Florenz, Oktober 1947

In der Gasse, vor unserem Hotel, spielen zwei Kinder; ein fünfjähriger Bub, rachitisch, und ein Mädchen mit Spielzeugpistole: sie spielen Händehoch, wobei der Kleine, eher mürrisch und unwillig, sich an die verpißte Mauer stellen muß – nur daß er dann umfallen soll, begreift er nicht; das Mädchen macht es ihm vor – aus der Erfahrung ihres siebenjährigen Lebens.

 

In der Kammer von Savonarola: Der Mann fasziniert, das Profil, daneben das kleine Bild von seinem Scheiterhaufen, das schwarze Gericht der Rechtdenkenden, doch etwas muß man diesen Richtern schon lassen: sie sehen auch gleich der Hinrichtung zu, alles liegt örtlich und zeitlich beisammen, ein hölzerner Steg führt vom Gericht hinüber zum roten Feuer. Dabei empfinde ich etwas wie neulich auf dem Fischmarkt: alle Zusammenhänge sind offensichtlich, in einem menschlichen Maßstab übersichtlich, nicht anonym. Was es auch sei, Fischerei und Handel, Gericht und Hinrichtung, es verblaßt nicht in Begriffe; alles bleibt konkret. Wogegen wir in Begriffen leben, die wir meistens nicht überprüfen können; das Radio überzeugt mich von hundert Dingen, die ich nie sehen werde, oder wenn ich sie dann einmal sehe, kann ich sie nicht mehr sehen, weil ich ja schon eine Überzeugung habe, das heißt: eine Anschauung, ohne geschaut zu haben. Die meisten unsrer Begriffe, wenn sie konkret werden, können wir gar nicht ertragen; wir leben über unsere Kraft. Es wird mir übel, wenn vor meinen Augen ein Schwein geschlachtet wird mit blankem Messer, ich habe dann gar keine Lust auf Schinken; sonst schätze ich ihn sehr. Unser Denken muß konkret werden! Man müßte sehen, was man denkt, und es dann ertragen oder seine Gedanken ändern, damit man sie denken darf. Georg Büchner im Danton, als Danton in das Gefängnis geführt wird: Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden, blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen! Ein Motto, das heute über fast ganz Europa hängt. Und in diesem Sinne empfinde ich die Richter, die so neben dem Feuer sitzen und ihr Besserwissen lodern lassen, immerhin nicht das Letzte, was es an Menschen gibt; Wort und Tat sind eins.

 

»Marxismo – Cristianismo?«

Wenn der letztere seine zweitausend Jahre dazu verwendet hätte, auch jene seiner Satzungen ernst zu nehmen, die sich auf das Diesseits beziehen, kann ich mir nicht denken, daß der erstere eine wirkliche Bedrohung darzustellen vermöchte.

Viel Bettler auch hier.

Gar nichts übrig habe ich für jene, die sich vor die Kirchen stellen, deren Kreuzgang wir besuchen, und auf meine christliche Wallung lauern. So nicht! Ich bevorzuge die andern, die vor den Tisch kommen, wenn man im Freien ißt, stehenbleiben, bis der flinke Kellner den schwarzen Kaffee bringt und ich meine Zigarette anstecke, und sagen: »Mangiato?«

 

Die Pietà von Michelangelo. (Aus der Capella Barberini in Santa Rosalia in Palestrina.) Hier ist das Schöne zu Ende; die Last der Leiche mit den einknickenden Beinen und den hangenden Armen, das Gräßliche eines Leibes, der nur noch der Schwere gehorcht, die Angst, daß seine zufälligen Bewegungen plötzlich grotesk, puppenhaft lächerlich werden. Und dahinter die Mutter; unvollendet, Steinmasse, das ferne Erwachen einer Gestalt, ein Emporkommen aus dem Urdunkel, das noch nie ein Licht empfangen hat, ihre Zärtlichkeit hinter einem schweren Schleier von Gestein. Das Über-Schöne: Die Leichen, die sie auf Lastwagen verladen und dann in eine Kalkgrube geworfen haben, man kann sich ihrer erinnern, ohne daß man über seinem Kunstvergnügen erschrickt; auch sie sind hier enthalten. Sie sind nicht durch eine Schönbildnerei verhöhnt und verraten. Erst wenn das Gräßliche inbegriffen ist, beginnt die mögliche Erlösung, die mehr ist als eine voreilige Harmonie.

 

Eine italienische Zeitung, die Constanze mir übersetzt, berichtet folgende Daten: die Atombombe von Bikini entwickelte eine Radioaktivität, entsprechend einer Radiummenge von siebzigtausend Tonnen. Vorhandenes Radium, das bisher für Heilzwecke verwendet worden ist: hundertundfünfzehn Gramm. Genannte Radioaktivität bleibe fünfundzwanzig Jahre wirksam in der Atmosphäre. Fünfhundert Bomben, abgeworfen innerhalb von fünfundzwanzig Jahren, sollen genügen, um auf dieser Erde sämtliches Leben abzuschaffen.

 

Festa dell'uva … Sonntagabend; wir geraten in ein großes Gedränge, Straßen mit lustiger Erleuchtung, Girlanden von Glühbirnen, eine Blechmusik spielt Verdi, ringsum steht Volk, zufrieden, Trauben essend, an offenen Fenstern lehnen die Weiber, ihre Brüste zwischen verschränkten Armen, und genießen den Rummel von oben, Kinder schreien, Vollmond über San Lorenzo, überall gibt es Stände mit Trauben, bengalisch beleuchtet, Stände mit billigen Spielsachen, Stände mit Kuchen, die just gebacken werden in etwas stinkendem Fett. Ein Mann kauft eine Art von Kirschpfannkuchen, bricht ihn sorgsam, gibt seiner greisenhaften Mutter, dann der Frau und dem Kind, den Rest schiebt er sich in den Mund. Überall viel festliche Erwartung, ohne daß irgendwo eine sichtbare Erfüllung eintritt; ein Harlekin macht Späße zur Gitarre, ringsum zufriedene Gesichter. Das Volk erscheint als ein unendlich schlichtes, bescheidenes und für das Leben dankbares und unendlich hoffendes Kind, harmlos und verspielt, arglos; inbegriffen die Männer, die ihren Wein trinken und plötzlich mit Todesernst streiten, die kleinen und unsicheren Dirnen, die am Dämmerrand stehen, Verdi hören und nicht ganz wissen, wie man es meint, wenn man ihnen ins Gesicht schaut oder auf das Kruzifix am Busen. Ein Krüppel sitzt am Boden und geigt, Uniform der italienischen Luftwaffe, auch junge Burschen bleiben stehen und geben ihm. Einmal hupt ein Lastwagen, der mitten durch die Menge fahren muß; zwei schöne weiße Rinder auf ihrer Todesfahrt. Ein alter Mann verkauft Fähnlein aus Papier, das Sternenbanner, aber auch Sichel und Hammer, ferner Hampelmänner, Flugzeuge aus Blech, Affen aus Stoff. In einer Bar wird gesungen. Geruch von Latrinen. Schwatzende Mütter sitzen auf dem Randstein, Säuglinge im Arm – sie alle unendlich bescheiden, unendlich hoffend …

 

Ich skizziere viel, um zu sehen, und werfe es wieder weg. Auch vom Geschriebenen bleibt fast nichts. Eben habe ich mein Heftlein gezückt, um für alle Zeiten, die sich noch mit Europa befassen mögen, festzuhalten: Der Palazzo Vecchio, laßt euch durch die Masse nicht bluffen, ist ein elendes Pfuschwerk. Nähere Auskunft auf Anfrage; wie verlogen der Turm auf der Fassade sitzt. Was sagt wohl der große Jakob dazu? –

»Größe, Erinnerungen, Steinfarbe und phantastischer Thurmbau geben diesem Gebäude einen Werth, der den künstlerischen bei Weitem übertrifft.«

Auch schon bemerkt, auch schon gesagt.

Fiesole.

(Ich denke wieder an die Herren vom Trust, die ihren Zement nicht liefern wollen für unser Volksbad. Die Industrie, der sie sich verwaltungsrätlich verbunden fühlen, hat zur Zeit so dringende Bauten, um ihre Gewinne unterzubringen. Die Industrie, sagen sie, könne den Bau einer solchen Anlage jetzt nicht gutheißen. Wer hat gutzuheißen? Das Volk hat abgestimmt. Ihr unverfrorener Vorschlag: die Stadt könne ja ausländischen Zement beziehen, der zwar teurer ist, aber ebenfalls nur durch diesen Trust erhältlich. Die Gruben für unsere Bassins sind ausgebaggert. Ich bin neugierig auf den Entscheid.) Reste eines römischen Bassins …

 

Zum Abschied bei Michelangelo … Seine Sklaven, die unvollendeten; die Klötze, noch als solche erkennbar, sind viel knapper, als man bei den angehauenen Figuren vermuten möchte. Die Gebärden sind von vornherein in einem strengen Kubus gefaßt. Wirkliche Bildhauerei: nicht das Kneten einer Gestalt, sondern das Heraushauen, das Erlösen einer Gestalt. Es ist das Faszinierende an Michelangelos zahlreichen Fragmenten, daß sich wie selten das Schöpferische als solches darstellt. Vorgang, nicht Ergebnis. Das Geburthafte mit Qual und Wunder. Wer will? Vielleicht die Gebärenden; das Geborene: wehrlos, Opfer. Es ist der Augenblick, den er in der Sixtinischen Kapelle zum Vorwurf genommen hat: die Erweckung des Adam, und hier wie nirgends sonst begreife ich das Herkulische seiner Gestalten, es ist so, als kämpften sie um ihre Geburt oder als wehrten sie sich gegen den, der sie zur Geburt zwingen will. Auch im Adam, wie der Gottesfinger ihn erweckt, ist dieser Zwiespalt; halb staunend und dankend, halb trauernd empfängt er das Leben, das er nicht gewollt, nicht erfleht hat. Er ist Gottes Geschöpf und Gottes Opfer. In seinem erglänzenden Auge ist beides, Trotz und Demut …

Tagebuch 1946-1949
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