29. 8. 1948

Morgen an der Weichsel, Sonntag, aber an den beiden großen Brücken wird dennoch gearbeitet, weithin hört man das Hallen der Niethämmer, die dumpfen Schläge der Rammen. Ein herrlicher Anblick: der grünliche Fluß, breit und gelassen zwischen Ufern aus roher Erde, dazu das Menning am neuen Eisenwerk, dahinter und darüber die Bläue eines herbstlichen Himmels – die Stadt, die ich nun auf dem andern Ufer sehe, ist eine Silhouette der irren Zerstörung, schlimmer als alles, was ich bisher kenne; nur ein Drittel davon stammt aus dem ersten Luftkrieg, der hier vor ziemlich genau neun Jahren entfesselt worden ist, und aus der Eroberung; erst nach dem Zusammenbruch des polnischen Aufstandes, einer Tragödie voll Mut und Unheil, ist die gänzliche Zerstörung erfolgt, Straße um Straße, planmäßig. Man begreift, daß die Polen sich gefragt haben, ob sie Warschau noch einmal beziehen sollten; sie haben es getan – nicht zuletzt gerade darum, weil mit Bewußtsein versucht worden ist, Warschau für immer auszutilgen.

 

Ankunft der Intellektuellen. Wieso haben die Intellektuellen, wenn sie scharenweise vorkommen, unweigerlich etwas Komisches?

 

Die Verwechslung mit dem Wagen hat sich herausgestellt: während der berühmte Franzose sich fahren läßt, gehen wir jetzt zu Fuß. Aber der Fahrer bleibt ein Prachtkerl, meldet sich, sooft sein berühmter Franzose zu einem Bankett oder zu einem Schläflein gegangen ist – François, mein Landsmann von der Presse, besucht Minister und Geistliche; der Fahrer und ich warten in einer Pinte, trinken Schnaps und essen Aal; er redet wenig, dennoch erfahren wir viel. Vor allem aber: das Unwirkliche, das man nach kollektiven Besichtigungen immer wie einen Schatten hinter sich fühlt, drängt mich in solche Pinten, drängt mich, unter Leuten zu stehen. Ich stecke mein Abzeichen in die Tasche. Nichts gegen Wiska, unsere staatliche Betreuerin! Wiska ist Ärztin, spricht polnisch, russisch, spanisch, englisch, französisch und in meinem Fall, wo der Fremdsprachenmangel glaubhaft ist, auch ein fehlerloses Deutsch, das sie von Herzen haßt. Sie unterscheidet sich von den polnischen Mädchen und Frauen, die meistens blond sind, oft hell wie Finninnen oder Schwedinnen; auffallend ist auch die gesund-durchsichtige Frische der Haut. Wiska ist rabenschwarz; ihre Augen sind nicht rund wie bei den meisten, sondern geschlitzt, blicken scharf und knapp über ihre starken Backenknochen. Tatarenblut. Ihr Vater war Rechtsanwalt; zu Hause hat jedes Kind ein eigenes Zimmer, das niemand ohne Einwilligung des Kindes betreten darf, Heiligtum eines persönlichen Eigenraumes. In diesem Heiligtum entwickelt sich ihr Denken, das sie später nötigt, nach Spanien zu gehen; ihr Bruder kämpft in der Internationalen Brigade, sie als Ärztin im Feld. Nach der Niederlage flieht sie nach Paris, wo sie jahrelang als Gynäkologin arbeitet, eine Tätigkeit, die sich in Polen erübrige; die Kinder kommen hier ohne große Umstände. Schließlich kommt sie nach Gurs, zwei Jahre im Lager. Ihr Bruder ist nach England entkommen, läßt sich als Fallschirmler in seiner Heimat absetzen, kämpft mit den polnischen Partisanen, wird nicht erwischt, aber die Deutschen haben seinen Namen und erschießen dafür ihre beiden Eltern, beide zwischen sechzig und siebzig. Ihr Bruder fällt im Kampf. Ihr eigner Mann, der bei den Alliierten kämpft, fällt ebenfalls. Wiska kehrt nach Warschau zurück, einzige Überlebende ihrer Familie, Mutter von zwei Kindern, Kommunistin mit Kopf und Herz. Zur Zeit arbeitet sie daran, die Invaliden wieder arbeitsfähig zu machen, damit sie sich selber als Menschen empfinden und nicht in Sanatorien verkommen; am Feierabend übersetzt sie wissenschaftliche Bücher, die der polnischen Sprache verlorengegangen sind. Im übrigen ist Wiska, wenn wir abends in eine Pinte gehen, eine leidenschaftliche Tänzerin; ihre Mazurka, getanzt mit einem Mexikaner, ist unvergeßlich. Ihre augenblickliche Aufgabe: uns zu zeigen, daß es einen Eisernen Vorhang nicht gibt. Ihre allmorgendliche Frage: Was möchten Sie sehen? Auf dem alten, einst so schönen Marktplatz, dessen historische Fassaden bis auf ein Zehntel verschwunden sind, erörtere ich eine grundsätzliche Frage: Warschau hat fast alles von seinem historischen Gesicht verloren, was mehr als nur ein stofflicher Verlust ist; anderseits fragt es sich, wieweit es einen Sinn hat, historische Attrappen aufzustellen. (Frankfurter Goethehaus.) Schon meine bloße Erörterung, die ich noch nicht einmal für meine eigene Person beantwortet habe, hat unsere Wiska gänzlich verstimmt. Was beschlossen ist, kann nur der Staatsfeind nochmals erörtern; Erwägungen sind nicht erwünscht und machen dich nur verdächtig; Kritik wäre ein vollendetes Attentat. Man kann das einigermaßen begreifen; so viel muß jetzt getan werden, daß sich die Leute, die dieses Viele auf den Schultern haben, nicht verweilen können bei Entscheiden, die schon getroffen sind. Nur: es erstirbt die ehrliche Lust zu fragen, die ehrliche Lust, seine Gedanken zu sagen, es wächst das Schweigen, lautlos webt sich der Vorhang. Was bleibt dir denn anderes: du lobst oder du schweigst. Und das Mißtrauen ist da. Wiska hat durchaus Humor; aber wenn andere ihn haben, findet sie auch den Humor sofort verdächtig. Schade. Es ist unfruchtbar.

Tagebuch 1946-1949
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