Kampen, August 1949
Was wir erleben können: Erwartung oder Erinnerung. Ihr Schnittpunkt, die Gegenwart, ist als solche kaum erlebbar: weswegen es selten gelingt, eine Landschaft zu beschreiben, solange man sie vor Augen hat. Zwar versuche ich es jedesmal wieder; das Ergebnis ist stets das gleiche: Krampf. Es steht auch gar kein echtes Bedürfnis dahinter. Solange ich alldies vor Augen habe, wozu soll ich es beschreiben? Jetzt ist Sehenszeit.
Ganz überspitzt: wer ein Schafott besteigt, erlebt die Angst vor dem Beil, nicht das Beil. Und wenn einer auf dem Schafott begnadigt worden ist, dürfen wir kaum annehmen, daß der Mann nichts erlebt habe. Noch kein Mensch hat seinen Tod erlebt; jeder erlebt die Todesangst, die Erwartung –
»Wir, die wir den Krieg erlebt haben –«
(Abgesehen von allem übrigen, was sich zu diesem immer wiederkehrenden Ausspruch sagen ließe, ist es komisch, wenn ein Mensch sich mit seinem Erlebnis brüstet: statt daß er uns zeigt, was das Erlebnis aus ihm gemacht hat – oder was er aus seinem Erlebnis gemacht hat.)
Verwechslung zweier Begriffe: erleben und dabei sein.
Das weitaus meiste, was Menschen erleben, liegt wohl im Bereich der Ahnung; schon der andere Bereich der Erlebbarkeit, die Erinnerung ist viel kleiner. Wäre es nicht so, gäbe es überhaupt keine Dichter, nur Reporter, und es gäbe vor allem auch keine Leser. Was tut denn der Leser, indem er ein Buch aufschlägt? Er verläßt sein Dabeisein, da es ihn nicht erfüllt; er begibt sich in den Bereich seiner Ahnung: um etwas zu erleben.