ganz aufschlußreich sein –«
»Leiche?« fragt Jenny: »Leiche?«
Ein Blick von Gottlieb, und der Harlekin versteht. Die Dame hat sich offensichtlich noch nicht an ihren Stand gewöhnt, kommt aus kleinen Verhältnissen. Kommt Zeit, kommt Zynismus! Ein weiteres Schreiben, das der Harlekin vorzulegen hat, ist eine Huldigungsadresse der führenden Schriftsteller, ein Beitrag zum Verhältnis von Stil und Charakter; ihre Huldigung besteht darin, daß sie alles, was jetzt geschehen mag, als Befreiung bezeichnen. Gottlieb weiß wirklich nicht, was er glauben soll. Der Harlekin hält solche Huldigungen, selbst gelogene, nicht für wertlos; es sind Schecks, ausgestellt von Schwindlern, aber ausgestellt auf Kosten von hunderttausend Gläubigen, die eines Tages dafür zahlen werden. Im übrigen: Wer öffentlich lügt, den schont man nicht, auch wenn er heimlich die Wahrheit spricht … Aber davon mag Gottlieb jetzt nichts hören.
»Davon später«, sagt er knapp.
Und dann, siehe da, kommen sie wirklich, die Freunde, die Getreuen, die lieber mit Gottlieb an einem Tisch sitzen, als daß sie auf die Galeere wandern – als erster verbeugt sich Knacks, der Doktor, der es aus besseren Tagen noch weiß, wie man sich in besseren Häusern benimmt; er ist, seiner Verantwortung als Gebildeter bewußt, vorangegangen, gefolgt von den Verschüchterten. Sogar Schopf, der Bäckermeister, und auch Zapf, der Schulgenosse, auch sie versuchen sich in einer kleinen Verbeugung, nicht ohne nach dem Harlekin zu schielen.
»Nehmt Platz«, sagt Gottlieb so leutselig als möglich: »Nehmt Platz!«
Die Suppe ist natürlich kalt, man geht jetzt an den zweiten Gang, Forelle blau, sie stecken sich die Serviette in den Kragen, und der Harlekin macht bereits den Mundschenk, Johannisberger, alles wie versprochen. Gottlieb fragt:
»Wo bleibt unser Ringer?«
Schweigen.
»Meine Lieben«, sagt Gottlieb: »Ihr habt mich vorher im Stich gelassen, aber jetzt seid ihr ja wieder gekommen. Strich darunter! Ich trage nichts nach, das wißt ihr, ihr kennt euren Gottlieb. Und somit: kein Wort mehr davon! – aber wo bleibt der Ringer?«
»Er kommt nicht.«
»Kommt nicht –.«
Gottlieb wird blaß.
»Kommt nicht!« schreit er plötzlich. »Seinetwegen habe ich die verfluchte Unterschrift gegeben. Seinetwegen! – Kommt nicht … Ich habe ja Muskeln, ich lasse mir nichts befehlen! – verstehe, verstehe. Kaum habe ich ihn aus dem Gefängnis befreit – Kommt nicht!«
Und zum Harlekin sagt er:
»Auf die Galeere mit ihm.«
Natürlich springen alle empor –
»Auf die Galeere«, wiederholt Gottlieb mit ruhiger Stimme: »Dort kann er seine Muskeln zeigen.«
Der Harlekin nickt, Gläser füllend.
»Bitte«, sagt Gottlieb, »setzt euch.«
Sie setzen sich, und nachdem Gottlieb mit einem Wink bedeutet hat, daß jetzt Musik am Platze wäre, kommen auch schon, einem Ballett ähnlich, die Kellner mit den blauen Forellen.
»Hoffentlich schmeckt es euch, meine Lieben. Ich möchte, daß ihr zufrieden und fröhlich seid. Oder was habe ich euch denn zuleide getan, daß ihr einfach abhaut, wenn ich ein Bankett gebe? – Doktor, antworten Sie!«
»Ich?«
»Was habe ich Ihnen zuleide getan?«
»Und du, Zapf –?«
Alle sagen: nichts.
»Also«, lacht Gottlieb: »dann nehmt euer Glas und laßt uns anstoßen.«
Sofort nehmen alle ihr Glas, erheben sich, nur Gottlieb bleibt sitzen.
»Was denn?« lacht er: »Warum steht ihr denn schon wieder auf. Zum Teufel nochmal! So stoße ich nicht an – Stehen sie auf wie die Hofschranzen! – Sternenhageldonnerwetter, sind wir nicht zusammen in die Schule gegangen? Was soll das heißen, Zapf? Sind wir nicht mit unsern Kesselchen in die gleiche Volksküche gepilgert, haben wir nicht die gleiche Suppe gelöffelt? Ja oder Nein? Ich frage.«
»Haben wir – ja.«
»Und du, mein lieber Schopf! Wie kommt ihr mir denn vor? – Schopf, mein Alter, erinnerst du dich nicht mehr, wie du bei uns zu Haus den Sankt Niklaus gemacht hast? Mensch! und wie ich geschlottert habe, wenn du das große Buch genommen hast, das Sündenbuch. Da ist noch etwas ganz Schlimmes! hat er gesagt. Ich weiß schon, sagte ich, ich weiß schon. So sag es gleich selber! brummte er durch seinen Wattebart. Ein Erstkläßler, wollte er sagen, dürfte nicht mehr ins Bett machen. Aber dazu kam er gar nicht. Ich weiß, sagte ich mit roten Ohren, man soll den Schulmädchen nicht unter die Röcke greifen –«
Gottlieb hört sein eigenes Lachen, sonst nichts.
»Ich bitte euch wirklich, meine Lieben, setzt euch. Laßt uns anstoßen, wie wirs immer getan –«
Sie setzen sich.
»– auf unsere alte Freundschaft!«
»Ja«, sagte Schopf: »auf die alte.«
»Prost.«
Eine kurze Weile, nachdem sie getrunken haben, schwätzt Gottlieb noch weiter, Erinnerungen aus dem Quartier, Bubenstreiche; eine kurze Weile, dann unterbricht er sich selbst:
»Warum eßt ihr nichts?«
»Es stinkt nach Leiche.«
Gottlieb springt auf:
»Wer hat das gesagt?«
»Ich sage nur, was jeder riecht. Es stinkt nach Leiche«, sagt Schopf: »das bin ich nicht gewohnt.«
»Das ist nicht wahr!«
»Dann halt nicht.«
»Lach nicht!«
»Hast du selber gesagt, wir sollen lustig sein –«
»Das ist kein Witz, Schopf, das weißt du ganz genau, das ist kein Witz –«
»Sondern die Wahrheit.«
»Es gibt keine Leiche!«
»Dann halt nicht«, lacht Schopf, der Bäckermeister, und fängt zu essen an: »Um so besser, mein Freund, dann schmeckt es mir natürlich auch. Forelle blau! Wo bleibt die zerlassene Butter?«
»Noch mehr?« fragt der Kellner.
»Immerzu, mein lieber Knicks, mir schmeckt alles, wenn es nicht nach Leiche schmeckt«, sagt Schopf, indem er, den Mund voll Forelle, zu Gottlieb blickt: »Warum setzest du dich nicht?«
»Schopf –!«
»Das ist verdammt ungemütlich, weißt du, wenn der Gastgeber selber keinen Appetit hat. So eine Forelle! das erinnert mich ja geradezu an meine Hochzeit. Da bist du ja auch dabeigewesen, Gottlieb – damals, ja, wer hätte das gedacht!«
»Was?«
»Und so ein Weinchen! Wieso trinkt ihr nicht, meine Lieben? Wieso eßt ihr nicht? So einen Fraß, ich sage euch, das seht ihr kein zweites Mal –«
»Was willst du damit sagen?«
»Gottlieb ist mein Freund. Schaut ihn an! Wie er keine Rast und Ruhe hat, wie er dasteht und schaut, ob ihr alle bedient seid. Ist das ein Herzensjunge oder ist das kein Herzensjunge? Wir kennen uns seit zwanzig Jahren, haben uns nie beschwindelt, so ist das mit der Freundschaft. Nie wird ers übelnehmen, wenn ich ein offnes Wort sage!«
»Sag es!« befiehlt Gottlieb.
»Natürlich sag ich es –«
»Sag es!«
»Und ihr werdet sehen, wie er es aufnimmt! Wie nur ein Herzensjunge es aufnimmt. Und wenn er Kaiser von Europa wäre, ich sag es rundheraus: –«
»Sag es!«
»Gottlieb – sage ich – Gottlieb, deine Forelle wird kalt.«
Jetzt nach einem versichernden Blick von Gast zu Gast, lachen sie alle, platzen vor Lachen, bis Gottlieb, rot wie ein Krebs, seinen Teller auf die Tafel schmettert, daß es klirrt.
»Gesindel«, schreit er: »hinterhältiges Gesindel – Ihr, ja, ihr!… Ich werde euch das Lachen schon austreiben, verlaßt euch drauf, ihr Bande, ihr Verräter –!«
Natürlich hat keiner widersprochen, in der Tat, man hat ja nur so geplaudert. Umsonst hat Jenny versucht, ihn von der Unterschrift abzuhalten. Aber schon hat er sie gemacht: auf eine Serviette. Man soll im Jähzorn nie eine Unterschrift geben; Gottlieb weiß es, er meint es auch nur als Drohung; aber die Unterschrift ist gemacht, und er muß die Serviette nur noch in die Luft werfen, damit es sich erfüllt. So steht er da, die Serviette in der Hand, grimmig wie ein verwundetes Tier:
»Ihr glaubt, daß ich euch glaube – wo ich weiß, wie ihr lügt; wo ich es rieche – wie ihr lügt – rieche, wie ihr alle es riecht – Da!« sagt er und reißt den Vorhang auseinander: »Bitte.«
»Oh –.«
»Bitte.«
In der Tat, da sitzt nun die Leiche des chinesischen Mandarin, den die erste Unterschrift getroffen hat, ein Wicht aus lauter Fett und Falten, die Augen verschwinden fast unter den Wulsten, ein widerlicher Anblick, selbst wenn er nicht stinken würde.
»Bitte«, sagt Gottlieb mit der teuflischen Serviette in der Hand: »wer von meinen lieben Freunden und Gästen wagt zu behaupten, er habe in meinem Haus eine Leiche gesehen?«
»Keiner?« lacht Gottlieb: »Keiner?«
Kommt der Harlekin mit einem Buch, das in Rindsleder gebunden ist, eine Art von Gästebuch, das er aufschlägt und mit graziöser Würde auf den Tisch legt, höflich, nicht gebieterisch, beflissen, aber auf weltmännisch-verhaltene Weise:
»Die verehrten Freunde und Gäste werden gebeten, hier zu unterzeichnen! Daß sie nichts von einer Leiche bemerkt haben. Auch hinter den Vorhängen nichts«, erläutert der Harlekin, fügt mit lässiger Stimme auch das Allzubekannte hinzu, ordnungshalber: »Wer widerspricht, ist tot. Wer unterschreibt, ist frei.«
Schweigen.
»Herr Doktor?« sagt Gottlieb.
Knacks, der Doktor, nimmt langsam seine Füllfeder; er ist kein Träumer mehr, kennt die Historie, die Praxis, die Literatur, weiß, daß wir dem Greuel nicht mit eigner Tat begegnen können, sondern einzig und allein mit Vertrauen in die Metaphysik. Das heißt: er unterschreibt.
»Schopf?« sagt Gottlieb etwas banger.
Schopf, der Bäckermeister, hat keine Füllfeder, aber er braucht sie auch nicht; er nimmt das Buch, betrachtet es kurz, dann zerreißt er es, was nicht ohne weiteres gelingt, aber mit Wut geht es dann doch –
»Was schon«, sagt Schopf: »Du hast wohl den Verstand verloren, Gottlieb, das ist doch nicht dein Ernst. Wenn man die Leiche mit eignen Augen sieht –«
»Du willst nicht unterschreiben?«
»Das ist doch Quatsch –«
»Ja oder nein.«
»Gottlieb, wir sind doch Freunde –«
»Das eben ist die Frage!«
»Aber das heißt doch nicht, daß ich dir recht gebe, wenn du Unrecht tust –«
»Ich kann dich töten, Schopf.«
»Das tust du nicht.«
»Woher weißt du das?« schreit Gottlieb.
»Mensch! wenn man einmal mächtig ist, gewinnt man keine Freunde mehr. Das kannst du dir doch an den Fingern abzählen. Wer sich fürchtet vor dir, das ist doch eine alte Geschichte – Gottlieb, du bist auf der schiefen Ebene …«
Eine Weile hört Gottlieb sich alles an, die Serviette in der Hand, wünschend, es wäre nichts als eine Serviette. Schopf meint es nicht schlecht, das spürt auch Gottlieb; aber was hilft ihm das – jetzt, wo es schon einmal so weit ist – was hilft ihm das: Du sollst nicht, du hättest nicht dürfen! Es braucht kein Schopf zu kommen, um ihm das zu sagen.
»Schweig«, sagt Gottlieb.
»So ist es aber –.«
»Schweig«, sagt Gottlieb: »Oder du bist auf der Stelle tot.«
»Dann bist du erst recht ein Mörder –«
»Schweig! sage ich.«
Schopf schweigt, nicht ohne die andern anzublicken, achselzuckend. Auch wenn sie seinen Blick nicht erwidert haben, sondern beharrlich den Spannteppich mustern, weiß Gottlieb, daß sie einverstanden sind – er wäre es selber an ihrer Stelle – einverstanden gegen ihn, eine Verschwörung, und wenn er es duldet, daß Schopf so redet, dann werden es alle tun, alle, die ganze Stadt, die ganze Welt.
»Ich bitte dich«, sagt Gottlieb mit der überraschenden Ruhe letzter Beherrschung: »unterschreibe, daß du nichts gesehen hast.«
»Aber Gottlieb –.«
»Ich bitte dich, Schopf.«
»Fällt mir nicht ein!«
»Hörst du, ich bitte dich.«
»Idiot! –« lacht Schopf.
Und schon, Gottlieb ist nicht minder verblüfft, fliegt die Serviette in die Luft: Knall, Blitz, man kennt das bereits, und Schopf, der Bäckermeister, liegt auf dem Boden … Das war die zweite Unterschrift.
Die andern, man verarge es ihnen nicht, haben dann ohne Zögern bezeugt daß sie nichts gesehen haben, nichts von einer Leiche, obzwar es nun deren zwei sind – und einen davon, den Bäckermeister, haben sie ein Leben lang gekannt – und dann sind sie davon geschlichen, einer nach dem andern, ohne einander anzusehen, sich immerzu verbeugend, während Gottlieb, kniend vor seinem toten Freund, ihnen sprachlos nachgafft.
»Hunde!« sagt er schließlich: »So verleugnen sie ihn, unseren treuen Schopf – und meinen, daß ich ihnen traue – solchen Hunden!«
Der Harlekin lacht.
»Auf die Galeere mit ihnen!« sagt Gottlieb: »Ich will sie nicht mehr sehen –.«
Und indem er weint:
»Schopf, mein lieber guter Schopf, warum hast du mir das angetan, mein Freund, mein einziger Freund –.«
Gottlieb ist wirklich ergriffen, er schluchzt, er streicht dem Bäckermeister über die Stirne, und da dieser sich nimmer rührt, wird Gottlieb immer kindischer, bittet um Verzeihung, um Verständnis, bittet ihn, wieder aufzustehen und zu atmen … Der Harlekin hat bereits mit den Fingern geschnalzt, und schon erscheint das Ballett der Kellner, um die Leichen abzuräumen.
»Nein!« heult Gottlieb.
»Willst du warten, bis er ebenfalls stinkt?«
Sie tragen ihn weg.
»Madame sind etwas blaß«, lächelt der Harlekin: »Madame sollten sich etwas setzen –.«
Jenny starrt immerzu auf Gottlieb.
»Jennylein –?«
»Mörder«, sagt sie.
»Sag das nicht –«
»Mörder.«
»Jennylein, das ertrag ich nicht –.«
»Mörder.«
»Was soll ich denn tun?«
Ihre Antwort: sie wendet sich zum Gehen –
»Jenny! Ich habe noch eine Unterschrift«, sagt Gottlieb, und das genügt, daß sie stehenbleibt: »Du wirst mich nicht verlassen.«
Jenny schweigt.
»Liebst du mich nicht mehr?«
Sie schweigt.
»Jennylein, zwinge mich nicht zu dieser Unterschrift. Sie trifft den Menschen, den ich am meisten liebe. Zwinge mich nicht. Ich liebe dich, Jennylein, du wirst mich begleiten – auf unsrer Yacht …«
»Ich –?«
»Nicht traurig sein!« lächelt der Harlekin: »Auf der Galeere, Madame, da gibt es Tanz und Musik, Feuerwerk, und wenn sie noch so stöhnen, die Ruderknechte, da oben ist von alledem nichts zu hören. Nicht ein Laut. Wozu gibt es Musik? Und dann der Mond, Madame, der Mond über dem Wasser, überhaupt das Schöne –«
»Sie – Teufel!« sagt Jenny.
»Madame merken das erst jetzt?«
(Hier ist die Geschichte nicht zu Ende, aber das Interesse der Filmgesellschaft, der dieser Entwurf zugedacht war – weswegen ich das Ende nicht verraten möchte, bevor es mir auch abgekauft wird … Nur soviel: das Ende bleibt ebenfalls ganz märchenhaft, also positiv, und zwar spielt es eben auf dieser chinesischen Yacht, die sich auf unserem lieblichen See, das muß ich der Filmgesellschaft zugeben, etwas sonderbar ausnimmt, etwas chinesisch; aber was bleibt unserem Gottlieb anderes als das Leben auf einer solchen Yacht, die für alle andern eine Galeere ist, die Vereinsamung der Mandarine? Es bleibt ihm, wie gesagt, die dritte Unterschrift, die letzte. Eine Seele von Mensch wie ers nun einmal ist, wartet er mit dieser Unterschrift noch einen ganzen dritten Akt lang; denn niemand tötet gern den Menschen, »den er am meisten liebt«. Was ist ein Leben ohne Jenny? So sitzt er denn auf der köstlichen Galeere, spielt Schach mit seinem Harlekin, der ihn mattsetzt, Zug für Zug, sei es mit den Bauern oder mit der Dame. Gottlieb wirft das Schachbrett um, pumps! aber das ändert nichts an der wirklichen Lage, die etwa so aussieht: Die Sklaven streiken, ihr Dasein ist so elend, daß der Tod nach und nach nicht mehr ins Gewicht fällt, lieber verhungern sie, die Yacht kommt nicht mehr von der Stelle, vielleicht verhungert auch Gottlieb daran. Das ist ihre Hoffnung. Und der andere Zug, der mit der Dame: Jenny hat es heimlich mit dem Harlekin, ja, sie betrügt ihn also, und zwar nicht wenig, denn sie ist jung, und wer könnte einen Menschen lieben, den man fürchtet? Gottlieb ahnt es übrigens sehr. Man kann alles erzwingen, nur nicht Liebe. Da hilft ihm keine Zauberei; sie haßt ihn, und wie soll er auf die Dauer einen Menschen lieben können, der ihn haßt? Jenny hat auch keine Angst mehr vor seiner Unterschrift; sie ist nicht mehr der Mensch, »den er am meisten liebt«. Er versucht, die streikenden Sklaven zu überreden, Zapf vor allem, seinen früheren Schulgenossen, daß sie ihn doch endlich an ein Ufer rudern; im Augenblick, wo alle Sklaven auf Deck versammelt sind, zieht jemand den Vorhang der Kajüte auseinander: Jenny in den Armen des Harlekins – Gottlieb, und das läßt sich ja nachfühlen, greift zur letzten Unterschrift, Knall, Blitz, und am Boden liegt der Mensch, den er einzig liebt: also er selbst … Ich fände dieses Ende, wie gesagt, sehr positiv. Natürlich ist der Teufel nicht aus der Welt. Aber keiner dieser Ruderer, siehe da, gibt ihm eine Unterschrift. Das wäre das Märchenhafte daran. Im Gegenteil, sie werfen den Harlekin sogar über Bord, gehen gemeinsam an die Ruder, um das Ufer zu erreichen, und singen dazu noch einen Choral, dieweil die Fahne der Freiheit gehißt wird. Ich habe mir auch schon überlegt, wie diese Fahne in meinem Film aussehen müßte. Ich stelle mir vor: ein Mast, sonst nichts, jedes Fahnentuch ist wieder des Teufels. –)