Zum Theater
Heute wieder einmal an einer Probe, und da ich eine Stunde zu früh war, verzog ich mich in eine Loge, wo es dunkel ist wie in einer Beichtnische. Die Bühne war offen, zum Glück, und ohne Kulissen, und das Stück, das geprobt werden sollte, kannte ich nicht. Nichts ist so anregend wie das Nichts, wenigstens zeitweise. Nur gelegentlich ging ein Arbeiter über die Bühne, ein junger Mann im braunen Overall; er schüttelt den Kopf, bleibt stehen und schimpft gegen einen andern, den ich nicht sehen kann, und es ist eine ganz alltägliche Sprache, was auf der Bühne ertönt, alles andere als Dichtung – kurz darauf erscheint eine Schauspielerin, die gerade einen Apfel ißt, während sie in Mantel und Hut über die leere Bühne geht; sie sagt dem Arbeiter guten Morgen, nichts weiter, und dann wieder die Stille, die leere Bühne, manchmal ein Poltern, wenn draußen eine Straßenbahn vorüberfährt. Die kleine Szene, die sich draußen auf der Straße tausendfach ergibt, warum wirkte sie hier so anders, so viel stärker? Die beiden Leute, wie sie eben über die Bühne gingen, hatten ein Dasein, eine Gegenwart, ein Schicksal, das ich natürlich nicht kenne, dennoch war es da, wenn auch als Geheimnis, es hatte ein Vorhandensein, das den ganzen großen Raum erfüllte. Ich muß noch bemerken, daß es ein gewöhnliches Arbeitslicht war, ein Licht wie Asche, ohne jeden Zauber, ohne sogenannte Stimmung, und die ganze Wirkung kam offenbar daher, daß es ein anderes als diese kleine Szene überhaupt nicht gab; alles andere ringsum war Nacht; ein paar Atemzüge lang gab es nur eins: einen Bühnenarbeiter, der schimpft, und eine junge Schauspielerin, die gähnt und in die Garderobe geht, zwei Menschen, die sich im Raume treffen, die gehen können und stehen, aufrecht, die eine tönende Stimme haben, und dann wieder ist alles vorbei, unbegreiflich, wie wenn ein Mensch verstorben ist, unbegreiflich, daß er gewesen ist, daß er vor unseren Augen gestanden hat, gesprochen hat, alltäglich und belanglos, dennoch erregend –
Etwas an dem kleinen Erlebnis scheint mir wesentlich, erinnert auch an die Erfahrung, wenn wir einen leeren Rahmen nehmen, und wir hängen ihn versuchsweise an eine bloße Wand, und vielleicht ist es ein Zimmer, das wir schon jahrelang bewohnen: jetzt aber, zum erstenmal, bemerken wir, wie eigentlich die Wand verputzt ist. Es ist der leere Rahmen, der uns zum Sehen zwingt. Zwar sagt uns der Verstand, daß der Putz, den ich umrahme, nicht anders erscheinen kann als auf der ganzen Wand; er ist ja nicht anders, in der Tat, nicht um ein Korn; aber er erscheint, er ist da, er spricht. Warum werden Bilder denn gerahmt? Warum wirken sie anders, wenn wir sie aus dem Rahmen lösen? Sie heben sich nicht mehr von den Zufällen der Umgebung ab; sie sind, einmal ohne Rahmen, plötzlich nicht mehr sicher; sie beruhen nicht mehr auf sich allein; man hat die Empfindung, sie fallen auseinander, und man ist etwas enttäuscht: sie scheinen schlechter, plötzlich, nämlich schlechter als sie sind. Der Rahmen, wenn er da ist, löst sie aus der Natur; er ist ein Fenster nach einem ganz anderen Raum, ein Fenster nach dem Geist, wo die Blume, die gemalte, nicht mehr eine Blume ist, welche welkt, sondern Deutung aller Blumen. Der Rahmen stellt sie außerhalb der Zeit. Insofern ist ein ungeheurer Unterschied zwischen der Fläche, die innerhalb eines Rahmens liegt, und der Fläche überhaupt, die endlos ist. Gewiß wären es üble Maler, die darauf vertrauen, daß sie es mit dem Rahmen retten können; gemeint ist nicht, daß alles, nur weil es innerhalb eines Rahmens stattfindet, die Bedeutung eines Sinnbildes bekomme; aber es bekommt, ob es will oder nicht, den Anspruch auf solche Bedeutung. Was sagt denn ein Rahmen zu uns? Er sagt: Schaue hieher; hier findest du, was anzusehen sich lohnt, was außerhalb der Zufälle und Vergängnisse steht; hier findest du den Sinn, der dauert, nicht die Blumen, die verwelken, sondern das Bild der Blumen, oder wie schon gesagt: das Sinn-Bild.
All dies gilt auch vom Rahmen der Bühne, und natürlich gäbe es noch andere Beispiele, die den erregenden Eindruck, den schon die leere Bühne macht, wenigstens streckenweise erläutern; man denke an die Schaufenster, die ganze Lager zeigen, Schaufenster, die uns niemals fesseln, und an die anderen, die sich auf ein bescheidenes Guckloch beschränken: eine einzige Uhr liegt da, ein einziges Armband, eine einzige Krawatte. Und das Seltene erscheint uns schon von vornherein wertvoll. Es gibt solche Fensterlein, die manchmal wie kleine Bühnen sind, man steht gerne davor, guckt in eine andere Welt, die mindestens den Anschein von Wert hat. Und das Verwandte zur wirklichen Bühne läge darin: auch auf der Bühne sehe ich nicht Tausende von Narren, sondern einen, den ich noch lieben kann, nicht Tausende von Liebenden, deren Liebe, ins Gattungshafte wiederholt, widerlich wird, sondern zwei oder drei, deren Schwüre wir ernstnehmen können wie unsere eigenen. Es lohnt sich hinzuschauen. Ich sehe Personen; ich sehe nicht Millionen von Arbeitern, wobei ich dann keinen einzigen mehr sehe, leider Gottes, sondern ich sehe diesen einzigen, der die Millionen vertritt und einzig wirklich ist: ich sehe einen Bühnenarbeiter, der schimpft, und eine junge Schauspielerin, die einen Apfel ißt und guten Morgen sagt. Ich sehe, was ich sonst nicht sehe: zwei Menschen.