Rezensionen

Goethe gibt den Rat, man solle einem Rezensenten niemals antworten, es sei denn, er behaupte in seiner Rezension, man habe zwölf silberne Löffel gestohlen – doch so weit gehen unsere Rezensenten kaum … Es bleibt also wirklich nur eins: schweigen und weitermachen, solange man Lust dazu hat, sein eigener Kritiker werden, keine silbernen Löffel stehlen und basta! – und dankbar sein, wenn eine Rezension, ob lobend oder tadelnd, ernsthaft ist, anständig, indem sie nicht annimmt, daß der Verfasser selber keine Bedenken und Einwände habe gegen sein Werk; solche Rezensionen gibt es ja auch, sogar mehr als unser Gefühl zugibt; ein Mensch, der uns bei Tisch etwa das Salz gibt, zählt ja nicht weniger als jener, der uns in die Suppe spuckt, aber der letztere beschäftigt uns länger, und leider weiß er das, auch wenn man ihm nicht antwortet.

 

Nichts leichter als das: man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beißt man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, daß es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!

 

Meistens ist es wohl so, daß das Unbehagen, das unsere Rezensenten befällt, irgendwo berechtigt ist. Aber wo genau? Vielen, scheint es, genügt die erste beste Deutung, die ihnen angesichts ihres Unbehagens einfällt, in ihrem berechtigten Unbehagen scheint ihnen alles berechtigt, was in die Feder fließt, und je menschlicher ein Unbehagen ist, je tiefer es im Persönlichen wurzelt, um so größer ist die Gier nach artistischen Mängeln, um so wahlloser auch; man spürt, wie froh sie darum sind, daß der dritte Akt mißraten ist – ich hätte ihnen einen größeren Gefallen nicht tun können.

 

Es ist schwierig, ein Rezensent zu sein; über die fachlichen Schwierigkeiten hinaus, die zu jeder Arbeit gehören und nicht besonders anzuführen sind, meine ich vor allem die menschlichen. Rezensionen, die ich als Student geschrieben habe, kann ich heute nicht ansehen, ohne zu erröten, wobei es weniger Unkenntnis ist, was beschämt, sondern der Ton ganz allgemein, der sich für witzig hält, eine Mischung von Dreistheit und Herablassung, und dabei, weiß ich, war ich voll Minderwertigkeitsangst. Das Rezensieren war für mich eine Notwendigkeit, eine Labsal, aber nur für mich. Sicher gibt es Seelen, die am Unvollendeten leiden, ehrlich leiden, rasend werden und nicht umhin können, auf den Tisch zu hauen und grob zu werden, daß die Wände wackeln. Dagegen ist nichts zu sagen. Die meisten aber, die allermeisten werden nicht rasend, sondern hämisch, witzig, dreist, herablassend. Hämisch im Falle des Tadels; brüderlich im Falle des Lobes, und das ist das andere, was mich an jenen studentischen Rezensionen verstimmt: die Anbiederung. Nichts ist schwieriger als Loben. Schon die Wörter werden bald allgemein, so, daß sich ganz Verschiedenes, sogar Gegensätzliches damit beloben ließe. Es muß keine Mißgunst sein, keine Miesmacherei, wenn der Kritiker sich scheut, Lobesworte zu schreiben; das Lob, das ernsthafte, kann in der Tat fast nur mittelbar gesagt werden, beispielsweise durch die Namen, die zum Vergleich herangezogen werden, insbesondere durch die Höhenlage der kritischen Auseinandersetzung. Das unmittelbare Lob hat wenig Überzeugungskraft, und wenn jemand noch so inbrünstig sagt: Das ist das beste Gedicht! sagt er nichts über das Gedicht, und man fragt sich dann: Woher hat der wohl das Schwert, womit man jemand zum Ritter schlägt? und man wird den Eindruck einer fuchtelnden Selbstüberschätzung nicht ganz los, gerade wenn einer lobt. Vor allem aber, wenn ich nach Jahren auf eigene Rezensionen stoße, merke ich fast ohne Ausnahme, daß ich stets mich selber gelobt habe, gelobt, was eigenen Bestrebungen entgegenkommt und sie durch Gelingen heiligt, das ist es, was ich (und nicht selten auf Grund eines flinken Mißverständnisses) durch Lobesworte unterstrichen habe …

Es ist schwierig, ein Rezensent zu sein.

 

Es gibt viele Kenner, vortreffliche Kenner, doch wenig Leute, die von ihrem Dasein erfüllt sind, und vielleicht hätten diese allein die kostbare Gabe der Kritik. Nicht daß sie es selber besser machten! das ist eine kindische Forderung. Kritik ist ein Vermögen für sich. Aber die Erfüllten, gleichviel wo sie ihre eigene Erfüllung gefunden haben, sind nicht genötigt, sich gegen alles Geschaffene, das ihnen in ihrer Zeit begegnet, aus Notwehr zu behaupten.

 

Kritik am Artistischen, glaube ich, ist meistens eine Ausrede. Es gibt ganz wenige, deren Unbehagen wirklich aus dem Artistischen kommt. Es zeigt sich schon daran, daß die gleichen Leute, wenn unsere Aussage eine angenehme, eine harmlose oder gar schmeichelhafte ist, dem gleichen Verfasser gegenüber kaum ein Bedürfnis haben, das Artistische zu erörtern. Das Stück, dessen Aussage ihnen genehm ist, bezeichnen sie stets als das bessere, das weitaus bessere.

 

Man müßte, um das Unbequeme sagen zu können, ein vollendeter Artist sein – damit sie für ihren Zorn keinen Ausweg haben.

 

Kritik am Artistischen.

Jemand sagt mir, daß ich an meinem Nachbarn ein arges Unrecht begangen habe, und ich sage: Herr, Sie haben ja eine Zahnlücke! und wenn er keine Zahnlücke hat, finde ich vielleicht, um den Unbequemen nicht anhören zu müssen, einen offenen Hosenknopf. Herr, sage ich, Sie haben ja einen offenen Hosenknopf. Und wenn er den offenen Hosenknopf geschlossen hat? Dann sage ich: Herr, ich glaube, Sie stinken nach Tabak, und das vertrage ich nicht, mir ist ganz übel. Und wenn er eines Tages wiederkommt und er stinkt nicht mehr nach Tabak, denn vielleicht hat er überhaupt nicht gestunken, und er fährt fort, mein Unrecht zu schildern? Dann sage ich: Herr, Sie reden ja immer das gleiche, das ist langweilig, das wissen wir nun nachgerade …

 

Lob und Tadel –

Mit einem Lob, das uns verfehlt oder gar läppisch erscheint, müssen wir uns nicht auseinandersetzen; darüber kann man rasch hinweggehen, und man tut es auch. Über einen Tadel hinweggehen, weil er uns verfehlt oder gar läppisch erscheint, das ist nicht so einfach, das hat stets etwas Verdächtiges. Der Tadel bleibt kleben.

 

Unter Umständen müßte es heißen: Was der Soundso erstrebt, halte ich für einen argen Irrtum, jedoch verwirklicht er sein Streben in hohem Maß. Statt dessen heißt es: Der Soundso ist nicht imstande, ein wirkliches Stück zu schreiben. Ein wirkliches Stück, das ist ein Stück, wie der Kritiker es für erstrebenswert hält. Rezensionen dieses Musters, und es gibt davon nicht wenige, sind nicht böse, aber unergiebig.

 

Ein Schauspieler gibt den Romeo, und eine Rezensentin, die der liebe Gott nun einmal als Lesbierin gewollt hat, schreibt darüber in der Zeitung. Sie kann schreiben: Zum Romeo des Herrn Sternenhagel finde ich keine Beziehung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sie schreibt aber nicht so, sondern unpersönlicher, unbedingter: Dem Romeo hingegen (hingegen) fehlt jede männliche Ausstrahlung –.

Will sagen: Es ist das heilige Recht jedes Rezensenten, seine Empfindungen auszudrücken. Unser Recht ist es, sie nur als die seinen anzuerkennen – was übrigens alles andere als ein Trost ist! In gewissen Augenblicken, nicht in selbstgewissen, aber in mutigen oder verzweifelten Augenblicken sehnte man sich danach, sich einem unbedingten Maßstab unterziehen zu können.

 

Kritik der Schaffenden? Die Schaffenden, denke ich, sind besonders befangen, aber ihr Urteil hat einen kostbaren Vorzug: wir kennen die Art ihrer besonderen Befangenheit, ausgedrückt in ihrem Werk, und vor allem hat ihr Urteil immer etwas Geschwisterliches. Es drängt uns niemals in den Sumpf der Selbstgerechtigkeit, was den Rezensenten so leicht gelingt.

 

Goethe sagt, man solle nicht antworten, er sagt nicht, man solle nicht hinhören. Vielleicht ist es nötig, daß man sich zwei oder drei Wochen lang in Ärger badet, und wäre es auch nur zum Zweck, wieder einmal zu erfahren, wie es mit unsrer Abgeklärtheit steht. Die Kritik, die hilft, kommt von vier oder fünf Menschen; darunter sind Nächste und ganz Ferne, Unbekannte, die keine Ahnung haben, wie förderlich sie gewesen sind. Ähnlich wie die Kritik der Schaffenden, finde ich, ist die Kritik kluger, unliterarischer Frauen; persönlich, entschieden, geschwisterlich. Die Kritik, die hilft: sie hilft, keine Zeit zu verlieren, sie beschleunigt die Selbstkritik, die einzige, die für das Weitere anwendbar ist.

Tagebuch 1946-1949
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