Dritte Szene
Am andern Morgen, als der Fremde erwacht, sieht er sich in der Hütte des Holzfällers, erinnert sich wenigstens, daß er schon am Abend in dieser Küche gesessen hat. Auch die lederne Mappe ist noch da, und das beruhigt ihn, obschon er nicht weiß, was eigentlich darin ist. Am Herd steht das Mädchen, das eben die Knüppel gebracht hat, und vielleicht ist er daran erwacht. Lange schaut er sie an, ihre starken und hohen Backenknochen, die irgendwie mongolisch wirken, ihr helles Haar, wie es Lettinnen haben, ihre wassergrauen Augen und die beiden Schneidezähne, die bei jedem noch so verhaltenen Lächeln auffallen, weil sie einen ziemlich großen Zwischenspalt offenlassen … Auch das Mädchen sieht ihn an, lange und wartend; dann sagt es:
»Nehmen Sie mich fort von hier.«
»Warum …«
»Sehen Sie es nicht?«
»Ja – schon …«
»Es ist traurig hier. Wenn Sie zehn Jahre in dieser Küche sitzen, es ist nicht anders. Es kommt nichts dazu. In einer halben Stunde wissen Sie alles.«
»Ich kenne das …«
Er fährt sich über die Stirne, als möchte er weiter erwachen, und plötzlich von der Angst befallen, daß man ihn fragen könnte, stellt er selber die Frage:
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Inge.«
»Ein schöner Name …«
»Warum blicken Sie mich so an?«
Er wollte das nicht; er löst seinen Blick von ihrem jungen Gesicht und schaut anderswohin, vielleicht auf den Herd, wo das Feuer brennt, oder auf das kleine Fenster oder draußen auf den Schnee, der immer noch fällt; fast unwillkürlich sagt er nach einer Weile:
»Wenn ich nur eines wüßte: –«
»Was denn?«
»Wie ich selber heiße …«
Er lächelt sofort:
»Manchmal schon, früher, hatte ich dieses Gefühl, es ist eigentlich das einzige, woran ich mich erinnere, so ein blödes Gefühl, daß man irgendwo erwartet werde, anderswo, und daß man irgend etwas ganz Bestimmtes machen müßte!«
»Was denn?«
»Keine Ahnung …«
Inge lacht.
»Früher wußte ich es aber«, sagt er, ohne daß er das verlorene Wissen wirklich zurückwünscht: »Oder ich meinte wenigstens, daß ich es wüßte, nur stimmte es nie, verstehen Sie, ich konnte machen, was ich wollte, was immer meine Pflicht war, das blöde Gefühl wurde ich nicht los … eigentlich nie –.«
Das Kind bläst ins Feuer.
»Erzählen Sie weiter.«
Sie hockt vor dem Herd, bis es wieder lodert, dann wirft sie neue Knüppel hinein, und ihr Haar hat einen Rand von roter Glut.
»Ich hatte so Angst«, sagt der Fremde: »als ich gestern den Holzfäller erblickte. Nicht wegen der Axt, wissen Sie. Eigentlich vor jedem Menschen, der mir begegnen würde – am wenigsten vor Ihnen.«
»Mein Vater ist nicht so bös, wie er redet.«
»Sie sind ein Mensch, der nicht fragt, das ist so wunderbar! Denken Sie nicht, ich sei verliebt in Sie, weil Sie sehr jung sind, Inge, und sehr schön …«
»Das bin ich nicht.«
»Und wie Sie es sind!« sagt er: »Ich habe eigentlich nicht schlafen wollen, damit ich Sie nicht vergesse, wissen Sie, es ist gräßlich, wenn man alles vergißt: ich habe einen Beruf, aber plötzlich stehe ich am Waldrand, meine Ledermappe in der Hand, und es ist eine Gegend, die ich noch nie erblickt habe, nicht einmal auf Bildern, und man zittert vor jedem Menschen, weil ich nicht weiß, wie ich heiße. Verstehen Sie das? Da, hinter mir, plötzlich ist es weg – ein Wald voll Schnee, nichts weiter, Stämme und nichts als Stämme, dazu die hallenden Schläge einer Axt …«
Am Fenster:
»Und zu denken, daß es ein weiteres Erwachen nicht gibt, nie wieder, nie wieder!«
Sie blickt auf seinen Hinterkopf:
»Ich weiß nicht, was Ihnen fehlt.«
Später, indem er eine Zigarette in den Mund steckt, unwillkürlich wie man das macht, wendet er sich mit einem plötzlichen Lächeln:
»Der Teller aus dem Hühnerhof?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie!« sagt er zufrieden, fast vergnüglich, und zündet seine Zigarette an: »Ich bin froh um alles, was mir wieder einfällt …«
Dann raucht er, und Inge blickt wie ein Kind, das selber noch nie geraucht hat, blickt mit glücklicher Verwunderung auf seine Gebärden, die einen Herrn verraten, einen Herrn von Welt; die weiße Zigarette, scheint es, gibt ihm eine gewisse Zuversicht zurück, eine selbstverständlich überlegene Art; er lächelt über ihre strahlende Verwunderung, womit sie an ihm hinaufblickt, jung und ernst.
»Inge heißest du?«
»Ja –«
»Woher kennen wir uns eigentlich?«
»Alle Menschen kennen einander …«
»Meinst du?«
»Wenn sie sich selber kennen.«
»Vielleicht, ja –.«
Dann schlägt er die erste Asche ab, wozu er, als gäbe es einen Teppich auf dem Boden, ein wenig gegen den Herd geht, so daß das Mädchen für einen kurzen Augenblick allein steht und ihm nachschaut.
»Im Ernst«, sagt er schon wieder mit einem Schatten von Kümmernis: »oft kommt es einem wirklich vor – wie soll ich sagen … im Grunde sind es drei oder fünf Menschen, denen wir ein Leben lang begegnen, immer die gleichen, und wenn man um die Erde liefe, da ist immer ein Mädchen, ein Gesicht wie das deine, jung, ernst, schüchtern und verwegen zugleich, wartend, gläubig, fordernd, und da ist immer ein Gendarm, der wissen muß, wie man heißt, wohin man geht, und immer, wenn man gehen will und nichts als gehen, gibt es Stäbe …«
»Was gibt es?«
»Stäbe und Schranken, Zöllner, Gitter, Stäbe; wie die Stämme im Wald, die man fällen möchte, wenn man eine Axt hätte –«
Er lacht plötzlich; wirft die Zigarette, bevor sie zu Ende geraucht ist, auf den Boden der Küche, dreht seinen Fuß auf dem Stummelchen herum, nachdem es lange schon erloschen ist, und abermals wechselt sein Ton, so daß Inge nicht weiß, ob er sie zum besten hält wie ein Onkel, der mit einem Kind plaudert, oder ob er selber glaubt, was er erzählt.
»Einmal war ich Kapitän auf einem Schiff, es hatte drei Maste, der Bug hatte einen Schnabel, den ich heute noch zeichnen könnte, und wir fuhren nach allen Küsten dieser Erde, kreuz und quer, wir lebten von Fischen und Früchten, die wir an den Küsten holten, wir lebten von der Jagd, und wenn wir das Nötige hatten, segelten wir weiter … ja – und dann!«
»Und dann?«
»Dann, plötzlich, war es ein Spielzeug: so groß –«
Er zeigt es.
»Man konnte es in die Hand nehmen, mein Schiff, wo ich Kapitän darauf war; man konnte es auf einen Tisch oder eine Truhe stellen.«
»Gräßlich!«
»Ja«, lächelt er hämisch: »aber so ging es mir immer …«
Dann kommt der Vater herein; er sagt nicht guten Morgen, sondern schaut nur auf das Kind mit stummer Frage, ob die Suppe bereit sei, halb schon mit Vorwurf, und erst wie er den Fremden bemerkt, sagt er:
»Da wäre die Axt, wenn der Herr noch Lust haben – bei diesem Wetter … Holz hat es genug, wie ich gestern schon sagte –.«
»Danke.«
»Ich heiße Jens.«
»Freut mich.«
»Und Sie …?«
Der Fremde steht mit der Axt, die er eben in die Hand bekommen hat, betroffen von der Frage, ebenso betroffen von dem Mädchen, das für ihn antwortet und sagt:
»Graf von Öderland.«
»Graf –«
»Warum starren Sie mich so an?« sagt der Fremde, »Sie sagten doch gestern, Sie fürchten sich nie –.«
»Graf von Öderland??«
Der Vater weicht langsam von dem Fremden zurück, der da steht mit der Axt in der Hand, so, daß gewissermaßen ein Raum entsteht um diese Axt, die auch ihrem Träger, der sie kaum anzusehen wagt, mit jedem Atemzug gegenwärtiger wird –
Inge spricht über den Herd:
»Eines Morgens aber,
wenn ich die Knüppel bringe,
wenn ich die Hühner füttern soll,
wie immer und immer,
wenn alles von vorne beginnt:
da steht er im Zimmer,
plötzlich,
der Graf von Öderland!
Da steht er und hat eine Axt in der Hand,
und wenn mein Vater mich schimpft
wie immer und immer,
dann spaltet er ihn wie ein Scheit:
wir gehen hinaus in die Welt,
und jedermann fällt,
Graf Öderland kommt mit der Axt in der Hand.«
Vielleicht singt sie es sogar; der Vater aber, der auf die Knie bricht, schreit plötzlich wie ein Tier, beide Fäuste vor dem Gesicht –.