Entwurf eines Briefes

Sie schreiben mir als Deutscher, als junger Obergefreiter, der vor Stalingrad war, und Sie schreiben sehr höhnisch; es empört Sie, daß ein Ausländer, ein verschonter, vom Tod schreibt.

Was kann ich Ihnen antworten?

Sie haben nämlich recht, ich habe nie gesehen, wie ein Soldat fällt, und es fehlte denn auch, wie Sie aus dem kleinen Vorwort wissen, nicht an eigenen Bedenken, ob uns eine Aussage überhaupt anstehe. Als kleiner Bub mußte ich meiner Großmutter eine Nelke in den offenen Sarg legen, es war mir widerlich, und schon größeren Eindruck machte mir ein sterbendes Pferd, das einmal vor unserem Hause lag; später dann, als ich Ihres Alters war, stand ich vor dem verzinkten Sarg einer jungen Frau, die ich liebte, übrigens war es eine Deutsche, und die Erinnerung an sie, der ich so viel verdanke, hat mich oft gesondert, wenn man die Deutschen haßt. Das alles und vieles andere, ich gebe es zu, war nur ein Anblick des Todes, oder wie Sie sehr spöttisch sagen, ein bloßes Schauspiel. Ich frage mich, was es ändern würde, wenn ich sehen könnte, wie ein Soldat fällt; für mich, der ich ihn überlebe, wäre es wiederum nur ein Anblick, und ich hätte, wie Sie mir beweisen, abermals nichts erlebt. Einmal stand ich vor einem Kinderbett und vor einem ganz kleinen Kind, das über Nacht erstickt war, und draußen war es ein herrlicher Morgen, während ich die junge Mutter halten mußte, die immer wieder versuchte, ob sich die bläulichen Ärmchen nicht wecken lassen. Oder wir standen an einem friedlichen Bahnhof, schöpften Tee und gaben ihn den Skeletten, die damals gerade aus deutschen Lagern kamen; man konnte darauf warten, daß ihnen der laue Tee, den sie nicht mehr halten konnten, sofort wieder zum After hinauslief, und es ließe sich noch vieles erzählen, was ich für ein Erlebnis hielt. Doch es änderte nichts daran, daß Sie irgendwie recht haben. Es gibt noch eine andere Seite des Todes, eine ungewöhnliche, die nur der Krieg zeigt: ich habe noch niemals schießen müssen, und vielleicht liegt darin das Entscheidende, was Sie erlebt haben, was Sie anders erlebt haben –

Warum sprechen Sie nicht davon?

»Die einzigen, die uns raten und helfen können, werden letzten Endes nur wir selber sein. Die Erfahrungen haben uns gelehrt. Ich glaube, daß wir, die diese Erlebnisse hinter uns haben, eher dem Ausland helfen können als umgekehrt, ausgenommen vielleicht in materieller Hinsicht.«

Dennoch bitten Sie um eine Antwort, und je öfter ich Ihren leidenschaftlichen Brief lese, der mich bald eine Woche beschäftigt, um so ratloser bin ich; das alles haben Sie in bitterer Kälte geschrieben, hungrig, und ich sitze in einer kleinen warmen Dachstube; Sie sind für mich der junge Deutsche, und ich bin für Sie das bekannte Ausland, und Sie antworten auf Vorwürfe, die ich nicht erhoben habe:

»Es ist nicht wahr, daß das deutsche Volk all diese abscheulichen Dinge kannte, wie das Ausland meint, wohl hat mancher Vereinzelte um solche Erschießungen gewußt oder sie als Soldat selber mitgemacht, aber alle seine Kameraden, alle seine Freunde, seine Eltern und Bekannten wußten nichts davon und waren fürchterlich entsetzt, wenn ihnen davon berichtet wurde; nur die wenigsten schenkten solchen Berichten überhaupt Glauben –.«

Wenn Sie solche Sätze wiederlesen, haben Sie nicht selber den Eindruck, daß Sie im Kreise herumschlagen, daß Sie sich immerzu wehren und nicht wissen, wogegen Sie sich eigentlich wehren, und daß es wahrscheinlich genügen würde, wenn Sie selber es wüßten. Was Sie zuvor über Rat und Hilfe sagten, glaube ich auch, wenigstens zum Teil; das Stück (»Nun singen sie wieder«) ist nicht aus der vermessenen Absicht entstanden, dem deutschen Volk zu raten, sondern einfach aus dem Bedürfnis, eine eigene Bedrängnis loszuwerden.

»Was Ihr alter Pope über die Liebe sagt: sie sei schön, denn sie wisse, daß sie umsonst sei, und dennoch verzweifle sie nicht – woher wissen Sie das?«

Ich weiß es nicht.

Eine Deutung, die jemand versucht, ist kein Befehl, daß Sie sich dieser Deutung unterwerfen müssen. Ich werde mich auch der Ihren nicht unterwerfen, wenn Sie eine solche äußern, sondern wir müßten versuchen, ob ich Sie begreifen kann. Das bedeutet vorerst: ob ich hören kann, was Sie sagen möchten. Im weiteren müßte ich prüfen, wieweit Ihre andere Deutung, die aus Ihren anderen Erlebnissen hervorgeht, auch für mich gilt, wieweit sie meine bisherige Deutung erweitern, umstürzen, beschränken oder vertiefen kann. Das Ganze wäre dann ein Gespräch, und es wäre noch immer schwierig genug, daß wir zusammen über diese Dinge sprechen, die mindestens unseren ganzen Erdteil angehen und die wir an so verschiedenen Orten natürlicherweise sehr verschieden erlebt haben. Ihr Verhalten, das ein Gespräch so erschwert, kommt vielleicht daher, daß Sie bisher nur das Gehorchen und das Befehlen üben mußten, aber noch keine eigene Ansicht haben von den Dingen, die Sie aus nächster Nähe sahen; jedenfalls äußern Sie keine, sondern schreiben zum Schluß:

»Ich möchte übrigens betonen, daß alles, was ich Ihnen da schreibe, nichts mit einer politischen Ansicht zu tun hat!«

Wäre das eine Schande?

Es ist nicht unmöglich, daß wir uns in den nächsten Monaten einmal in München treffen. Jedenfalls will ich Ihre Adresse bewahren. Vielleicht kommt mehr zustande, wenn wir mündlich über diese Dinge sprechen; solange ich kein Gesicht sehe, spüre ich mehr und mehr, daß ich nicht mit Ihnen rede, sondern mit allen deutschen Briefen, die bisher gekommen sind, und es ist eine ordentliche Schachtel voll. Fast alle, obschon sie uns wertvoll sein müßten, haben eine Arroganz, die keine Antwort mehr zuläßt, und aus dem empfindlichen Unwillen, daß man abermals den Krieg verloren hat, wuchert es von hastigen Mißverständnissen, mehr als man jemals berichtigen kann, und in der ganzen Schachtel ist fast kein Gedanke, den man nicht als Schablone schon kennt. Ich sage mir dann selber: Das ist der Hunger, die Kälte, das Elend. Aber warum soll ich, und das fordern so viele, eben dieses Elend anbeten? Elend bringt Reife; hin und wieder mag das stimmen, und jedenfalls fehlt es unsrer Zeit nicht an Elend. Daß es auch Elend gibt ohne sittlichen Ertrag, Elend, das sich auch in Geist und Seele nicht lohnt, darin besteht wohl das eigentliche Elend, das hoffnungslos ist, tierisch und nichts als dies, und jede Verbeugung davor schiene mir schamlos, eine Weihung der Bomben, eine literarische Ehrfurcht, die immer noch auf eine Vergötzung der Kriege hinausläuft, also auf das Gegenteil unsrer Aufgabe, die darin besteht, daß wir das Elend bekämpfen: mit Brot, mit Milch, mit Wolle, mit Obst und nicht zuletzt eben damit, daß wir das Elend nicht als solches bewundern, daß wir vor dem Elend nicht in die Knie sinken und in Andacht verstummen, und zwar auch dann nicht, wenn die Leidende selber diesen Anspruch an uns stellt. Man kann sich, so schauerlich es ist, auch mit dem Elend brüsten; schon das spräche gegen den sittlichen Wert des Elendes. Daß es den Durchschnitt der Menschen verwandle und vertiefe und erhöhe, wenn sie auf Schutt und Asche leben, das bleibt eine Hoffnung, die wir aus der Belletristik kennen. Eine gefährliche Hoffnung, die vielleicht auch Sie bestimmt: Sie sind nicht mehr der Sieger, aber der Mann, der dabei war, und als solcher erhaben über alle andern, die nichts erlebt haben, weil sie nicht den Krieg erlebt haben; Ihr armes Volk ist nicht mehr das herrenhafteste, aber das Volk, das auf dieser Erde am meisten leidet, sofern wir die Juden und die Polen und die Griechen und alle anderen vergessen; es ist das Volk, das von Gott am meisten geprüft wird, woraus hervorgeht, daß Gott mit diesem Volk am meisten vorhat. Ihre besten Dichter finden Worte dafür: Völker der Welt, wir leiden für euch und eure Verschuldungen mit! Als ob es an den eignen Verschuldungen nicht genügte, als ob niemand gelitten hätte in den Jahren, da Ihre eignen Kameraden und Eltern und Bekannten, wie Sie sagen, solchen Berichten überhaupt keinen Glauben schenkten. Warum ist es niemals ein Volk unter Völkern? Das ist es, was ich vorhin mit der Arroganz meinte, und ich bitte Sie, daß Sie mich das böse Wort zurücknehmen lassen. Ich habe, solange ich in dieser warmen Dachstube sitze, weniger Anrecht als Sie, einem empfindlichen Unwillen nachzugehen. Immer wieder sehe ich Ihren handschriftlichen Nachsatz, der dringend um Antwort bittet. Was aber soll ich antworten können, solange Sie eine menschliche Gleichberechtigung, die uns selbstverständlich scheint, anzunehmen sich nicht begnügen?

Tagebuch 1946-1949
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005_split_000.html
part0005_split_001.html
part0005_split_002.html
part0005_split_003.html
part0005_split_004.html
part0005_split_005.html
part0005_split_006.html
part0005_split_007.html
part0005_split_008.html
part0005_split_009.html
part0005_split_010.html
part0005_split_011.html
part0005_split_012.html
part0005_split_013.html
part0005_split_014.html
part0005_split_015.html
part0005_split_016.html
part0005_split_017.html
part0005_split_018.html
part0005_split_019.html
part0005_split_020.html
part0005_split_021.html
part0005_split_022.html
part0005_split_023.html
part0005_split_024.html
part0005_split_025.html
part0005_split_026.html
part0005_split_027.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0006_split_003.html
part0006_split_004.html
part0006_split_005.html
part0006_split_006.html
part0006_split_007.html
part0006_split_008.html
part0006_split_009.html
part0006_split_010.html
part0006_split_011.html
part0006_split_012.html
part0006_split_013.html
part0006_split_014.html
part0006_split_015.html
part0006_split_016.html
part0006_split_017.html
part0006_split_018.html
part0006_split_019.html
part0006_split_020.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0007_split_014.html
part0007_split_015.html
part0007_split_016.html
part0007_split_017.html
part0007_split_018.html
part0007_split_019.html
part0007_split_020.html
part0007_split_021.html
part0007_split_022.html
part0007_split_023.html
part0007_split_024.html
part0007_split_025.html
part0007_split_026.html
part0007_split_027.html
part0007_split_028.html
part0007_split_029.html
part0007_split_030.html
part0007_split_031.html
part0007_split_032.html
part0007_split_033.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0008_split_003.html
part0008_split_004.html
part0008_split_005.html
part0008_split_006.html
part0008_split_007.html
part0008_split_008.html
part0008_split_009.html
part0008_split_010.html
part0008_split_011.html
part0008_split_012.html
part0008_split_013.html
part0008_split_014.html
part0008_split_015.html
part0008_split_016.html
part0008_split_017.html
part0008_split_018.html
part0008_split_019.html
part0008_split_020.html
part0008_split_021.html
part0008_split_022.html
part0008_split_023.html
part0008_split_024.html
part0008_split_025.html
part0008_split_026.html
part0008_split_027.html
part0008_split_028.html
part0008_split_029.html
part0008_split_030.html
part0008_split_031.html
part0008_split_032.html
part0008_split_033.html
part0008_split_034.html
part0008_split_035.html
part0008_split_036.html
part0008_split_037.html
part0008_split_038.html
part0008_split_039.html
part0008_split_040.html
part0008_split_041.html
part0008_split_042.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0009_split_005.html
part0009_split_006.html
part0009_split_007.html
part0009_split_008.html
part0009_split_009.html
part0009_split_010.html
part0009_split_011.html
part0009_split_012.html
part0009_split_013.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0010_split_002.html
part0010_split_003.html
part0010_split_004.html
part0010_split_005.html
part0010_split_006.html
part0010_split_007.html
part0010_split_008.html
part0010_split_009.html
part0010_split_010.html