Siena, Oktober 1947
Türme: – Backstein ohne alles, ohne besondere Gliederung, einfach ein schlanker Körper aus ziegelrotem Stoff, dann die scharfe Kante zwischen Licht und Schatten, ebenso scharf und dennoch anders sind die Kanten zwischen Körper und Raum, zwischen Turm und Luft, zwischen Stein und Himmel. Man redet immer gerne von Verhältnissen; dabei sind sie, näher betrachtet, nicht immer sehr glücklich, oft verkrüppelt, durch späteren Ausbau verschandelt, durch eine Aufstockung verstumpft wie gerade dieser Palazzo Pubblico. Aber es bleibt das Köstliche: das Körperliche überhaupt. Alle Körper haben hierzulande ein ungewohntes, fast bestürzendes Dasein. Was uns bewegt, was uns beglückt und überrascht und bannt, ist das Dasein, das uns in einem solchen Körper entgegensteht, das Dasein schlechthin, das Rätselhaft-Allbekannte, das Geheimnisvoll-Alltägliche: daß es Dinge gibt –.
Das Gefühl, selber zu sein.
Siena wird für diesmal unsere letzte Station sein. Autobusse stehen da: Arrezzo, Orvieto, Roma. Selbst in solchen Stunden, wo man sie schmerzlich empfindet, halte ich die berufliche Bindung für einen Segen. Zwang zur Beschränkung, Steigerung des Genusses.
Im Schatten sitzend lese ich die Geschichte des Domes, die Geschichte einer Vermessenheit. Siena will den größten aller Dome. Der bisher vorhandene Dom, lese ich, wäre gerade noch als Querschiff verwendet worden. Das neue riesenhafte Längsschiff, das dann nie vollendet worden ist, steht da mit einer Seitenwand, fünf Achsen mit Rundbogen, und mit einer fertigen Stirnwand; dann kommt die Pest, die Siena für etliche Jahrzehnte lähmt, aber nicht von seinem verstiegenen Vorhaben abzubringen vermag. Die Enkel bauen weiter. Das Unbesonnene, das dem Größenwahn eigen ist, zeigt sich, sobald man den Plan genauer prüft; die bereits vorhandene Mittelkuppel und das neue Hauptschiff hätte man nie vereinen können; hinzu kommt, daß die Fundamente sich zur Enkelzeit als ungenügend erweisen, die begonnenen Gewölbe beginnen sich zu spreizen: Man gibt es auf. Das Ergebnis ist wunderbar! Es bleibt ein Platz unter offenem Himmel, aber der Innenraum, der gewollte, ist bereits vorstellbar, man sieht: dieser Raum, der jetzt noch keiner ist, wäre dem Uferlosen entrissen worden, der Sonne entzogen. Der Raum als Dasein, wie zuvor der Körper des Turmes; nämlich der umgrenzte, der gefaßte und gestaltete Raum, der den unbegrenzten und unfaßbaren erst zur Ahnung bringt.
Form: wenn das Unvorstellbare, das Dasein, sich darzustellen vermag –?