Nach einem Flug
Ein Flug über die Alpen, der nach einem anfänglichen Kitzel eine gewisse Leere hinterließ, beschäftigt mich doch immer wieder. Es sind vierzehn Jahre seit dem letzten Flug, der damals vom Bosporus nach Griechenland führte. Die Erinnerung von damals, verschüttet von den eignen Erzählungen, die man wie eine Platte immer wieder vorspielte, bis man sich nur noch an die eignen Worte, aber nicht mehr an das Erlebnis erinnerte, erfaßte mich als erstes, kaum sind wir in der Luft; das Dröhnen der Motoren, das fast zur Stille wird und uns von allem Erblickten sonderbar trennt, dazu der lautlose Flügel, der über die Äcker und die Dächer schwankt, hin und wieder ein kleines Luftloch, das genügt: man könnte, während wir gerade über die allernächste Heimat fliegen, vom Schwarzen Meer erzählen wie zum erstenmal, von den Dardanellen, von Troja, von der Stunde über dem küstenlosen Meer; hinter der anekdotischen Erstarrung, der fast alle unsere Erinnerungen verfallen, ist alles noch da …
Die weißen Segelchen erscheinen wie auf eine Glasscheibe gesetzt, das Wasser nicht als tragende Masse, die Durchsicht in die grüne Seichte, überhaupt das Röntgenhafte dieser Aufsicht – ich erinnere mich an ein versenktes Kriegsschiff, das wir damals in den Dardanellen unter Wasser sahen; – hier ist es vor allem die Nagelfluhkante, die man deutlich verfolgen kann, jener jähe Absturz, der schon so manchem Nichtschwimmer zum plötzlichen Verhängnis wurde; fast komisch wirken die säuberlichen Gärtlein, deren Insassen sich an einer lauteren Wasserhelle wähnen; aus der Höhe zeigt sich, daß wir an einer traumhaft-trüben Wildnis von Schlamm und Schlingzeug wohnen, harmlos und ahnungslos wie unserem Unbewußten gegenüber. Das Röntgenhafte auch auf dem Land: die ockerbleiche oder schwarze Zeichnung in den Äckern, die wie eine Geheimschrift zum Vorschein kommt. Teilweise sind es alte Bachläufe, die ohne weiteres sich lesen lassen; anderes bleibt rätselhaft. In England, höre ich von einem Kollegen, hat man verschüttete Ursiedlungen entdeckt, die sich in der Magerkeit der Wiesen oder Wälder verrieten; gewissermaßen wie ein geometrisches Wasserzeichen.
Das einzige, was mich für Augenblicke erschreckt, ist das fast unverschämte Gefühl von Sicherheit, das sich auch bei leichtem Sacken nicht verliert, im Gegenteil; die Luft als spürbarer Stoff; das natürlich-sichere Gefühl eines Schwimmers; es geht bis zum Bedauern, daß man in dieser Kajüte hocken muß, daß man nicht an einem Leiterchen auf den breiten Flügel hinausgehen kann. Man sieht das saubere Muster seiner Nieten. Ein regloses Rohr, das vermutlich als Auspuff dient, die blechernen Laschen, die frische Luft fangen, alles ist so, wie man es im Hangar sehen kann; ohne Bezug auf den Augenblick und auf den Ort, wo es sich befindet; es erfüllt eine errechnete Pflicht, ob es im Windkanal oder über dem Titlis ist; ich sage mir selber: Das ist doch selbstverständlich. Was soll dieses geschwungene Blech schon machen? Dennoch blicke ich immer wieder darauf; die Ruhe des Gegenstandes hat etwas Aufreizendes. Der Gedanke, im Fallschirm abzuspringen, ergibt sich ohne jeden Aufwand an Mut; so gänzlich ist man schon aus dem menschlichen Maßstab gelöst –
Es ist herrlich!
Aber etwas bleibt luziferisch.
Über einem Städtchen, das wie unsere architektonischen Modelle anzusehen ist, entdecke ich unwillkürlich, daß ich durchaus imstande wäre, Bomben abzuwerfen. Es braucht nicht einmal eine vaterländische Wut, nicht einmal eine jahrelange Verhetzung; es genügt ein Bahnhöflein, eine Fabrik mit vielen Schloten, ein Dampferchen am Steg; es juckt einen, eine Reihe von schwarzen und braunen Fontänen hineinzustreuen, und schon ist man weg; man sieht, wie sich das Dampferchen zur Seite legt, die Straße ist wie ein Ameisenhaufen, wenn man mit einem Zweiglein hineinsticht, und vielleicht sieht man auch noch die Schlote, wie sie gerade ins Knie brechen und in eine Staubwolke versinken; man sieht kein Blut, hört kein Röcheln, alles ganz sauber, alles aus einem ganz unmenschlichen Abstand, fast lustig. Nicht ohne eigene Gefahr; das meine ich nicht, daß es harmlos sei; ich denke auch die weißen Wölkchen, die jetzt ringsum aufplatzen, eine Staffel von Jägern, die hinter uns auftauchen und größer werden mit jedem Atemzug, lautlos, dann das erste Splittern in einer Scheibe, ein Gejaul wie in den Scheibenständen, verfolgt von einem verspäteten und verwehten Geratter. Das alles inbegriffen! Ich meine nur den Unterschied, der darin besteht, ob ich Bomben streue auf ein solches Modell, das da unter den jagenden Wolken liegt, halb rührend, halb langweilig und kleinlich, oder ob ich ebenfalls dort unten stehe, mein Sackmesser öffne und auf einen Menschen zugehe, einen einzigen, dessen Gesicht ich sehen werde, beispielsweise auf einen Mann, der gerade Mist verzettelt, oder auf eine Frau, die strickt, oder auf ein Kind, das barfuß in einem Tümpel steht und heult, weil sein papiernes Schifflein nicht mehr schwimmt. Das letztere kann ich mir nicht zutrauen. Beim ersteren, das ist der Unterschied, bin ich durchaus nicht sicher.
Im Egmont gibt es eine Stelle, wo die biederen Bürger über ihren Helden und Liebling sprechen, der sie eben auf der Straße verlassen hat.
»Ein schöner Herr!«
Und unwillkürlich sagt einer:
»Sein Hals wäre ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter –.«
»Bist du toll? was kommt dir ein?«
»Dumm genug«, murmelt er: »daß einem so etwas einfällt. Es ist mir nun so. Wenn die Burschen schwimmen, und ich seh einen nackten Buckel, gleich fallen sie mir zu Dutzenden ein, die ich habe mit Ruten streichen sehn. Die verfluchten Exekutionen! man kriegt sie nicht aus dem Sinn.«
Das verlorene Raumgefühl in der Kurve: man empfindet sich, da die Schwerkraft uns gewissermaßen an die Schwungkraft verliert, immerfort in der gleichen Lage, und scheinbar ist es die Erde, die auf der Waage schaukelt, die zur Linken plötzlich versinkt, während das andere Fenster voll Wald ist, voll See –
Wir kreisen irgendwo.
Zum Bewußtsein kommt, wie gering eigentlich die Zone ist, die den Menschen ernährt und gestaltet; schon kommen die letzten Matten, schon beginnt die Vereisung. Zweitausend oder dreitausend Meter genügen, und unsere Weltgeschichte ist aus. Gewisse Kessel, die wir sehen, könnten auch auf dem Mond sein. Die vielleicht einzig vorkommende Gunst von Umständen, die irgendwo im Weltall ein menschliches Geschlecht ermöglicht hat, liegt als ein ganz dünner Hauch in den Mulden, und es genügt die geringste Schwankung der Umstände; eine Vermehrung des Wassers, eine Verdünnung der Luft, eine Veränderung der Wärme. Unser Spielraum ist nicht groß. Wir nisten in einem Zufall, dessen empfindliche Zuspitzung, wenn sie uns manchmal zum Bewußtsein kommt, beklemmend wird, zugleich begeisternd. Die Menschheit als Witz oder als Wunder; die paar Jahrtausende, die sie haben mag, sind nichts gegenüber der Unzeit, die sie umgibt, und dennoch mehr als diese Unzeit. Was es heißt, diesem Augenblick anzugehören –.
Wir sind eine Gruppe von Malern und Schriftstellern; jeder darf einmal in die Laterne, wo der Pilot sitzt. Einmal fliegen wir ganz nahe an den Gipfel des Finsteraarhornes. Die Entfernung zwischen dem Felsen und unserem Flügel, sagt der Pilot, habe keine dreißig Meter betragen. Jedenfalls wird das Gestein wieder greifbar. Die plötzliche Lust zum Klettern, überhaupt die Gier, den Dingen wieder näherzukommen. Nicht aus Angst vor dem Schweben; wir fühlen uns ja, wie gesagt, unverschämt sicher in unserem Polster, und der Gedanke, dort drüben auf dem schwärzlichen Grat zu stehen, gibt erst wieder ein Gefühl von Gefahr, aber auch von Wirklichkeit. Es geht gegen sieben Uhr abends, eine Stunde, wo ich noch nie auf einem solchen Gipfel war; es ist wunderbar für das Auge, aber vermischt mit der Unruhe eines verspäteten Klettrers; die Täler im Schatten, violett, die letzte Sonne auf einer Gwächte, grünlich durchschimmert; erst durch den unwillkürlichen Kniff, daß man sich in die Lage eines Klettrers versetzt, wird alles wieder ernsthaft und erlebbar, wirklich und schrecklich. Überhaupt sind die Augenblicke, wenn plötzlich ein Grat oder ein Firn zu uns emporkommt, durchaus stärker als die Viertelstunden, da man einfach schwebt; plötzlich sieht man die Körnung im Schnee, die bekannten Spuren von kleinen Rutschen und von Steinschlag; man ist froh darum, jedesmal, wie um ein Erwachen. Leider zwingen die Wolken, daß wir uns wieder aus dem Aletschkessel heben; Jungfrau und Eiger rauchen wie Vulkane, über dem Lötschtal ballt sich ein kommendes Gewitter –
»Das ist der Märjelensee!«
»Die Sphinx!«
»Der Staubbach –.«
»Die Grimselmauer –.«
Auch unser fast schülerhaftes Bedürfnis, sich immerfort die Namen aufzusagen, deute ich mir als ein Bedürfnis, das zerrissene Verhältnis wieder herzustellen, zurückzukehren in einen erlebbaren Maßstab. Jeder Name bedeutet: Das ist wirklich, da bin ich schon einmal gewesen, das gibt es, diesen Firn habe ich einmal erlebt, er ist sechs Stunden lang. Warum rufen sie uns plötzlich ans andere Fenster? Warum der Lärm?
»Eine Spur! Dort über der langen Spalte!«
»Wo?«
»Natürlich ist das eine menschliche Spur!«
Es erregt sie wie einst den Robinson.
Was nochmals die Bomben betrifft: –
Ohne die Entbindung aus dem erlebbaren Verhältnis, die uns die Technik in zahllosen Spielarten ermöglicht, wäre es vermutlich, ohne daß die Leute besser sein müßten, nicht so leicht, Heere von solcher Größe aufzustellen, gehorsam und jederzeit marschbereit. Nicht alle von uns eignen sich zum Schlächter, aber fast alle zum Soldaten, der an der Kanone steht, auf die Uhr schaut und die Leine abzieht. Es ist sonderbar, daß die räumliche Entfernung, die man in Metern messen kann, eine solche Bedeutung haben soll; daß unsere Vorstellung nicht stärker ist. Vielleicht ist sie es für Augenblicke, aber nicht auf die Dauer. Daß wir die Menschen, die wir nicht mit dem Auge und dem Gehör und den anderen sinnlichen Antennen erfassen, bald nicht mehr ernstnehmen können, zeigt sich ja auch sonst; das bekannte Erlöschen unsrer Briefwechsel, wenn eine Wiederbegegnung unwahrscheinlich wird; eine Weile zwingt uns noch der Anstand, der Stolz, der Wille zur Würde, die hehre Meinung, daß wenigstens unser Geist und unser Herz keiner räumlichen Schranke unterworfen seien. Es stimmt mindestens nicht für das Herz. Natürlich reicht es über unsere Sinne hinaus, aber nicht unbeschränkt; es reicht nicht um die Erde; wir sprechen von Zeiten des Friedens, wenn der Krieg in China ist. Es ist ganz offenbar, daß das menschliche Erleben, auch wenn wir uns außermenschliche Leistungen entlehnen können, mehr oder minder an den Bereich gebunden bleibt, den wir mit eignen Kräften bewältigen können. Oder mit den Kräften eines anderen natürlichen Körpers; beispielsweise eines Pferdes. Auch das Segeln bleibt noch im erlebbaren Verhältnis; der Wind ist eine außermenschliche Kraft, die wir aber nicht selber entfesseln, und gehört zu unsrer natürlichen Umwelt, die unsere körperliche Eigenschaft bildet: im Gegensatz zu den Kräften, die wir aus schweigenden Naturstoffen umsetzen, speichern und nach unsrer Willkür entfesseln. Sie erst bringen uns in Lagen und in ein Tempo, das die Natur uns nicht zudachte, und wenigstens bisher sehen wir kein Anzeichen, daß unsere Natur sich wesentlich anpaßt; die bekannte Leere bei unseren Ankünften; weil unser Erleben, wenn ein gewisses Tempo überschritten wird, nicht mehr folgen kann; es wird dünn und dünner. Zwar nennen wir es noch lange Erlebnis, wo es bloß noch Kitzel ist, ein Abenteuer der Leere, ein Rausch, sich selber aufzuheben, eine Art von Wollust, daß man sich so weit verdünnen kann, bis man ohne jedes Erlebnis durch einen ganzen Erdteil kommt. Genau vor hundert Jahren fuhr die erste Eisenbahn in unserem Land; dreißig Kilometer in der Stunde. Es ist klar, daß es dabei nicht bleiben konnte. Das Kennzeichen dafür, daß wir unser Tempo überschritten haben, ist das Ungenügen, das wir jedesmal empfinden, wenn ein andrer Wagen uns vorfährt; zwar fahren wir selber schon so, daß mein Erlebnis nicht mehr folgt; in der Hoffnung aber, das verlorene Erlebnis einzuholen, geben wir nochmals Gas. Es ist das luziferische Versprechen, das uns immer weiter in die Leere lockt. Auch der Düsenjäger wird unser Herz nicht einholen. Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Maßstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können. Daß er verloren ist, steht außer Frage; es fragt sich nur, ob wir ihn noch einmal gewinnen können und wie?
Am meisten, wenn ich an unseren Flug denke, bleibt mir eigentlich die letzte halbe Stunde, das Durchfliegen der Gewölke. Plötzlich ist man in einer grauen Blindnis. Der Flügel ist noch da, alles wie zuvor, auch der runde Motor mit den blechernen Laschen, die libellenhafte Scheibe unseres linken Propellers. Nebel schlägt sich nieder; das Muster der Nieten überzieht sich mit wandernden Tropfen; aber die Nieten bleiben. Daß wir uns bewegen, läßt sich denken und behaupten, aber nicht zeigen. Es ticken die Uhren. Die zitternden Zeiger für Brennstoff, die Meßnadeln für alles Wissenswerte. Manchmal geht es ein Stockwerk hinunter, aber ganz weich, dann wieder wie auf einer Schaukel empor. Unerschütterlich bleibt das Gefühl der Sicherheit. Der junge Pilot, die Hand am dünnen Rad, fängt den Wind mit den seitlichen Klappen, die er hebt oder senkt; er raucht; wir sind jedenfalls höher als die Gipfel, man plaudert über dies und das, und unversehens sind wir wieder in der Sonne. Ringsum ein Gebirge von glühendem Gewölk. Man sieht nicht mehr auf die Erde. Graue und blaue Strahlen brechen durch ein Gebräu, das an den ersten Schöpfungstag denken läßt. Sagenhaft türmt sich ein sommerliches Gewitter in der letzten Abendsonne, die es von unten bescheint; Ballen von Gips oder Elfenbein; die Ränder aber zerschmelzen in gleißendes Silber. Über uns der makellose Himmel; im Osten hat er schon die kühle Dämmerblässe. Wir fliegen über Wolken, die den violetten Schatten andrer Wolken tragen; es ist, als brodle der Raum, und das Licht, unwahrscheinlich wie das Licht der Offenbarung, stürzt von Grotte zu Grotte. Man sieht Schatten, die sich nirgends niederschlagen; sie hangen wie seidene Soffitten; nur einmal, ganz flüchtig, sehe ich hinunter in ein verdämmerndes Tal; die letzte Spiegelhelle in einem schlängelnden Fluß. Dann sind wir über die Wolken hinaus, ganz und gar, und der Raum, der eben noch ein Gewucher von Geheimnissen war, wird zum All. Er wird mehr als ein Geheimnis; er wird unvorstellbar. Irgendwo hangt ein Gestirn, das glüht, und anderswo hangt der Mond, blasser, aber beide nicht anders als sonst; anders empfinden wir nur die Erde, die unsichtbare, die unter den verlöschenden und aschenhaften Wolken ist: auch sie hangt; auch sie steigt in unser Bewußtsein als ein rollender Ball, der ins Leere stürzt immerzu, ohne aufzuschlagen, ein Gestirn unter Milliarden, ein langsam erkaltendes –.