Zur Lyrik

Man klagt, daß unsere Poeten nicht ernst genommen werden, vor allem die lyrischen – klagt mit verhaltenem Vorwurf an die Welt, verhalten durch das bittere Pathos, daß das Schicksal, das unsere Lyrik trifft, nun einmal das Schicksal des Geistes überhaupt sei – klagt, statt daß man es in Ordnung findet.

Schicksal des Geistes?

Ein Mann, der seinen Geist verwendet, um Brücken zu bauen oder den Krebs zu bekämpfen oder Atome zu erforschen, wird durchaus ernst genommen. Er tut, was er weiß; er arbeitet mit dem Bewußtsein unsrer Welt und unsrer Zeit. Man denke sich einen Ingenieur, der genau weiß, daß es die kommunizierende Röhre gibt; aber wenn er baut, siehe da, schiebt er sein Wissen zur Seite und baut wie die alten Römer, nämlich Aquädukte – man würde ihn einsperren, mindestens entlassen … Die Poeten, wenn sie Poesie machen, die hinter ihrem und unserem Bewußtsein zurückbleibt, sperrt man nur darum nicht ein, weil der Schaden, den sie anrichten, nur sie selber trifft; sie entlassen sich sozusagen selber: indem kein Zeitgenosse, kein bewußter, sie ernst nehmen kann.

 

Im Gegensatz zur englischen und französischen Sprache, die eine moderne Lyrik haben, gibt es offensichtlich wenig deutsche Gedichte, die nicht antiquarisch sind – antiquarisch schon in ihrer Metaphorik; sie klingen oft großartig, dennoch haben sie meistens keine Sprache: keine sprachliche Durchdringung der Welt, die uns umstellt. Die Sense des Bauern, die Mühle am Bach, die Lanze, das Spinnrad, der Löwe, das sind ja nicht die Dinge, die uns umstellen. Das Banale der modernen Welt (jeder Welt) wird nicht durchstoßen, nur vermieden und ängstlich umgangen. Ihre Poesie liegt immer vor dem Banalen, nicht hinter dem Banalen. Keine Überwindung, nur Ausflucht – in eine Welt nämlich, die schon gereimt ist, und was seither in die Welt gekommen ist, was sie zu unsrer Welt macht, bleibt einfach außerhalb ihrer Metaphorik … Die Angst vor dem Banalen: man stellt Blumen auf den Tisch, um Gedichte vorzulesen, und einen Kerzenleuchter, man zieht die Vorhänge, Verdunkelung des Bewußtseins; der Dichter ist vielleicht mit dem Flugzeug gekommen, mindestens mit einem Wagen, aber die Gedichte, die er vorzulesen hat, möchten dem Geräusch eines fernen Motors nicht standhalten: nicht weil wir seine Wörter schlechter vernehmen, sondern weil wir dann allzu deutlich merken, daß er gar nicht die Welt dichtet, die uns und ihn umstellt. Wie will der mich versetzen? Oder wir stellen das Radio an; nach einem halben Satz weiß man: Poesie! denn so spricht kein Mensch, der etwas Ernstes mitzuteilen hat. Das einzige Gefühl, das sein Singsang in mir erzeugt: Der macht sich etwas vor, Ehrfurcht zum Beispiel, weil er ein paar gereimte Zeilen sieht, und dann gibt er nicht einmal zu, daß es ihn selber nicht erreicht, ja, er fühlt es offenbar selber, daß etwas nicht stimmt, drum macht er Singsang, um mein Bewußtsein einzulullen, und das Ärgerliche daran, daß er von mir verlangt, ich solle mich jetzt ebenfalls verstellen, nur damit ich mich für musisch halten darf – das alles ist nicht nötig bei einem wirklichen Gedicht: weil es der Welt, in die es gesprochen wird, standzuhalten vermag; weil es eben diese Welt, ihr nicht ausweichend, sprachlich durchdringt.

 

»Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?

Folgend den Bomberschwärmen

komm ich nach Haus.

Wo denn liegt sie? Wo die ungeheueren

Gebirge von Rauch stehen.

Das in den Feuern dort

ist sie.

 

Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl?

Vor mir kommen die Bomber. Tödliche Schwärme

melden euch meine Rückkehr. Feuersbrünste

gehen dem Sohn voraus.«

 

Einer von den wenigen, deren Gedichte in diesem Sinne standhalten, ist Brecht. Ich muß, damit dieses Gedicht mich erreicht, nicht rauschhaft sein oder müde, was so viele für Innerlichkeit halten. Es bleibt ein Gedicht, auch wenn ich es in einer Küche sage: ohne Kerzen, ohne Streichquartett und Oleander. Es geht mich etwas an. Und vor allem: Ich muß nichts vergessen, um es ernstnehmen zu können. Es setzt keine Stimmung voraus; es hat auch keine andere Stimmung zu fürchten. Das allermeiste, was sich für Poesie hält, wird zur krassen Ironie, wenn ich es nur einen einzigen Tag lang mit meinem Leben konfrontiere. Die romantische Ironie ist der Kniff, diese Ironie vorwegzunehmen, und das Eingeständnis, daß die Poesie sich vom wirklichen Lebensgefühl ablöst. Heine kann sich selber nicht trauen, obschon die Gefühle, die er singt, in hohem Grade gefühlt sein mögen; aber sie halten allem andern, was er weiß, nicht stand. Hinter der Rose, um es kraß zu sagen, steht die Syphilis. Sein Bewußtsein, das in seiner Poesie nicht enthalten ist, nötigt ihn, als erster seine Poesie zu verulken, zu zeigen, daß er sie selber nicht ernst nimmt: weil sie hinter seinem Bewußtsein zurückbleibt, seinem Bewußtsein nicht standhält. Er kommt sich doppelzüngig vor, ein Gefühl, das so vielen Poeten anstehen würde. Heine ist ehrlich, insofern wertvoll. Aber der nächste Schritt ist wohl, noch ehrlicher zu werden: nämlich nicht zu dichten, was die Vorfahren gemäß ihrem Bewußtsein zur Poesie gebracht haben, sondern wirklich zu dichten, unsere Welt zu dichten. Dann ist es auch so, daß man das Bewußtsein nicht zu fürchten hat und die Ironie nicht braucht, so wenig wie die Vorhänge, die Kerzen und Oleander: weil keine Verstellung dabei ist, keine Doppelzüngigkeit … Es bleibt sagbar:

 

»Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn

deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende

hat die furchtbare Nachricht

nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo

ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,

weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.«

 

Und später:

 

»Ich wäre auch gern weise.

In den alten Büchern steht, was weise ist:

Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit

ohne Furcht verbringen,

auch ohne Gewalt auskommen,

Böses mit Gutem zu vergelten,

seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,

gilt für weise.

Alles das kann ich nicht:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

 

In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung,

als da Hunger herrschte.

Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs,

und ich empörte mich mit ihnen.

So verging meine Zeit,

die auf Erden mir gegeben war.

 

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.

Schlafen legte ich mich unter die Mörder.

Der Liebe pflegte ich achtlos,

und die Natur sah ich ohne Geduld.

So verging meine Zeit,

die auf Erden mir gegeben war.

 

Die Straßen führten mich in den Sumpf zu meiner Zeit.

Die Sprache verriet mich dem Schlächter.

Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden

saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.

So verging meine Zeit,

die auf Erden mir gegeben war.

 

Die Kräfte waren gering. Das Ziel

lag in großer Ferne.

Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich

kaum zu erreichen.

So verging meine Zeit,

die auf Erden mir gegeben war …«

 

Wie Brecht uns dieses Gedicht vorgelesen hat: schüchtern, nicht verkrampft, er ist kein andrer als zuvor und nachher, seine Stimme ist leise, ohne Veränderung seines mundartlichen Klanges, fast lispelnd, aber deutlich und genau vor allem im Rhythmus, scheinbar ohne Betonung, sachlich, Worte zeigend, wie man Kieselsteine zeigt, Gewebe oder andere Dinge, die für sich selbst sprechen müssen; Haltung eines Mannes, der, seine Zigarre rauchend, genötigt ist, einen Text abzulesen, einfach weil nicht jedermann diesen Text in der Hand hat; ungefähr wie man einen Brief vorliest: mitteilend. Und es stört nicht, wenn es klingelt, wenn ein weiterer Besuch kommt oder wenn die Tochter, da es keinen andern Weg gibt, durchs Zimmer geht. »Ich lese«, sagt er zu dem Ankömmling: »gerade ein Gedicht; es heißt: An die Nachgeborenen.« Sagt es, damit dieser mit seinem Gespräch noch wartet, und liest weiter, mitteilend, was weiter er den Nachgeborenen sagen möchte:

 

»Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,

in der wir untergegangen sind,

gedenket,

wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,

auch der finsteren Zeit,

der ihr entronnen seid.

 

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd,

durch die Kriege der Klassen, verzweifelt,

wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:

auch der Haß gegen die Niedrigkeit

verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

macht die Stimme heiser. Ach, wir

die wir den Boden bereiten wollten für die Freundlichkeit,

konnten selber nicht freundlich sein.

 

Ihr aber, wenn es soweit sein wird,

daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,

gedenket unsrer

mit Nachsicht.«

 

Die übliche Pause, die nach Vorlesung eines Gedichtes einzutreten pflegt, da wir, sozusagen aus der Kirche tretend und plötzlich ohne Orgel, etwas geblendet in die Welt zurückkehren müssen, die halt sehr anders ist als die Poesie – diese Pause ist nicht nötig; das Gedicht, das wirkliche, hat die wirkliche Welt nicht zu scheuen; es hält stand, auch wenn es klingelt und ein unvermuteter Gast kommt, der, während wir noch den gleichen Kaffee in der Tasse haben, von seiner vierjährigen Kerkerzeit berichtet …

»Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!«

 

Nicht alle seine Gedichte haben dieses Standhaltende, dieses Jederzeit-Sagbare. Die Schwäche der andern, finde ich, ist freilich nicht das Nur-Ästhetische, aber das Nur-Ideologische, eine andere Art, nicht wirklich zu sein.

 

»Wirklich sein.«

Wirklich, würde ich sagen, ist Goethe. In den Maximen und Reflexionen genügen oft vier Zeilen. Am Ausgang steht eine Feststellung, es folgt die Geburt eines Gedankens, so zwingend und eindeutig, daß man schon auf die Knie geht, um seine Dienste anzubieten, und dann, wo unsereiner es nicht verkneifen könnte, Schlüsse zu ziehen, die jeden Zweifel überrennen, Schlüsse, die einem Kreuzzug gleichkommen, geschieht das Unerwartete, das Gegenteil einer Zuspitzung: er stellt dem Gedanken, ohne ihn zu widerrufen, eine Erfahrung gegenüber, die eher widerspricht, mindestens eindämmt, eine Erfahrung, die der gleiche Kopf, der eben jenen Gedanken geboren hat, ebenfalls gelten läßt, einfach weil es eine Erfahrung ist, eine lebendige, eine wirkliche. Das ist das scheinbar Versöhnliche seiner Reflexionen, daß sie fast immer Licht und Schatten zeigen. Scheinbar; denn sie versöhnen den Widerspruch keineswegs. Sie halten ihn nur in der Balance, in einem Zustand wechselseitiger Befruchtung, Balance zwischen Denken und Schauen. Nichts geht ins Tödliche, weil es die widersprechende Erfahrung nicht überrennt, nicht übermütig unterjocht, sondern die Kraft hat, sie aufzunehmen – die Kraft, wirklich zu bleiben, oder genauer: immer aufs neue wirklich zu werden.

Tagebuch 1946-1949
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