Nachtrag zur Reise

Ein Eindruck, im einzelnen schwer zu belegen, eigentlich der stärkste Eindruck unsrer polnischen Reise, insbesondere während der Reden in Breslau entstanden, geht dahin, daß die Spannung zwischen Ost und West (um einmal diese vereinfachende Formel anzuwenden) eigentlich nicht eine Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Ordnungen ist, nicht in erster Linie. Gesprochen haben auch Deutsche, Engländer, Amerikaner, die die östliche Ordnung mit Begeisterung bejahen, ohne jeden Vorbehalt; die Zuhörerschaft, wohl in der Mehrzahl eine slawische, hat diese Reden mit Genugtuung, doch nicht mit jener Zustimmung aufgenommen, wie wenn ein Farbiger sprach, ein Neger aus Amerika, ein Afrikaner aus Madagaskar, ein junger Mann aus Indonesien. Namen von Genossen, in Reden genannt, blieben ohne Widerhall, wenn es deutsche, englische, amerikanische, sogar französische waren; dagegen stürmischer Beifall bei allen anderen Namen, bei slawischen, argentinischen, mexikanischen, spanischen. Ein Einverstandener aus Wien, der durch kluge Differenzierungen auffiel, erntete einen schütteren, völlig unsicheren Beifall, obschon seine Antworten vollauf in der Linie blieben. Ebenso bei Anna Seghers, die demütig erklärte, sie wäre gekommen, um zu lernen; die einzige herzliche Zustimmung erzielte sie mit der Nennung von Neruda. Nicht viel anders mit den Amerikanern, die auf die verbrecherischen Zustände in ihrem Lande schimpfen, wobei sie einen immer sicheren Beifall finden; ihr Bekenntnis zum vollkommenen Osten wird hingenommen, wie man den Schwur eines Überläufers hinnimmt, zufrieden, aber mit Vorsicht, denn er mag nun reden wie er will, er ist doch einer von den andern, wertvoll, indem er gegen die Seinen flucht, aber viel mehr wird ihm nicht abgenommen. In der Tat sind es die Farbigen gewesen, die, soweit ich im Saal war, am besten gesprochen haben; nicht nur das beste Französisch, das beste Englisch, wie mein kennerischer Begleiter fand, sondern am besten in dem Sinn, daß sie stets etwas Lebendig-Wirkliches sagten. Das Unrecht, das ihren Rassen widerfährt, das im Widerspruch steht zum großen Gerede von Freiheit und Menschenrechten, dieses Unrecht zu bezeugen ist eine unantastbar-anständige Aufgabe; sie waren vielleicht die einzigen, die nichts anderes wollen, als sie sagen, Menschen, keine politischen Schachspieler. Bei ihnen hatte man auch das Empfinden, der Flug über den Ozean habe sich gelohnt; ihre Sätze hat man nicht schon tausendfach in den Zeitungen gelesen. Zugleich taten sie uns leid; der frenetische Beifall, den jeder von ihnen erntete, galt er wirklich den Unterdrückten? Minutenlang stand die ganze Zuhörerschaft, begeistert über dieses schwere Zeugnis gegen die Amerikaner, die Engländer, überhaupt die Herren der Welt. Der Beifall der stehenden Zuhörerschaft dauerte an, als der Neger sich bereits gesetzt hatte, unweit vor uns; lächelnd, erregt, einsam, indem er die knappe Kunde, die er über den Ozean gebracht, in seine Brusttasche steckt; er weigert sich mit einem verlegenen Kopfschütteln, nochmals aufzustehen und sich für den Beifall zu bedanken. Ahnte er, daß es ihnen nicht um das gleiche geht? Ein Engländer gestattete sich, an die Unterjochten in anderen Kontinenten zu erinnern, an die Schändung der Menschenrechte, die in allen Lagern zu bekämpfen sei. Als ginge es um Menschenrechte! Man macht den Intellektuellen oft den Vorwurf, daß sie naiv sind; Gott sei Dank, mit den Naiven hat der Teufel es nicht am leichtesten. Um was aber geht es? Nicht in erster Linie um eine gesellschaftliche Umwälzung, sondern um eine Ablösung in der Weltherrschaft, um einen Aufstand der Völker, die durch die Geringschätzung, welche die herrschenden Völker ihnen gegenüber bewiesen haben, sich wie eine Familie empfinden. Auf gegen die Weißen! Die Weißen sind: die Angelsachsen, die Deutschen, die jene völkische Geringschätzung bis zur planmäßigen Ausrottung entwickelt haben, ferner die Franzosen, die man lange genug bewundert und als Weltmitte des Geistes beneidet hat, ferner die Skandinavier, soweit sie auf den Meeren eine wirtschaftliche Rolle spielen, weniger schon die Italiener. Aufstand der Völker; die revolutionäre Idee, die auf dem Banner steht, ist nicht die treibende Kraft, und auch unter einem anderen Banner würde die Bedrohung bestehen bleiben.

 

Die planmäßigen Ausrottungen, die schon in Polen, wo das Slawische sich am meisten mit dem Westen verschwistert hat, den Charakter einer regelrechten Industrie angenommen haben, um gegen Osten womöglich noch grausiger zu werden, erweisen sich nicht nur für Deutschland, sondern für Europa als eine katastrophale Hypothek.

Ferner der oft wiederkehrende Eindruck, daß die Völker, die den Blutverlust eines nächsten Krieges überleben, keinesfalls die Völker unseres europäischen Westens sind –

Tagebuch 1946-1949
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