Marion und das Gespenst
Einmal hat Marion, so wie man einen Schnupfen hat, plötzlich das alberne und hinderliche Gefühl, daß ein gewisser Andorraner ihm feindlich gesinnt sei. Nennen wir ihn Pedro. Dabei weiß Marion selber nicht, woher er dieses Gefühl eigentlich bezieht; er hat nie mit dem Menschen gesprochen. Höchstens könnte es sein, daß Marion sich einmal betroffen fühlte von einem Satz, den jener Pedro irgendwo geschrieben hat, und es ärgerte ihn, daß Pedro sich einbilden möchte, jener Satz hätte ihn zu Recht betroffen. Der Satz hieß ungefähr: Man kann auch eitel sein auf seine Bescheidenheit. Was übrigens nichts Neues ist! Dennoch verspürte Marion fortan einen Zwang, alles zu lesen, was jener Pedro, der obendrein ein emsiger Bursche ist, an Aufsätzen und Büchern in das andorranische Geistesleben warf, und es mag sein, daß unser armer Marion, der ihn von Herzen haßte, in jener Zeit sein treuester Leser war; es entging ihm kaum eine pedronische Zeile. Er las ihn mit der Ausdauer eines Gekränkten, mit der Sorgfalt eines Herzens, das nach Schadenfreude lechzt, mit einer Spannung, die ihn selbst ärgerte. Daß aber Pedro, wenn man auf der Straße an ihm vorüberging, nichts davon wußte, nicht einmal ahnte, wie Marion ihn las und an ihm litt, das machte ihn für Marion nicht liebenswerter. Im Gegenteil! Marion hätte ihm jedesmal eine herunterhauen können, allein schon wegen seiner gelassenen Art, wie er über die Straßen ging, und ein Hündchen hatte er auch noch, einen grünen Mantel mit Pelz, einen Stock. Und wie gesagt: ein Hündchen! Fast jeder Andorraner kannte ihn, und wo immer sein verhaßter Name erwähnt wurde, galt es für Marion, daß er die Würde wahrte, seine eigene, deren wir zu unserer Selbstachtung bedürfen; Marion war der letzte, der über den Namen herfallen durfte, er mußte es den andern überlassen, daß sie Mistfink sagten und anderes, was Marion auf der Zunge brannte. Marion schwieg. Nicht selten ging er sogar weiter; er wehrte sich für Pedro, und obschon man das Hündchen nicht bestreiten konnte, nahm Marion ihn in Schutz, und wäre es auch nur, damit er sich durch Anstand über ihn erhöbe. Der Genuß dieses eigenen Anstandes, der Pedro nicht vor den allgemeinen Vorwürfen retten konnte, der stille Genuß dieses eignen Edelmutes – man kann nicht sagen, daß er Marion mit seinem Widersacher versöhnte, das gerade nicht, aber es war Balsam, den man selber herstellen konnte, soviel man davon brauchte, und Marion brauchte damals sehr viel davon. Er hatte sich nun einmal in diesen Pedro verhaßt, und wie er später sehen konnte, hatte ihm dieser Haß fast alle Gedanken jener Zeit verhunzt; es kam eine Schärfe in alles, was er dachte und sagte, ein Drang nach Besserwissen, eine Bosheit, die unsere Worte immer spitzer, aber nicht überzeugender macht, ganz abgesehen davon, daß man zu gewissen Gedanken und Überzeugungen nur gelangt, weil man seinen Gegner, Pedro mit Namen, auf einem anderen Standpunkt wähnt. Es liegt in der Natur aller Polemik, daß Marion ihm stets, wenn er im stillen mit ihm haderte, den dümmeren Standpunkt überließ, jenen, den anzugreifen sein eigener Geist gerade noch genügte … An Siegen fehlte es Marion also nicht. Das Gespenst aber, denn um ein solches handelte es sich mehr und mehr, wurde er dennoch nicht los, obschon er immerfort recht behielt; es änderte nichts an dem Übel, es befreite Marion nicht von dem Zwang, weiterhin recht haben zu müssen, und das Übel, das wie ein Schnupfen begonnen hatte, wurde unabsehbar; es wurde fieberhaft. Marion gewahrte zum Beispiel, daß er bereits in gewissen Gesellschaften saß, nur weil er annehmen durfte, daß Pedro eine solche Gesellschaft nie anerkennen würde, und das bedeutete ja mit Sicherheit, daß die Gesellschaft, wenn sie darum wüßte, auch Pedro niemals anerkennen würde. Es war so eine Gesellschaft, wie es sie überall gibt; man traf sich jeden Monat zu einem Nachtessen, einem sehr andorranischen Nachtessen, nicht billig, aber vortrefflich, Marion war Gast, und das eigentlich Verbindende bestand offenbar darin, daß alle, die um den gedeckten und gesegneten Tisch saßen, sich gegenseitig schätzten. Man kannte sich zwar nicht allzu genau, Marion mußte mehr als einmal sagen, daß er nicht Rechtsanwalt, sondern Puppenspieler sei; immerhin wußte jedermann, welche Ehre es bedeutete, dieser Gesellschaft anzugehören, und man rechnete sich einfach, wenn auch in den schlichten Statuten nichts davon stand, gegenseitig zur geistigen Blüte von Andorra. Es gab sehr lustige Abende; denn es fehlte nicht an Wein, an Kirsch und Zigarren. Ob man es nun glauben will oder nicht, eines Abends, als Marion wieder seine Tischkarte suchte, linkisch wie er war, auch neugierig, zwischen welche Namen von welcher Bedeutung man ihn setzte, eines Abends also gewahrte er, daß er die Ehre hatte, linkerhand neben seinem Gespenst zu sitzen …
Marion stellte sich vor.
Pedro, der sich zum Überfluß ebenfalls vorstellte, war vollkommen unbefangen, und es lag ihm offensichtlich nicht daran, den erbitterten Streit fortzusetzen; er tat sogar, als wüßte er überhaupt nichts davon, redete über die andorranischen Wahlen, zerbröckelte Brot, betrachtete den alten Leuchter. Es behagte ihm in dieser Gesellschaft so wenig wie Marion; er sagte es rundheraus, nicht grob, nicht böse, aber deutlich, lächelnd, und Marion gab es sich selber zum erstenmal zu, wenigstens sich selber, daß er ebenso dachte wie Pedro. Überhaupt unterhielten sie sich vortrefflich. Pedro hatte zwar auch an diesem Abend sein verhaßtes Spitzbärtchen; aber er meinte es damit nicht böse, wenn man es aus der Nähe sah, nicht anmaßend. Auf dem Heimweg gingen sie sogar ein Stücklein zusammen, Marion und Pedro, der die drollige Geschichte von seinem Hündchen erzählte, das ihm in Paris einfach nachzulaufen begonnen hatte; er fand es unmöglich, daß ein Mann mit einem Hündchen durch die Straßen geht, konnte es dem fremden Hündchen aber nicht begreiflich machen, warum die Andorraner sich darüber erbitterten, und anderseits hatte er auch nicht die Nerven, das heimatlose Hündchen einfach umzubringen, nur weil es den andorranischen Geschmack nicht wittert. Sie standen unter einer späten Laterne; das Hündchen schnupperte in den Rinnsteinen, und Pedro erzählte noch andere Schnurren, die Marion weniger angingen; dennoch hörte er zu, dankbar, daß Pedro ihn endlich von dem albernen Gespenst befreit hatte –
Wer hätte es vermocht außer ihm?
Seither konnte Marion wieder lesen, ohne daß er an Pedro dachte, und er hatte es nicht mehr nötig, daß er in der Gesellschaft der Geistigen Blüte saß; neun Monate hatte das Gespenst ihn gekostet.